Diskussionspapier für den Parteivorstand, Juni 2019
Bei der Europawahl verlor unsere Partei DIE LINKE drastisch bei Arbeitern, Angestellten, Arbeitslosen und Rentnern – und das obwohl wir für uns in Anspruch nehmen, deren Interessen zu vertreten. Mit Verlusten von vier Prozent unter Arbeitern, einem Prozent unter Angestellten, zwei Prozent unter Rentnern und drei Prozent unter Arbeitslosen setzt sich ein Trend fort, der sich bereits bei vorangegangenen Wahlen angedeutet hatte. Anders als die LINKE verliert die SPD bei diesem Klientel verdientermaßen. Die AfD dagegen verbucht Zuwächse und wird massiv von Arbeitern und Arbeitslosen gewählt. Bei den Arbeitslosen schneiden selbst die Grünen besser ab als die LINKE. Wenn uns das Fundament unserer Wähler abhandenkommt, dann muss das die Partei und ihre Gremien zum Nachdenken bringen.
Hierzu möchten wir drei Gedanken in die Debatte einbringen:
1.) Über Armut zu reden ist noch keine Klassenpolitik
Historisch ist die Entstehung der Partei DIE LINKE untrennbar mit der Kritik an Hartz IV und der Deregulierung des Arbeitsmarktes durch SPD und Grüne verknüpft. Die Kritik der Partei an Hartz IV hat allerdings eine Schieflage bekommen. Während beide Vorgängerparteien aktiver Bestand-teil der Montagsdemonstrationen waren und insbesondere die WASG zum organisatorischen Ausdruck des gewerkschaftlichen Protestes gegenüber Rot-Grün wurde, hat sich die LINKE nach dem Abflauen der Proteste gegen Hartz IV stark auf ihre parlamentarische Arbeit beschränkt. In den gewerkschaftlichen Debatten spielt sie als Partei zudem keine Rolle mehr.
Paternalistische Politikkonzepte im Umgang mit Hartz IV haben die Strategie ersetzt, eine emanzipatorische aktive Bewegung gegen die Deregulierung des Arbeitsmarktes aufzubauen und anzuführen. Hartz IV hat nicht nur Millionen Menschen in eine entwürdigende Lebenssituation katapultiert, sondern Arbeitslose und Beschäftigte diszipliniert und deren gewerkschaftliche Gegenwehr erschwert. Die Forderung nach einer sanktionsfreien Mindestsicherung von 1.050 Euro ist eine bevormundende und allenfalls verwaltende Antwort auf Zustände, die aktiv bekämpft werden müssen. Die Verluste bei Arbeitslosen, Arbeitern und Angestellten sollten Hinweis genug sein, dass weder Arbeitslose mit Almosen abgespeist werden noch Arbeiter sich mit der betrieblichen Ohnmacht zufriedengeben wollen. Im Unterschied zur Europawahl hat die LINKE im Bremer Landtagswahlkampf u.a. die Vermittlung in und die Schaffung von »Guter Arbeit« in den Vordergrund gestellt. Sie hat Nichtwähler mobilisiert und sogar Stimmen von SPD und Grünen hinzugewonnen.
Die Gewerkschaften haben zehn Jahre lang für die Einführung des Mindestlohns gekämpft. Unter dem Dach des DGB sind alle acht Mitgliedsgewerkschaften im Verlaufe der Kampagne zusammengewachsen und letztlich hat die Entstehung der Partei DIE LINKE der Forderung den nötigen Rückenwind gebracht. So richtig wie es 2005 war, sich mit dieser Forderung an die Seite der Gewerkschaften zu stellen, so falsch ist es 2019, das Thema »Gute Arbeit« allein auf eine gesetzliche Lohnuntergrenze zu reduzieren. Gute Arbeit ist unbefristet, mitbestimmt und tarifvertraglich geschützt. Die rückläufige Tarifbindung ist Ausdruck der geänderten Kräfteverhältnisse in den Betrieben. Leiharbeit, Befristungen, Outsourcing, Niedriglöhne und Hartz IV schwächen Beschäftigte und Gewerkschaften. Wenn die LINKE auf diese Situation nur mit einem Festhalten am Mindestlohn reagiert, dann steht sie damit nicht mehr an der Seite der Beschäftigten, sondern daneben. Der rückläufigen Tarifbindung können nur aktive betriebliche Kämpfe entgegengestellt werden. Die LINKE muss ihre betriebliche Verankerung nutzen, um in gewerkschaftliche Debatten einzugreifen und um diese Kämpfe zu befördern.
2.) Sozial-ökologischen Umbau mit realer Verankerung unter Industriearbeitern verbinden
Die Angst vor der drohenden Klimakatastrophe hat im Wahlkampf völlig zu Recht ökologische Themen in den Vordergrund geschoben. Der Kampf um die Stimmen der Grünen ist jedoch nicht durch eine Orientierung auf urbane Milieus zu gewinnen. Eine Klassenpolitik, die sich allein auf das Leben in städtischen Metropolen (oft unter Vernachlässigung des abgehängten ländlichen Raums) konzentriert, steht auf dem Kopf. Sie kann nur zurück auf die Füße finden, indem sie neben den Lebens- vor allem die Arbeitsbedingungen der abhängig Beschäftigten – die in den Metropolen gleichermaßen leben wie auf dem Land – in den Blick nimmt.
Ebenso wenig ist der Kampf um die Stimmen der Grünen über das Kopieren grüner Politikkonzepte zu gewinnen. Unsere Antwort muss die Stärkung der Interessen der abhängig Beschäftigten sein. Diese Interessen bestehen in der Sicherung von Arbeitsplätzen, erschöpfen sich aber nicht darin. Berufspendler haben z.B. ein Interesse daran, trotz des jahrzehntelangen Ausdünnens des ÖPNV pünktlich und möglichst stressfrei am Arbeitsplatz zu erscheinen. Sie haben ein Interesse an bezahlbaren Wohnungen, wohnortnahen Kitas und selbstverständlich haben sie auch ein Interesse an der Vermeidung des Klimakollapses. Doch solange die LINKE über die Einführung der CO2-Steuer diskutiert, anstatt große Konzerne als die Hauptverursacher des Klimawandels in den Fokus zu nehmen, fragen die elf Millionen Berufspendler, die vielfach auf ihr Auto angewiesen sind, völlig zu Recht, warum sie DIE LINKE wählen sollen. Wenn sich gesellschaftliche Entwicklungen radikalisieren, dann müssen auch linke Forderungen radikaler werden. Würde die Forderung nach einem sofortigen Ausstieg aus der Kohleindustrie unter vollständiger Weiterzahlung der Gehälter bis zum Renteneintritt nicht sowohl die Perspektive der Beschäftigten einnehmen als auch den Konflikt mit der Kohleindustrie fördern?
Gleiches gilt für die Beschäftigten in den Betrieben der Automobilindustrie und deren Zulieferern. Durch Strukturwandel, Digitalisierung und Dieselskandal führen mehrere gesellschaftliche Umbrüche zu einer starken Verunsicherung in diesen Betrieben. Betriebsräte und Vertrauensleute erleben diese Umbruchsituation mehr als ohnmächtige Statisten denn als handlungsfähige Akteure. Wenn die LINKE nicht auf ökologische Industriepolitik setzt, die zum Ziel hat, betriebliche Akteure handlungsfähig zu machen und Beschäftigtenperspektiven und Klimaschutz zusammenzubringen, wird es niemand anderes tun.
3.) Klassenverankerung heißt, Anstrengungen zur Organisation der Klasse zu unternehmen
Das Potential zur Verankerung der Partei und ihrer Ideen in den Betrieben und die Möglichkeit, betriebliche und gewerkschaftliche Debatten zu beeinflussen, sind notwendig und groß. Die richtige Orientierung auf Klassenpolitik muss jetzt in konkrete Schritte münden, die Partei DIE LINKE in der Klasse zu verankern: Strukturell und politisch! Das macht den Aufbau von Strukturen notwendig, die dazu beitragen, handelnde Akteure wie Betriebs- und Personalräte, Vertrauensleute und Gewerkschaftssekretäre in ihrer Arbeit zu stärken. Ein Blick auf die belgische Partei der Arbeit (PTB) zeigt, dass reale Klassenverankerung gewerkschaftliche Debatten beeinflussen und offensiv nach vorn treiben kann.
Dazu ist es notwendig, dass es die LINKE als ihre Aufgabe ansieht, Gewerkschafter unter ihrem Dach zu bündeln, um die Themen von abhängig Beschäftigten stärker auf die Tagesordnung der Partei zu setzen. Zusätzlich ist es notwendig, linke Gewerkschafter stärker in die Lage zu versetzen, in die Debatten ihrer Mitgliedsgewerkschaften einzugreifen und eine offensive, selbstbewusste, am gesellschaftspolitischen Mandat der Gewerkschaften ausgerichtete und parteiunabhängige Gewerkschaftspolitik voranzutreiben.
Dort, wo das geschieht, politisiert es die gewerkschaftlichen Diskussionen und befördert linke Vernetzung im gewerkschaftlichen Kontext. In Berlin unterstützten linke Gewerkschafter die Streiks an der Charité. In Hessen haben Gewerkschafter aus der Partei und ihrem Umfeld in die Debatte der hessischen Gewerkschaften eingegriffen und aktiv die Kampagne »Keine AfD in den Landtag« vorangetrieben. Eine lokale Vernetzung zur Verankerung der LINKEN in den Betrieben würde flächendeckend dazu beitragen, die gewerkschaftlichen Diskussionen maßgeblich zu beeinflussen. Sie würde die Rolle der abhängig Beschäftigten in der Partei stärken und dazu beitragen, gewerkschaftliche Debatten, Arbeitskämpfe und Kampagnen nicht nur von außen zu flankieren, sondern aus der Klasse heraus zu unterstützen.
Die Erfahrung zeigt, dort wo es eine relevante Anzahl linker Gewerkschafter gibt, die sich mit dem notwendigen Engagement und der dazugehörigen Zeit paart, entstehen lokale Strukturen, die gut arbeiten. Ihr Zustandekommen ist allerdings bisher mehr zufällig, als dass es einer politischen Strategie folgt oder politisch gesteuert würde. Der Aufbau von an Gewerkschaften orientierten, linken Strukturen braucht jedoch einen Fahrplan. Dieser muss in der politischen Praxis entwickelt werden.
Die Etablierung eines Gewerkschaftsrates, wie ihn SPD und Grüne betreiben, muss auch in der LINKEN Praxis werden. Er muss einen offiziellen Charakter bekommen und seine Beratungen in die Jahresplanung der Partei eingebunden werden. Neben einem gewerkschaftsübergreifenden Austausch müssen die zentralen Debatten der Gewerkschaften strategisch aufgegriffen, diskutiert und vor dem Hintergrund notwendiger Unterstützung geführt werden. Hinzu kommt: Gewerkschaftliche Diskussionen lassen sich nicht allein an der Basis beeinflussen. Sie brauchen auch den Austausch auf der Vorstandsebene. Zentral muss der Aufbau belastbarer, stabiler und regelmäßiger Kommunikationsstrukturen zwischen Parteispitze und den Vorsitzenden der Gewerkschaften sein. Die thematische Stoßrichtung ist gemeinsam im Gewerkschaftsrat zu entwickeln.
Abschließend bleib festzuhalten: Die Verluste der Partei DIE LINKE sind Ausdruck sich zuspitzender gesellschaftlicher Entwicklungen. Anders als bei der Europawahl 2014 wurden die europäischen Linksparteien 2019 nicht mehr vom Protest gegen die Troika und das von ihr angerichtete soziale Desaster getragen. Die Empörung über die Kürzungspolitik in weiten Teilen Europas hatte Tausende mobilisiert. Die Bewegungen sind weg und mit ihnen die Hoffnungen auf Veränderung. Enttäuschung und Ohnmacht haben die gesellschaftliche Gesamtlage zugunsten der extremen Rechten verändert. Dass linke Parteien angesichts derartiger massiver gesellschaftlicher Entwicklungen in die Krise geraten, ist zunächst nicht ungewöhnlich, denn sie müssen sich dazu verhalten. Entscheidend aber wird sein, ob sie diese Entwicklungen als sich zuspitzende Klassenauseinandersetzungen wahrnehmen und daraus die notwendigen Schlüsse für eine eigene Klassenverankerung ziehen. Die SPD hat das Milieu der abhängig Beschäftigten zerstört und heimatlos zurückgelassen. Die AfD schickt sich an, diesem Milieu eine politische Heimat entlang von engen nationalen und kulturellen Grenzen anzubieten. Die Klassenverankerung der Partei DIE LINKE ist kein intellektuelles Projekt. Es ist die einzige Möglichkeit, die AfD zurückzudrängen, der anhaltenden neoliberalen Offensive des Kapitals etwas entgegenzusetzen und den Kampf um eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung zu gewinnen.
Bundessprecherinnen und Bundessprecher der BAG Betrieb & Gewerkschaft
Das Diskussionspapier findet ihr hier zum Download: