Von Ulrike Eifler
Anfang des Jahres erschien der Aufruf „Sozial statt Groko-Politik“. Er nimmt eine kritische Bewertung des Koalitionsvertrages vor und spricht sich für selbstbewusste, parteiunabhängige Gewerkschaften aus. „Statt den Koalitionsvertrag zu bejubeln, müssen Gewerkschaften ihre inhaltlichen Anforderungen an die Koalition und die Regierung bekräftigen und diese durch öffentlichkeitswirksame Aktionen untermauern“, heißt es. 1.400 Kollegen haben inzwischen unterzeichnet, unter ihnen Mitglieder der LINKEN, Sozialdemokraten und Kollegen gänzlich ohne Parteibuch. Er kann als Beitrag zur innergewerkschaftlichen Debatte um politische Orientierung verstanden werden. Im Kern geht es dabei um eine Ausrichtung der Gewerkschaften jenseits von Sozialpartnerschaft und Klassenkompromiss.
Die Diskussion ist keine neue. Sie reicht in die Anfänge der Arbeiterbewegung zurück und ist eng verknüpft mit der Frage nach dem politischen Mandat: Sollen sich Gewerkschaften auf ökonomische Kämpfe beschränken und die politischen Kämpfe aus Gründen der Neutralität an eine Partei übertragen? Rosa Luxemburg sah darin bestenfalls einen „Schein von Neutralität“ und fürchtete eine Schwächung: Ökonomische Kämpfe ohne politischen Adressaten drohen zu zersplittern und politische Kämpfe ohne betriebliche Verankerung beschränken sich auf eine repräsentative Ebene. Ökonomische und politische Fragen waren für sie daher nicht voneinander zu trennen.
Einige Jahre später wurde dieser Wunsch nach Neutralität teuer bezahlt. Denn die Arbeiterbewegung war am Vorabend des Faschismus nicht nur aufgrund ihrer parteipolitischen Zerstrittenheit handlungsunfähig, sondern auch aufgrund ihrer strategischen Ausrichtung. So glaubte die ADGB-Führung bis Anfang Mai 1933 daran, mit einer Politik der Anpassung die Organisation zu erhalten. Sie verkannte, dass Faschismus eine Herrschaftsform des Kapitals ist und dass das Kapital immer dann zum Faschismus greift, wenn seine Herrschaft mit der parlamentarischen Regierungsform nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. Für die organisierte Arbeiterbewegung ist im Faschismus kein Platz. Dieser Irrtum, der die Gewerkschaften direkt in die Katastrophe führte, verpflichtet uns heute zur Gründlichkeit in der politischen Analyse. Er zeigt zudem, wie sehr politische und ökonomische Kämpfe zusammengehören.
Nach 1945 formierten sich die Gewerkschaften auf dem Boden der Einheit. Eine Gewerkschaft für alle, unabhängig von Branchenzugehörigkeit, konfessioneller Orientierung und parteipolitischer Präferenz. Eine für alle – weil es die Einheit ist, die stärkt. Doch Einheit ist weder bürokratischer Zustand noch Selbstzweck, sondern die Voraussetzung für Handlungsfähigkeit. Und zur Handlungsfähigkeit gehört auch, die gesamte Gesellschaft in den Blick zu nehmen. Deshalb gehören Einheitsgewerkschaft und politisches Mandat zusammen: Ohne den Zustand der Einheit werden die Gewerkschaften ihr politisches Mandat nicht wahrnehmen können und ohne die Wahrnehmung des politischen Mandats lässt sich die Einheit schwerlich herstellen.
Heute ergibt sich die Notwendigkeit für die Einheit allerdings nicht mehr allein aus den historischen Erfahrungen, sondern vielmehr aus einem aktuellen Zustand der Zersplitterung. Die neoliberalen Arbeitsmarktreformen haben zu einer Ausweitung von unsicherer Beschäftigung geführt. Sie haben die Arbeiterklasse in Gruppen gespalten, die als Industriearbeiter, Leiharbeiter oder Niedriglöhner unterschiedliche Erfahrungen machen und dabei verschiedene Interessen entwickeln. Für Arbeitgeber ist es leichter geworden, ihr unternehmerisches Risiko auf die Beschäftigten abzuwälzen und diese gegeneinander auszuspielen. Im Ergebnis sind Belegschaften erpressbarer und die Gegenwehr im Betrieb schwieriger geworden.
Mit ihrer Initiative für ein neues Normalarbeitsverhältnis nehmen Bernd Riexinger und Lia Becker dieses Problem in den Blick und generieren Vorschläge, die verschiedenen Beschäftigtengruppen über den Kampf für neues sicheres Beschäftigungsverhältnis jenseits von Niedriglohn und Prekarität zusammenzuführen. Ihre Initiative ist ein wertvoller Impuls für eine neue gewerkschaftspolitische Debatte. Es sind die historischen Erfahrungen und aktuellen Herausforderungen, die die Gewerkschaften gleichermaßen zu Einheit und politischem Mandat auffordern. Die innergewerkschaftliche Auseinandersetzung darum zu suchen und zu führen, wird entscheidend sein für Ausrichtung und Schicksal der Gewerkschaften.
Ulrike Eifler ist Bundessprecherin der BAG Betrieb & Gewerkschaft
Dieser Artikel erscheint 2018 in der Mai-Ausgabe der Zeitung betrieb & gewerkschaft