Der Europäischen Gerichtshof hält eine schlechtere Bezahlung in der Leiharbeit nur bei tariflichem Nachteilsausgleich für zulässig. Jetzt gibt es ein Tarifergebnis. Stefan Nagel hat sich beides angeschaut und fragt sich, welche Kompensation bei einem Niedriglohn angemessen sein soll, wo Beschäftigte in der Leiharbeit doch auch bei den Arbeitsbedingungen, mit denen der Lohnunterschied ausgeglichen werden soll, diskriminiert werden? Der Kampf um Equal Pay und Equal Treatment muss konsequenter geführt werden, findet der langjährige Leiharbeiter und weist darauf hin, dass es keine gesetzliche Pflicht gibt, Verhandlungsangeboten der Unternehmensseite zuzustimmen.
Im Sommer letzten Jahres wurden in der Leiharbeitsbranche die Entgeltgruppen (EG) 1 bis 2b verhandelt und mit 24,1 Prozent mehr Lohn über die Dauer von 1,5 Jahren ein beachtlicher tabellenwirksamer Abschluss in der EG1 erzielt. Allerdings gilt es zu erwähnen, dass dieser prozentual hohe Abschluss auf den deutlich angehobenen Mindestlohn zurückzuführen ist. Der Mindestlohn ist das Ergebnis linker Kämpfe, mit denen die Sozialdemokratie unter Druck gesetzt wurde. Dass sich schlussendlich die SPD öffentlichkeitswirksam dafür feiern lässt, spiegelt die Tragik der Linken wieder, die sich während ihrer jahrelangen Kämpfe verlachen und beschimpfen lassen mussten, während andere sich die Lorbeeren einheimsten. Ob es bei der Leiharbeit auch so laufen wird? Im Moment bekommt die Partei DIE LINKE Spott und Häme für ihre Forderung nach einem Verbot der Leiharbeit. Wird sich die SPD irgendwann dafür feiern lassen, dass sie dieses, wie sie es selbst bezeichnet „atypische“, also für viele Beschäftige nachteilige Beschäftigungsmodell, abschafft? Wenn wir Linke den nötigen Druck dazu aufbauen, ist das nicht ausgeschlossen.
Die EU-Leiharbeitsrichtlinie
Nun standen die Verhandlungen für die Entgeltgruppen 3 bis 9 an. Die ersten beiden Verhandlungsrunden sind gescheitert, weil die Leitarbeitsunternehmen absolut nichts angeboten haben. Wollten die Arbeitgeber das EuGH-Urteil abwarten, welches einen Tag nach der 2. Verhandlungsrunde erschien?
Dieses Urteil zur Rechtssache C-311/21 vom 15.12.2022 bestätigte die im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) unter §8 Abs. 2 festgehaltene Öffnungsklausel wonach es zulässig ist, zulasten von Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmern in Tarifverträgen vom Grundsatz der Gleichbehandlung in Bezug auf das Arbeitsentgelt (Equal Pay) abzuweichen. Denn auch in der EU-Leiharbeitsrichtlinie ist es den Mitgliedsstaaten laut Art. 5 Abs. 3 gestattet, den Sozialpartnern die Möglichkeit einzuräumen, Tarifverträge abzuschließen, die unter der Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitsbeschäftigten beim Arbeitsentgelt und den sonstigen Beschäftigungsbedingungen vom Grundsatz der Gleichbehandlung abweichen. Eine Definition des “Gesamtschutzes“ gibt es in der Richtlinie allerdings nicht.
Nun besteht ganz offensichtlich ein Widerspruch zu Art. 5 Abs. 1 der EU-Leiharbeitsrichtlinie, die besagt, dass die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen von Leiharbeitnehmenden während der Dauer ihrer Überlassung an ein entleihendes Unternehmen mindestens denjenigen entsprechen müssen, die für sie gelten würden, wenn sie von dem entleihenden Unternehmen unmittelbar für den gleichen Arbeitsplatz fest eingestellt worden wären.
Um diesen Widerspruch zu beseitigen hätte es nun einer Definition des Gesamtschutzes bedurft. So legte der EuGH in seinem Urteil gleichzeitig fest, dass eine Benachteiligung bei der Vergütung nur zulässig ist, wenn es im Tarifvertrag dafür angemessene Vorteile in Bezug auf die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen des Leiharbeitnehmenden gebe. Diese Vorteile müssten Tarifverträge als Ausgleich gewähren, damit insgesamt der Gesamtschutz der Leiharbeitnehmenden sichergestellt werde – dazu zählen neben dem Arbeitsentgelt die Dauer der Arbeitszeit, Überstunden, Pausen, Ruhezeiten, Nachtarbeit, Urlaub und arbeitsfreie Tage.
Leiharbeit: Sackgasse und Lohndumping
Wodurch entsteht der Unterschied im Entgelt zwischen Leihbeschäftigten und Stammbelegschaft eigentlich? Im Wesentlichen durch geringere tarifliche Sonderzahlungen, tarifliche Sonderzahlungen die es in der Leiharbeitsbranche nicht gibt oder durch Schichtzulagen, die Leiharbeitsbeschäftigten erst ab einer späteren Uhrzeit als den Stammbeschäftigten gezahlt werden. Betriebliche Sonderzahlungen wie Gewinnbeteiligungen, Zuschüsse zur betrieblichen Altersvorsorge oder Vergünstigungen auf Vorzugsaktien oder Produkte des Unternehmens erhalten Leiharbeitnehmende in der Regel nicht. Da betriebliche Sonderzahlungen nicht in Tarifverträgen geregelt werden, spielen sie hier keine Rolle.
Aber wie kann man bis zu einem Drittel weniger Entgelt in der Leiharbeitsbranche, im Vergleich zu den Stammbelegschaften, mit wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen angemessen ausgleichen? Leiharbeit bedeutet oft Niedriglohn. Weniger Einkommen mit etwas mehr Freizeit ausgleichen zu wollen, ist ein elitärer Gedanke. Angesichts steigender Wohn- und Lebenshaltungskosten wären viele Leiharbeitsbeschäftigte gezwungen, sich einen zweiten oder gar dritten Job suchen zu müssen.
Dazu kommt, dass Beschäftigte in der Leiharbeit nicht nur beim Lohn, sondern auch bei einigen der Arbeitsbedingungen, mit denen der Lohnunterschied ausgeglichen werden soll, diskriminiert werden. Wie viele zusätzliche Urlaubstage würden denn reichen, um nicht nur den Urlaubsanspruch der Stammbelegschaften zu bekommen, sondern auch, um den entgangenen Lohn zusätzlich zu kompensieren? Denn leider hat auch der EuGH die Chance verpasst oder verpassen wollen, wenigstens die Abweichung bei der Bezahlung höchstrichterlich zu begrenzen.
Gesamtschutz der Beschäftigten in der Leiharbeit
Interessanterweise müssen die EU-Mitgliedsstaaten, einschließlich ihrer Gerichte, dafür sorgen, dass Tarifverträge, die Ungleichbehandlungen in Bezug auf wesentliche Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zulassen, insbesondere den Gesamtschutz von Leiharbeitsbeschäftigten sicherstellen. Diese Tarifverträge müssen daher einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle unterliegen, damit die Gerichte überprüfen können, ob die Tarifvertragsparteien ihrer Pflicht zur Achtung des Gesamtschutzes von Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmern nachkommen. Aber auch den nationalen Gerichten wird es schwerfallen zu entscheiden, was ein angemessener Ausgleich zu der geringeren Bezahlung sein soll, wo doch die Bezahlung selbst das wesentliche Kriterium für alle Beschäftigten ist. Je schlechter man verdient, desto mehr dürfte diese Priorisierung gelten.
Es bleibt die vom EuGH nun abgesegnete Möglichkeit der geringeren Bezahlung bei gleicher Arbeit. Daraus folgt das Fazit, dass der EuGH nun zwar mit Nachdruck einen Ausgleich bei fehlendem Equal Pay in Tarifverträgen fordert, dieser aber abgelehnt werden kann, da er weniger Entlohnung tatsächlich niemals ausgleichen kann. Dies gilt natürlich für die Kapital- und Arbeiterseite. Hier sind die Gewerkschaften gefragt, die sich natürlich auch gegen ein Gesetz wie das AÜG wenden können. In Anbetracht der geltenden Gesetzeslage liegt es sowieso nahe, vom Gesetzgeber ernstzunehmende Möglichkeiten für einen Ausgleich zu fordern. Ein interessanter Nebenaspekt ist hier die aktuelle Arbeitnehmerüberlassung in der Krankenpflege, wo immer mehr Beschäftigte die Leiharbeit einer Festanstellung vorziehen. Zum einen aus finanziellen Gründen, zum anderen haben sie so die Möglichkeit, ihre Dienstpläne flexibler und individueller zu gestalten.
Gleicher Lohn für gleiche Arbeit?
So kann die einzige Bedingung für den Erhalt der Leiharbeit nur sein, Beschäftigte in der Leiharbeit gegenüber der Stammbelegschaft besser zu stellen. Und das über die gesamte Dauer der Leihe hinweg. Aber auch dann könnten die Beschäftigten wohl nicht frei darüber entscheiden, ob sie lieber die Flexibilität der Leiharbeit oder die Sicherheit der Festanstellung für sich in Anspruch nehmen wollen. Denn besonders in den Jobs mit geringer Qualifikationsanforderung wird die Flexibilität eher von den Unternehmen geschätzt, während sie von den Beschäftigten als Belastung empfunden wird.
Daher kommt auch das Phänomen, dass viele Leihbeschäftigte aus den unteren Entgeltgruppen eher einen Wegfall der Begrenzung der Höchstüberlassungsdauer befürworten. Genauso wie die Unternehmerseite. Und dass, obwohl genau diese Begrenzung der größte Hebel für die Betriebsräte ist, Leihbeschäftigte in eine Festanstellung zu bekommen – gerade in Zeiten des Arbeitskräftemangels. Diese Beschäftigten wollen Sicherheit und Kontinuität, die ihnen durch die Entleihbetriebe, die sie bis zu vier Jahre am Stück beschäftigen, vorgegaukelt wird. Tatsächlich aber sind sie bei der nächsten Krise weg. Zwar ist man nicht direkt arbeitslos, aber hat die Krise ein branchenweites oder globales Ausmaß und neue Entleihmöglichkeiten sind keine vorhanden, ist man schnell im Arbeitslosengeld.
Innerhalb der Gewerkschaftsbewegung muss Druck von unten aufgebaut werden, wenn der Kampf um Equal Pay und Equal Treatment nicht konsequent geführt oder sogar konterkariert wird. Denn es besteht bekanntlich keine gesetzliche Pflicht, Verhandlungsangeboten der Unternehmerseite zuzustimmen. Bestenfalls trägt der EuGH mit seiner fragwürdigen Entscheidung also dazu bei, Leiharbeit noch mehr als bisher in Frage zu stellen. Denn eines sollte deutlich geworden sein: Selbst dem EuGH gelang keine Entscheidung, die wirklich überzeugt. Am wenigsten die von Leiharbeit existenziell nachteilig Betroffenen. Aber um genau diese Beschäftigten geht es, das sollten auch die Gewerkschaften verstehen. In Anbetracht der aktuellen wirtschaftlichen Entwicklungen, ist die Forderung “gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ wahrlich nichts, was man ehrlichen Gewissens noch ablehnen könnte.
Tarifabschluss 2023
Leider blieb der Tarifabschluss für die Entgeltgruppen 3 bis 9 in der Leiharbeitsbranche, zumindest vorerst, dahinter zurück. Am 12.01.2023 verständigte man sich auf eine Lohnerhöhung in zwei Stufen um bis zu 13,07 Prozent. Der Tarifvertrag hat eine Laufzeit bis zum 31.03.2024. Zwar ist über Branchenzuschlagstarifverträge der gleiche Stundenlohn wie bei den Stammbelegschaften gesichert, nur ist die Lücke bei den tariflichen Sonderzahlungen aber leider weiter aufgegangen. Denn eine Inflationsausgleichsprämie wie in der Metall- und Elektroindustrie wurde zumindest vorerst nicht erreicht. Hier ist der DGB, nach eigener Aussage, “an einer massiven Verweigerungshaltung der Unternehmerseite gescheitert.“ Man kann sich wie beim Abschluss in der Metall- und Elektroindustrie auch hier fragen, was mit ganztägigen Streiks noch drin gewesen wäre? Wo ist die Kampfkraft und auch die Kampfeslust der Gewerkschaften geblieben? Immerhin haben sich die Gewerkschaften die Hintertür über die Branchenzuschlagstarifverträge einen Spalt weit aufgemacht, indem sie ein Sonderkündigungsrecht für besagte Verträge vereinbart haben. So können und müssen sie hier nochmal einen Anlauf für eine Annäherung zu den tariflichen Sonderzahlungen der Stammbelegschaften nehmen.
Das Verhandlungsergebnis kann von beiden Parteien noch bis zum 22.02.2023 aufgekündigt werden und wird bis dahin mit den Mitgliedern und den Tarifkommissionen der Gewerkschaften diskutiert. Eine gute Gelegenheit für unzufriedene Gewerkschaftsmitglieder und Beschäftigte in der Leiharbeit, Kritik zu äußern und auf eine Kündigung des Verhandlungsergebnis zu pochen. Da am 31.01.2023 die Friedenspflicht für den bisherigen Tarifvertrag endet, besteht die Möglichkeit, über eine Urabstimmung in den Streik zu gehen.
Dies ist eine große Chance für die Leihbeschäftigten in allen Branchen, öffentlich sichtbar zu werden und endlich eine öffentliche Debatte über Gesetze und Richtlinien, die zum Wohle der Unternehmerseite, von deren Handlangern in den Parlamenten entwertet werden und darüber wie es sich anfühlt, für die gleiche Arbeit weniger Geld und weniger Sicherheit zu bekommen, in Gang zu setzen. Ein Streik würde auch die Frage, warum so viele Fachkräfte in der Pflege freiwillig in die Leiharbeit wechseln, in die Öffentlichkeit bringen und Druck erzeugen, damit Pflegerinnen und Pflegern endlich die Möglichkeit haben, ihren Job nach sozialen und nicht nach profitorientierten Aspekten ausführen zu können. So geschieht es gerade in England. Während ihres Streiks bekommen die Pflegekräfte den Rückhalt der Bevölkerung. Denn auch in England wissen alle um die Arbeitsbedingungen in der Pflege und darüber, wie diese kaputtgespart wurde.
Reform der Arbeitnehmerüberlassung
Ein solcher Streik wäre elementar, um Druck auf die Politik auszuüben. Denn im Deutschen Bundestag steht eine politische Neubewertung des AÜG an. Diese findet auf der Grundlage der Entwicklungen in der Leiharbeit, nach der Änderung des AÜG von 2017 und den aktuellen EuGH-Urteilen statt. Die Unternehmerseite hat sich bereits mit der Forderung nach einem Wegfall der Begrenzung der Überlassungshöchstdauer in Stellung gebracht. Eine entsprechende Petition wurde bereits vom Petitionsausschuss des Bundestags zur Debatte zugelassen. Wird diese Petition angenommen, würde es für Leiharbeitende wieder wesentlich schwieriger werden und länger dauern, den Sprung in die Festanstellung zu schaffen. Betriebsräte hätten vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels, das Druckmittel der begrenzten Überlassungshöchstdauer nicht mehr zur Verfügung und somit weniger Möglichkeiten, ihre Arbeitgeber in den Betrieben unter Druck zu setzen, um die Leiharbeitsbeschäftigten zu übernehmen.
Da die aktuell ca. 750.000 Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter in vielen Branchen beschäftigt und dort auch elementar für den reibungslosen Betrieb sind, ergibt sich hier ein riesiges Druckmittel für die Beschäftigten. Eine große Chance mit den Gewerkschaften zusammen dafür zu sorgen, dass die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen in der Leiharbeit, während der gesamten Dauer der Überlassung, mindestens denen der Stammbeschäftigten entsprechen. So wie es Art. 5 Abs.1 der EU-Leiharbeitsrichtlinie besagt. Diese Chance sollte nicht vergeben werden.
Stefan Nagel war 12 Jahre Leiharbeiter und ist nun festangestellt bei einem Automobilhersteller. Er ist aktiv in der AG Betrieb & Gewerkschaft in der Partei DIE LINKE.
Quellen:
»Dürfen nun Leiharbeiter*innen wirklich schlechter gestellt werden?« – Kommentar von Armin Kammrad vom 21.12.2022 zur EuGH-Entscheidung vom 15. Dezember 2022 zu Rechtssache C-311/21; LabourNet.de
»EuGH-Urteil zur Leiharbeit: Schlechtere Bezahlung nur bei tariflichem Nachteilsausgleich zulässig« – Haufe Online Redaktion
»Durchbruch in der dritten Verhandlung in der Leiharbeit – Ab April deutlich mehr Geld für Beschäftigte« – Tarifinfo Leiharbeit, Deutscher Gewerkschaftsbund