„Entscheidend ist, dass die 12 Euro auch bei den Leuten ankommen!“

„Entscheidend ist, dass die 12 Euro auch bei den Leuten ankommen!“

Heute entscheidet der Bundestag über die Erhöhung des Mindestlohns. DIE LINKE wird diesem Gesetz zustimmen. Warum ihr das aber einiges abverlangt, welche Kröte SPD, Grüne und FDP darin platziert haben und worauf es jetzt bei der Durchsetzung ankommt, erklärt Susanne Ferschl im Interview. Im Gespräch mit unserem Bundessprecher Jan Richter erinnert die Vize-Chefin der Bundestagsfraktion DIE LINKE aber auch daran, dass wir bei aller Freude über die 12 Euro nicht vergessen dürfen, warum der Bundestag sich überhaupt mit gesetzlichen Lohnuntergrenzen befassen muss.

BAG Betrieb & Gewerkschaft: DIE LINKE wird am Freitag im Bundestag der Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro zustimmen. Das passiert ja nicht alle Tage. Wie war die Diskussion dazu in der Fraktion, auch vor dem Hintergrund, dass wir ja bereits eine höhere Forderung haben?

Susanne Ferschl: Die Bundesregierung setzt unsere langjährige Forderung nach einer Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf 12 Euro endlich um. Das ist zunächst eine sehr gute Nachricht für Millionen Beschäftigte und die Bundestagsfraktion begrüßt und unterstützt das natürlich ausdrücklich. Deswegen stimmen wir dem Gesetz insgesamt zu, auch wenn wir die gleichzeitige Ausweitung der Minijobs scharf kritisieren und bei der Höhe und einigen anderen Dingen weiter Nachbesserungsbedarf sehen.

Die Ausweitung der Minijobs wird auch von den Gewerkschaften und den Sozialverbänden einhellig kritisiert, da diese sinnbildlich für prekäre und nicht existenzsichernde Arbeit stehen. Urlaub oder Krankentage werden vielfach nicht bezahlt. Das ist zwar rechtswidrig, aber häufig gängige Praxis.

Genau das macht Minijobs für Unternehmen attraktiv: Die systematische Nichteinhaltung geltender arbeitsrechtlicher und tariflicher Standards. Zwei Drittel der knapp 6,5 Mio. Minijobber sind im Haupterwerbsalter, die Hälfte davon arbeitet ausschließlich auf 450-Euro-Basis. Für Viele ist ein Minijob zur regulären Einkommenssicherung notwendig und eben kein Nebenverdienst, wie oft behauptet wird.

Nur entstehen bei dieser Beschäftigung keine Ansprüche aus den Sozialversicherungen. Corona hat gezeigt was es heißt, ohne so einen Anspruch den Job zu verlieren. 2020 wurden viele Minijobber von heute auf morgen arbeitslos und da war nichts mit Absicherung, sondern direkt Hartz IV.

Minijobber sind wie eine Reserve auf dem Arbeitsmarkt und im Ernstfall vogelfrei. Auf sie wird im Krisenfall kurzfristig verzichtet, ohne dass ihnen Kurzarbeiter-, Arbeitslosen- oder Krankengeld zusteht. Minijobs sind aber nicht nur arbeitsmarkt-, sondern auch gleichstellungspolitisch ein Problem.

Weil sie überproportional von Frauen ausgeübt werden?

Ja, vor allem, weil die sich darüber weder ihre Existenz eigenständig sichern noch gute Rentenansprüche aufbauen können. Sie bleiben abhängig, vom Amt oder vom Partner. Daran ändert auch die Dynamisierung nichts und durch das Ehegattensplitting schnappt – trotz gleitender Übergänge in reguläre Jobs – die Teilzeitfalle für Frauen zu. Dass eine vermeintlich progressive Koalition ein derart veraltetes Rollenbild zementiert, finde ich scheinheilig. So kann man das Erwerbspotential auch stillgelegen und für die betroffenen Frauen ist das eine Katastrophe.

Kommen wir wieder zurück zum Mindestlohn. Wird dieser am 1. Oktober auf 12 Euro erhöht, sind alle Probleme gelöst? Also Ende gut, alles gut?

Natürlich nicht. Die 12 Euro reichen schon längst nicht mehr für eine Rente oberhalb der Grundsicherung. Auch dass jungen Menschen ohne Berufsausbildung, Langzeitarbeitslosen oder Menschen mit Behinderung in Werkstätten der Mindestlohn weiterhin vorenthalten wird, ist nicht akzeptabel. Entscheidend ist auch, dass die 12 Euro überhaupt bei den Beschäftigten ankommen, da sehe ich schon noch einige Hürden. Stärken wir nicht endlich die Mindestlohnkontrollen, wird nicht zu verhindern sein, dass Beschäftigte auch weiterhin millionenfach um ihren Lohn betrogen werden. 

Dazu legen einige Arbeitgeber eine kriminelle Kreativität an den Tag, die ihresgleichen sucht.

Dieser Lohnraub grenzt schon an Wirtschaftskriminalität. Ich stimme mich regelmäßig mit den Kollegen von der Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) und deren zuständige Gewerkschaft BDZ ab. Die FKS ist als Unterabteilung des Zolls für die Mindestlohnkontrollen verantwortlich. Auf meine Frage, was es ihrer Meinung nach für wirkungsvolle Kontrollen braucht, lautet ihre Antwort: wasserdichte und vor allem tägliche Arbeitszeiterfassung. Die Kontrolleure haben das Problem, den Betrug oft nicht nachweisen zu können. Denn was nicht dokumentiert ist, kann nicht kontrolliert und demzufolge auch nicht sanktioniert werden. Das ist der Grund, warum die Dokumentationspflicht der Arbeitszeit aus dem Gesetzentwurf rausgeflogen ist, aber auch hier werden wir als LINKE nicht lockerlassen.

Punktsieg für die FDP und SPD und Grüne nehmen den Mindestlohnbetrug billigend in Kauf?

SPD und Grüne verhalten sich in dieser Frage auffallend passiv, ähnlich wie bei der Ausweitung der Minijobs. Da liegt der Schluss nahe, dass es ihnen nicht wichtig ist und ihr Gerede von Respekt nur hohles Wahlkampf-Gequatsche war. Wir dürfen auch bei aller Freude über die 12 Euro nicht vergessen, warum der Bundestag sich überhaupt mit gesetzlichen Lohnuntergrenzen befassen muss.

Da schließt sich dann der Kreis zu Rot-Grün und der Agenda 2010?

Die Hartz-Gesetze zeigen Wirkung. Leiharbeit, Befristungen, Minijobs und Hartz IV haben die Kampfkraft der Gewerkschaften nachhaltig geschwächt und sie konnten der systematischen Tarifflucht der Arbeitgeber zu wenig entgegensetzen. Heute ist die Hälfte der Beschäftigten nicht mehr durch einen Tarifvertrag geschützt, das hat Niedriglöhnen den Weg geebnet. Will man also im Bundestag von links keine Kritik in Sachen Mindestlohn, dann muss man die Stärkung der Tarifbindung vorantreiben.

Weil nur Tarifverträge verhindern, dass die Konkurrenz zwischen den Betrieben zu Lasten der Löhne und Arbeitsbedingungen ausgetragen wird.

Ja, und weil es Aufgabe der Gewerkschaften ist, für gute Arbeits- und Lebensbedingungen zu kämpfen. Politik gestaltet den Rahmen, der diesen Kampf leichter oder schwerer macht. Die Agenda 2010 war eine Zäsur. Leiharbeit, Befristungen, Minijobs und Hartz IV haben die Kampfkraft der Gewerkschaften geschwächt, so konnten sie der Tarifflucht der Arbeitgeber zu wenig entgegenzusetzen. Deshalb müssen sich SPD, Grüne, FDP und CDU im Bundestag auch nicht so künstlich aufspielen, wenn DIE LINKE im Bundestag beim Thema Mindestlohn weiter Druck macht, 12 Euro hin oder her.

Wie geht es jetzt bei euch weiter?

Parallel zur Abstimmung über die 12 Euro stellen wir einen Antrag zu den Mindestlohnkontrollen, um hier bis zur Umsetzung im Oktober parlamentarisch Druck auf die Ampel zu machen. Darin geht es auch um die Frage der Arbeitszeiterfassung. Bei prekärer Arbeit und Hartz IV werden wir nie Ruhe geben, das sind Kernanliegen der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften und wenn wir das nicht tun, macht es niemand im Bundestag. Die Ampel verharrt im Status Quo und von der Opposition rechts von der Bundesregierung will ich gar nicht reden.

Die Bundesregierung plant nichts gegen sachgrundlose Befristungen oder Leiharbeit, Minijobs weitet sie aus und bei Hartz IV wird aus Raider lediglich Twix.

Deswegen appelliere ich bei jeder sich bietenden Gelegenheit an die Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben: Organisiert euch! Tretet in die Gewerkschaften ein und gründet Betriebsräte! Wir müssen selber schauen, dass wir die Welt der Arbeit gerechter machen. Ohne Druck aus den Betrieben und aus den Gewerkschaften wird es nicht gehen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Susanne Ferschl ist stellvertretende Fraktionsvorsitzende von DIE LINKE im Bundestag und Leiterin des Arbeitskreises »Arbeit, Gesundheit und Soziales«.

Jan Richter ist Bundessprecher der AG Betrieb & Gewerkschaft und Mitglied im Vorstand der Partei DIE LINKE.

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