Von Ulrike Eifler
„Bürgerrechte, Menschenrechte, Sozialstaat: Wenn einer dieser drei Pfeiler ins Wanken gerät, stürzen auch die anderen ein“, schreibt der italienische Schriftsteller Roberto Saviano. Es ist ein Satz, der sich wie eine Zeitdiagnose liest. Er legt den Finger auf den Sozialstaat, der unter den neoliberalen Spardiktaten brüchig geworden ist. Er prangert die Menschenrechte an, die gemeinsam mit von Grenzschutzpatroullien zerschossenen Schlauchbooten im Mittelmeer untergegangen sind. Und er mahnt den leichtfertigen Abbau der Bürgerrechte unter dem Eindruck der Pandemie.
Aktuellster Ausdruck dieser wankenden Architektur sind die Corona-Proteste, die am letzten Wochenende mehr als 20.000 Teilnehmer angezogen hatten. Sie zeigen uns, wie weit fortgeschritten die Bereitschaft zur Allianz zwischen krisengeschüttelten Mittelschichten und rechten Gruppierungen inzwischen ist. „Die Ideologie des Faschismus“, schreibt der Philosoph Umberto Eco, ist „eine Collage aus verschiedenen politischen Ideen, ein Bienenkorb voller Widersprüche.“ Ganz so also wie bei den Corona-Protesten, auf denen sich – bisher harmlose – Impfgegner und politisch Entwurzelte neben Reichsbürgern, Preppern, Pegida-Anhängern und Neofaschisten wiederfinden.
Gemeinsam wehren sich die Protestierenden gegen die Maskenpflicht und die Einschränkung der Grundrechte, gegen die Belastungen während des Lockdowns und die wachsende Existenzangst. Die extreme Rechte bemüht sich darum, der gesellschaftlichen Frustration eine Richtung zu geben. 20.000 Demonstranten sind ein besorgniserregender Seismograph für die Tiefe, die die aktuelle gesellschaftliche Krisensituation inzwischen erreicht hat. Eine Krisensituation, in der das Misstrauen gegenüber wirtschaftlichen und politischen Eliten größer ist als das Bedürfnis, sich nach rechts abzugrenzen. DIE LINKE muss sich fragen, warum sie es nicht schafft, sich in einer Situation, in der ihre Kernthemen nach oben gespült werden, ausreichend Gehör zu verschaffen.
Festgestellt werden muss: Die Proteste sind mehr als der bloße Aufruf zur Rücksichtslosigkeit. Sie sind Ausdruck davon, dass es der extremen Rechten zunehmend gelingt, an ein tiefsitzendes Gefühl der Ungerechtigkeit und des Scheiterns anzuknüpfen. Ein Gefühl, das sich im Lockdown zuspitzte, als unter den Appellen zur gegenseitigen Rücksichtnahme viele Menschen die Erfahrung rücksichtsloser Individualisierung machten und der einzelne auf sich selbst zurückgeworfen wurde. Eltern wurden mit der Betreuung ihrer Kinder allein gelassen, während Spielplätze, Schwimmbäder, Sportvereine und Kinos dicht machen mussten. Schüler zu autodidaktischem Lernen gezwungen, obwohl die Schule sie nie darauf vorbereitet hatte. Tafeln geschlossen, Gottesdienste abgesagt.
Inzwischen sind die Maßnahmen weitestgehend aufgehoben. Doch noch immer sind es nicht die Sozialmediziner, die den Takt für politisches Handeln vorgeben, sondern die Virologen. Und sie reden nicht über die Erfahrungen der Menschen im Lockdown. Die Folgen der sozialen Isolation in Altenheimen oder auf Krebsstationen, über die Opfer der häuslichen Gewalt, die Nöte der Arbeitslosen und die Existenzängste derjenigen, die noch Arbeit haben – sondern über eine zweite Welle und neue Maßnahmen. Und so bleibt der Eindruck eines neoliberalen „Weiter so’s“. Denn da wo unter dem Druck der Personalbemessung Pflegekräfte überlastet bleiben, wo Lehrer fehlen, um Klassen zu teilen oder Busse und Bahnen zu überfüllt sind, um auf Abstand zu gehen – da werden Maskenpflicht, Distanzgebote und die Einschränkung von Grundrechten zu Elementen eines autoritären gesellschaftlichen Umbaus.
Der linksliberale Journalist Jakob Augstein schrieb kürzlich, dass wir auf dem Weg in das Zeitalter der totalen Medizin seien und fragte, ob Maßnahmen für Keimfreiheit und Seuchenresistenz eine Gesellschaft lebenswert machten. Augstein ging es dabei keineswegs darum, die Gefährlichkeit des Virus zu leugnen. Vielmehr versuchte er darauf hinzuweisen, wie sehr sich die Gesellschaft unter dem Eindruck des Virus zum Negativen verändert und dass es nicht etwa das Virus, sondern die politischen Maßnahmen sind, die uns in eine gesellschaftliche Katastrophe manövrieren. Die Vision einer freien und solidarischen Gesellschaft war immer das Markenzeichen der Linken. Deshalb braucht das Handeln der Bundesregierung Opposition von links, auch damit sich die extreme Rechte nicht weiter als Motor für gesellschaftliche Veränderung tarnen kann. Dabei muss sich die Kritik an den Verhältnissen mit der Vision von einer lebenswerten Gesellschaft, in der soziale Sicherheiten, Menschenrechte und Bürgerrechte gleichsam eine Rolle spielen, verbinden. Die Linke muss einen Kampf um Kräfteverhältnisse führen und um die Frage, wie wir den Weg aus einer Gesellschaft herausfinden, die Schwächere bedenkenlos zurücklässt – und wie wir hineinfinden in eine Gesellschaft echter sozialer Gerechtigkeit und gegenseitiger Solidarität.
Ulrike Eifler ist Bundessprecherin der BAG Betrieb & Gewerkschaft