Warum Gewerkschaften wichtig und für uns Linke zentral sind, wir gewerkschaftliche Kämpfe unterstützen sollten und welche Rolle der Partei dabei zukommt, darüber reden wir mit unserem Bundesgeschäftsführer Jörg Schindler. Im Interview erklärt er auch, warum er als Kritiker des Bedingungslosen Grundeinkommens trotzdem für den Mitgliederentscheid ist und was er sich von diesem erhofft. Das Gespräch führte Ulrike Eifler, Bundessprecherin der AG Betrieb & Gewerkschaft.
BAG Betrieb & Gewerkschaft: Lieber Jörg, du bist selbst Gewerkschaftsmitglied. Warum sollten sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisieren?
Jörg Schindler: Ich bin aus voller Überzeugung seit vielen Jahren ver.di-Mitglied. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben in einer kapitalistischen Gesellschaft nur die Kraft der Gegenwehr der Vielen. Sie können nur etwas durchsetzen, wenn sie das gemeinsam tun. Nicht nur im Betriebs-Alltag ist jeden Tag erlebbar, dass diese Gegenwehr kollektiv erfolgen muss. Ob es um Arbeitszeiten, Lohn, Urlaub oder auch um Mitbestimmung geht – wenn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erst einmal checken, dass sie gemeinsam Dinge durchsetzen können, ist das ein immenser Gewinn für sie – im Geldbeutel, aber auch, wenn es um Standards am Arbeitsplatz geht. Ich bin Fachanwalt für Arbeitsrecht und immer wieder erstaunt, wie oft Beschäftigte, die meine anwaltliche Hilfe aufsuchen, nicht Mitglied der Gewerkschaft sind. Denen rate ich dann immer: Wir versuchen jetzt, für Sie etwas durchzusetzen. Aber: Echte Hilfe, gemeinsame Solidarität und Gegenwehr auf Dauer gibt es nur als Gewerkschaftsmitglied!
Denn der Arbeitsplatz ist ein ständiger Ort von Auseinandersetzung und Konflikt zwischen Beschäftigten und Unternehmensleitung.
Genau. Das gilt auch vor Gericht. Jeder Arbeitgeberanwalt hat das absolut verinnerlicht, und auch wir Arbeitsrechtsanwälte, die auf Seiten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unseren Job machen, wissen das. Selbst ein tendenziell konservatives Gericht wie das Bundesarbeitsgericht hat einmal das Streikrecht bildlich so begründet, dass sich anderenfalls – ohne Gewerkschaften – die Seite der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nur aufs „kollektive Betteln“ verlegen könne. Es also den Streik als wirtschaftliche Druckmöglichkeiten zur gezielten Schädigung des Unternehmens brauche.
Wofür stehen Gewerkschaften und warum sind sie notwendig?
Gewerkschaften sind keine Interessenvertretungen wie andere, sie sind besonders: Sie sind als Interessenvertretung an einer zentralen Konfliktlinie der Gesellschaft aktiv – der Arbeitswelt. Hierüber strukturiert sich maßgeblich der Charakter unserer Gesellschaft. Sie sind also Organisationen, die in sich den Antagonismus unserer Gesellschaft tragen. Und aus diesem Grund sind sie für uns Linke ein zentraler Ort. Das heißt nicht, dass alle Linken in der Gewerkschaft aktiv sein müssen. Aber: Sie müssen wissen, dass sie zentral sind. Und letztendlich jede gesellschaftliche soziale Bewegung, ob im Kampf um Frieden, bei Klimaschutz, beim Kampf gegen Rassismus oder für Geschlechtergerechtigkeit, selbst dann, wenn es für liberale Freiheiten oder wenn es gegen Nazis geht, mindestens auf die Unterstützung von Beschäftigten und damit auch ihren Gewerkschaften angewiesen ist.
Als BAG Betrieb & Gewerkschaft wollen wir der Partei die Brille der Beschäftigten aufsetzen, die uns stärker noch als bisher befähigen soll, in Auseinandersetzungen die soziale Frage zu stellen und die Welt der Arbeit als politischen Bezugspunkt zu etablieren.
Ich war lange Zeit in studentischen Interessenvertretungen aktiv. Mir war dabei immer wichtig, dass es diese Bezugnahme gibt. Aus meiner Studi-Zeit in den 90ern habe ich dies als Politik der „gewerkschaftlichen Orientierung“, kurz GO-Politik, übernommen. In den Fachschaftsvertretungen, etwa in meinem Jura-Fachbereich in Erlangen, war das ein Erfolgsrezept: Jura-Studierende nicht als Spießer abzutun, sondern als zukünftige Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Interesse an einer guten Ausbildung und sozialem Aufstieg haben. Die häufig auch aus Haushalten kommen, wo die Eltern abhängig beschäftigt waren und dadurch durchaus wissen, wo die ach so tolle Freiheit des Grundgesetzes materiell begrenzt ist durch massive soziale Ungerechtigkeit.
Wie würdest du die aktuelle Situation für die Gewerkschaften beschreiben: Stärkt Corona die Gewerkschaften oder werden sie eher geschwächt?
In der Pandemie stehen Gewerkschaften tendenziell unter hohem Druck. Wirtschaftlichen Entwicklungen verlaufen häufig krisenhaft, Unternehmen sind plötzlich in ihrer Existenz bedroht und müssen „gerettet“ werden. Dann wird argumentiert, dass „wir alle“ jetzt verzichten müssten. Das ist ein reales Problem und ich kann natürlich verstehen, dass viele Beschäftigte hier Sorgen haben. Gleichzeitig kommt es Vereinzelung über erzwungenes Homeoffice oder ähnliches. Das schwächt die Kampfkraft der Gewerkschaften. Vor diesem Hintergrund bin ich auch überhaupt kein Freund davon, quasi vom grünen Tisch aus – also ohne praktische Kenntnisse – den Tarifabschluss 2020 der Gewerkschaften im öffentlichen Dienst zu kritisieren. Ich finde, er war durchaus respektabel, unter diesen Bedingungen.
Bringt dich das auch manchmal so auf die Palme?
Mir missfällt, wenn Linke von der Seitenlinie Trainerratschläge ans Team im Handgemenge erteilen. Ich finde überhaupt: Kritik an politischen Entwicklungen, auch an gewerkschaftlichen, setzt voraus, dass man selbst aktiv Teil der Entwicklung ist. Ich mag generell keine linken Couch-Potatoes. Das betrifft auch meine Partei, DIE LINKE: Ich finde tatsächlich, dass wir diese Schlaubergerei beenden müssen: Immer zu glauben, wir wüssten es besser, ohne selbst „part of the game“ zu sein. Furchtbar!
Was sind deiner Ansicht nach zurzeit die zentralen Hauptfelder der Gewerkschaftsarbeit? Welche gewerkschaftlichen Kämpfe stehen an?
Die Gewerkschaften stehen vor riesigen Herausforderungen aus dem sich vollziehenden Wandel der Arbeitswelt. Schon allein der notwendige sozial-ökologische Umbau kann nicht allein passiv sozial-abfedernd begleitet werden, auch nicht allein auf betrieblicher Ebene. Diese notwendigen Interessenvertretungen müssen verbunden werden mit einer „gesellschaftlichen Idee“ der Demokratisierung der Wirtschaft. Dazu zählen auch innovative Vorschläge für die Transformation der Karbonindustrie, der Automobilbranche usw.
Wenn sich die Interessen der Beschäftigten erfolgreich nur im Konflikt durchsetzen lassen, dann muss die LINKE diejenigen Kräfte in den Gewerkschaften stärken, die für eine konfliktorientierte Strategie stehen.
Und zugleich müssen die Gewerkschaften neue Organisationstechniken erproben, um eingriffs- und auch angriffsfähiger zu werden. Ich sage das ohne Häme: Die Ablösung der Gewerkschaften von der quasi symbiotischen Verknüpfung zur Sozialdemokratie ist sowohl Teil ihrer Schwächung in den Zeiten nach Verabschiedung der Agenda 2010, aber auch eine Chance. Bei letzterem kommen dann natürlich auch wir Linken, als Partei, gedanklich ins Spiel. Gesellschaftliche intensive Bündnispartnerin der Gewerkschaften zu sein, ohne einer Art billigem Trade-Unionismus zu verfallen, ist hier eine strategische Aufgabe unserer Partei.
Sind Antirassismus, Frauenrechte und Homophobie Teil von Gewerkschaftsarbeit oder stehen sie eher im Gegensatz zu betrieblichen Themen?
Antirassismus, Frauenrechte und Homophobie müssen Teil der Gewerkschaftsarbeit sein! Weil es eine klassische Strategie der Arbeitgeberseite ist, Differenzen aufzubauen: zwischen Kartoffeln und Kanax, zwischen Männern, Frauen und so weiter. Sobald sich Beschäftigte um diese angeblichen Verschiedenheiten streiten, haben sie schon verloren. Wenn zum Beispiel die Belegschaft eines Fleischbetriebs im Tarifkampf anfängt darüber zu diskutieren, ob die Kolleginnen und Kollegen mit polnischem oder rumänischem Pass anders zu behandeln seien – und dann auch noch, wie – so etwas ist nicht gewinnbar. Dann können sie eigentlich schon nach Hause gehen. Das wird dann nämlich nichts mit der Durchsetzung besserer Bedingungen am Arbeitsplatz für alle. Im Gegenteil ist es notwendig, genau diese Unterschiede gewerkschaftlich rigoros einzuebnen: Dass sich am Arbeitsplatz die Belegschaft nicht auf den Pass, die Hautfarbe oder die Sprache schaut, liegt ja auf der Hand und muss im Arbeitsprozess immer wieder geklärt werden.
Hast du so etwas auch schon selber erlebt?
Ich habe mal einige Monate nach meinem Zweiten Staatsexamen bei Opel in Bochum am Band gearbeitet, um die Zeit meiner Arbeitslosigkeit zu überbrücken. Wir haben das Modell Zafira zusammengebaut. Da mussten wir uns helfen, wenn ein Arbeitsschritt nicht klappte, und da mussten sprachliche und kulturelle Fragen überbrückt werden. Es gibt aber meines Erachtens neben der genannten praktischen auch eine moralisch-kulturelle Seite: In einem wesentlichen Teil unserer Lebenszeit, und das ist die Arbeit, dürfen wir uns als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einfach nicht gegenseitig fertig machen lassen – rassistische, sexistische oder homophobe Pöbelei darf hier keinen Raum haben. Dass Gewerkschaften neben der Lohnfrage auch zur allgemeinen Humanisierung unseres Lebens beitragen müssen, sich um die menschliche Emanzipation und Gleichheit untereinander kümmern, ist Teil einer Fortschrittskultur, die wir in den Gewerkschaften immer wieder stark machen müssen. Damit meine ich, dass sie gegenseitig ihren verschiedenen Alltag kennenlernen, gegenseitig ihre verschiedenen Muttersprachen lernen und sich gegenseitig auch keine Vorschriften machen, mit wem sie alle Facetten ihrer Freizeit verbringen.
Sollte DIE LINKE gewerkschaftliche Kämpfe unterstützen und wenn ja, wie?
Unbedingt. Zum einen praktisch, wenn es diese gibt, durch Information an unsere Mitglieder, und natürlich auch den Aufruf, dort mitzutun, sich aktiv einzubringen. Zum anderen aber auch politisch, wenn es darum geht, Zusammenhänge des gerade aktuellen Kampfs mit gesellschaftlichen Entwicklungen oder auch Konflikten zu zeigen. Hier geht es natürlich um orientierende Angebote der Deutung. Denn so, wie üblicherweise das individuelle Bewusstsein im Alltag sich wie eine Schnecke bewegt, in einem gewerkschaftlichen Kampf verändert es sich plötzlich rasant, macht förmlich Sprünge. Mit einem Mal werden Zusammenhänge klar und plausibel, die auch durch das hundertfache Vorlesen diverser marxistischer Primärliteratur nicht erkannt werden können – oder nur als verstaubter linker Quasi-Katechismus. Aber wir brauchen die Sprünge, nicht den Katechismus.
Was müsste DIE LINKE tun, um sich stärker gewerkschaftlich zu organisieren?
DIE LINKE hat in den letzten zwei Jahren etwa 10.000 neue Genossinnen und Genossen gewonnen. Das ist ein riesiger Vertrauensvorschuss für unsere Politik. Aber auch eine verklausulierte Bitte an uns, als Instrument und Brücke des politischen Aktivseins zu fungieren. Ich schlage vor, dass alle unsere neuen Mitglieder relativ zügig mit zwei Fragen konfrontiert werden: Erstens, wo sie sich in unserer Partei von ihrem Interesse am besten aufgehoben fühlen, was sie also bei uns machen wollen. Und zweitens, ob sie schon Gewerkschaftsmitglied sind. Nicht, weil wir eine Drückerkolonne der Gewerkschaften sind, sondern, weil es in ihrem eigenen Interesse absolut sinnvoll ist. Die BAG Betrieb & Gewerkschaft kann hier eine Mittlerin für unsere Gliederungen sein.
Was hältst du von der Initiative der BAG Grundeinkommen, eine Mitgliederentscheid durchzuführen, und die Diskussion zwischen den BGE-Befürwortern und BGE-Kritikern mit einer einseitigen Positionierung zu entscheiden?
Ich bin kein Anhänger des Bedingungslosen Grundeinkommens. Ich finde, dass jeder Mensch einen Anspruch hat, nicht nur physisch, sondern auch sozio-kulturell an unserer Gesellschaft teilhaben zu können. Deshalb muss diese Garantie sozialpolitisch zu jeder Zeit sichergestellt sein. Dies ist ein Grundsatz der Humanität, und dieses Anliegen teile ich auch mit den Befürworterinnen und Befürwortern des BGE. Ich nehme wahr, dass viele aus dieser humanistischen Überlegung dazu kommen, ein solches Grundeinkommen bedingungslos an alle auszuzahlen. Das schicke ich immer voran, um die teilweise sehr verhärtete Debatte wieder zu öffnen. Trotzdem halte ich dieses Konzept für falsch.
Bevor wir zum Mitgliederentscheid kommen: Warum hältst du das BGE-Konzept für falsch?
Die Gründe sind schon vielfach erörtert worden: Enorme unsolidarische Effekte innerhalb der steuerzahlenden Erwerbstätigen und damit verbundene Akzeptanzprobleme in der Bevölkerung, absolute Unklarheit der Finanzierung, vor allem, wenn man nicht nur die soziale Existenzsicherung einer Gesellschaft, sondern auch weitere aktive Staatsaufgaben finanzieren will, überbordende bürokratische Erfassungsregelungen, Unterminierung von leistungsgerechten Anwartschaften gegenüber Pauschalierungen, nicht zuletzt auch die Schwächung der Tarifregelungen durch Kombilohneffekte. Überhaupt leuchtet mir – auch in Ansehung meiner sozialrechtlichen Praxis – gar nicht recht ein, weshalb alle die genannten humanistischen Grundanliegen einer sozio-kulturellen Teilhabe aller Menschen, übrigens unabhängig von Aufenthaltsstatus und Staatsangehörigkeit, nicht viel einfacher durch eine angemessene und bedarfsgerechte sanktionsfreie Mindestsicherung, also ein Mindesteinkommen, erreicht werden kann – natürlich unter Anrechnung von Einkommen und auch von Vermögen, selbstverständlich unter Berücksichtigung von Freibeträgen.
Nun zum Mitgliederentscheid und der Initiative der BAG Grundeinkommen, dadurch die innerparteiliche Diskussion mit einer einseitigen Positionierung zu entscheiden.
Die BAG Grundeinkommen hat einen solchen Mitgliederentscheid initiiert und ich habe als Bundesgeschäftsführer die Diskussion in der Partei, mit dem Parteivorstand und der BAG, geführt. Ich halte es für falsch, dass die BAG eine Entscheidung der Partei erzwingen will, ein BGE-Konzept in unsere Programmatik aufzunehmen. Deshalb werde ich auch in einem solchen Mitgliederentscheid mit Nein stimmen. Und zwar, weil ich möchte, dass – wie bisher – in unserer Programmatik Platz sowohl für Anhänger*innen als auch Kritiker*innen des BGE ist. Ich finde, damit sind wir bisher gut gefahren. Ich kann auch überhaupt nicht erkennen, dass uns diese Differenz dabei gehindert hat, gemeinsam das o.g. humanistische Grundanliegen der unbedingten sozio-kulturellen Teilhabe in der Öffentlichkeit zu vertreten und darauf zu dringen, dass Hartz IV in diesem Sinne abgeschafft und durch ein solches humanistisches Konzept ersetzt wird: eine bedarfsgerechte sanktionsfreie Mindestsicherung.
Wie ging es dann weiter?
Nachdem die BAG Grundeinkommen das satzungsgemäße Quorum erreicht hatte, einen solchen Mitgliederentscheid durchzuführen, war es meine Aufgabe, hier ein solches Verfahren zu finden, dass uns dieser Mitgliederentscheid zumindest nicht mitten im Bundestagswahlkampf 2021 politisch lähmt. Das Ergebnis ist ein von mir ausgehandelter und mitgetragener Kompromiss, für dessen Annahme ich auf dem Bundesparteitag jetzt im Februar werbe: Mitgliederentscheid ja, aber erst beginnend nach der Bundestagswahl und unter aktiver Begleitung durch die Bundespartei.
Was erhoffst du dir davon?
Ich bin als Bundesgeschäftsführer von Haus aus Optimist. So besteht meiner Hoffnung nach sogar die Chance, über diese Diskussionen einen Beitrag zur ökonomischen Kompetenzerweiterung unserer gesamten Partei und ihrer Mitglieder zu leisten. Und als Kritiker des Grundeinkommenskonzepts, wiederum Vertreter einer bedarfsgerechten sanktionsfreien Mindestsicherung, wünsche ich mir, dass nach Abschluss des Mitgliederentscheids Genossinnen und Genossen mit weiterhin kontroversen Ansichten zu dieser Einzelfrage gemeinsam als Linke und mit Gewerkschaften führen.
Lieber Jörg, wir danken dir für das Gespräch.