Von Jan Richter
Unsere Arbeitswelt besteht heute entweder aus entgrenzter Arbeit, Überstunden und massiver Arbeitsverdichtung oder aus Leiharbeit, Befristungen und Mini-Teilzeit. Die gute wirtschaftliche Lage trägt nicht dazu bei, dass die prekären Ränder kleiner werden. Es hat sich eine Zone der Unsicherheit zementiert. Das ist nicht akzeptabel. Die Polarisierung auf dem Arbeitsmarkt ist aber keine zwangsläufige Entwicklung, sondern das Ergebnis neoliberaler Politik. Davon unbeirrt faseln Arbeitgeber und ihre Lakaien in der Politik von einem angeblich nicht mehr zeitgemäßen Arbeitszeitgesetz. Wir sollen noch flexibler werden. Die Arbeitswelt soll atmen.
Der Fakten-Check beim Statistischen Bundesamt zeigt, dass das Arbeitsvolumen in Deutschland zuletzt 2016 insgesamt 59,3 Milliarden Arbeitsstunden umfasst. Gleichzeitig wurden 1.729.000.000 Überstunden geleistet, eine Milliarde davon unbezahlt (IAB). Unsere Arbeitszeiten verändern sich, fast jede/r Vierte arbeitet heute am Wochenende, in den Abendstunden oder Schicht. Das ist Ausdruck von gestiegener Flexibilität. Ein Drittel aller Betriebe und 84 Prozent der Großbetriebe haben Regelungen zu Arbeitszeitkonten. Vor allem Unternehmen passen so die Arbeitszeit der Beschäftigten an den betrieblichen Bedarf an. Flexibilisierungswünsche, die den Beschäftigten nützen, kommen in erster Linie Hochqualifizierten mit hohen Verdiensten zugute.
Unsere Lebenszeit unterliegt immer stärker dem Zugriff der Arbeitgeber, Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmen. Die Bedürfnisse von Menschen ökonomischen Interessen unterzuordnen, ist nicht gesund. Für Viele ist Flexibilität eine Einbahnstraße. Je nach Auftragslage arbeiten sie bis zum Umfallen oder müssen fremdbestimmt zu Hause bleiben. Unternehmerische Risiken werden auf Beschäftigte verlagert, deren Gesundheit und Privatleben bleiben dabei auf der Strecke. Wenn es um Zeitbedürfnisse der Menschen geht, ist Ehrlichkeit wichtig. Eine Debatte um Arbeitszeit macht gesellschaftlich nur Sinn, wenn sie nicht ausschließlich privilegierte Jobs zum Maßstab nimmt. Wir brauchen Vorschläge für Krankenpfleger, Industriemechaniker oder Busfahrer im Dreischichtsystem.
Gepaart mit Lohndumping und der Seuche der prekären Arbeit, liegt unserer Arbeitswelt eine Spaltung zu Grunde, die nicht mehr alleine durch betriebliche und tarifpolitische Auseinandersetzungen überwunden werden kann. Nicht nur Reichtum, sondern auch das Angebot an Erwerbsarbeit verteilt sich immer ungerechter. Allein das Arbeitsvolumen der Überstunden reicht aus, um über eine Million Vollzeitjobs zu schaffen. Bernd Riexinger hält es sogar für eine Schicksalsfrage der Gewerkschaften, den Kampf gegen prekäre Arbeit nicht auch auf politischer Ebene zu führen. Gute Arbeit erreicht man nicht, indem man Deregulierung und Flexibilisierung praktiziert und prekäre Beschäftigungsformen toleriert. DIE LINKE hat eine überzeugende Alternative zur herrschenden Politik. Kurze Vollzeit für alle, mit einem anständigen Tariflohn, unbefristet und mitbestimmt – kurz: Ein Neues Normalarbeitsverhältnis.
Jan Richter ist Bundessprecher BAG Betrieb & Gewerkschaft