Artikelgesetz Zeitenwende

Rüstungswerbung in Stadien, Arbeitslose in die Bundeswehr und Vorbereitungen zu Grundrechteeinschränkungen im Konfliktfall: Schreitet die Militarisierung unserer Gesellschaft voran? Darüber haben wir mit Dietmar Bartsch gesprochen, dem Sprecher für Verteidigungspolitik von Die Linke im Bundestag.

Artikelgesetz Zeitenwende
Foto: DBT/Inga Haar

BAG Betrieb & Gewerkschaft: Dietmar, das Bundeskabinett hat am 4. September – da war die Ampel noch intakt – den Entwurf eines Artikelgesetzes zur Einsatzbereitschaft beschlossen. Ehe wir in die inhaltlichen Erläuterungen einsteigen, zunächst meine Frage: Was genau ist ein Artikelgesetz?

Dietmar Bartsch: Als Artikelgesetz wird in Deutschland ein Gesetz bezeichnet, das auf einen Schlag mehrere Gesetze oder sehr unterschiedliche Inhalte und Themen in sich vereint. Oft bezeichnet man so Änderungsgesetze, die eine oft grob gefasste bestimmte Thematik in einer ganzen Reihe von Rechtsgebieten ändern.

Kannst du grob umreißen, worin es in dem Gesetzentwurf geht?

Zur Untersetzung der so genannten "Zeitenwende" sollen eine Reihe von Themen angegangen werden, wie beispielsweise Fragen der Arbeitszeitregelung, der Soldat/innen- und Beamt/innen-Versorgung oder der Gleichstellung. Regierung und Rumpf-Koalition wollen unter anderem mehrere Gesetze aus der Zeit der Notstandsgesetzgebung aktualisieren und angeblich für das 21. Jahrhundert anpassen.

Der Gesetzentwurf sieht zum Beispiel Änderungen im Bereich des Arbeitszeitrechtes für Soldatinnen und Soldaten von 48 auf 54 Stunden vor. Kann das ein Vorbote für eine Ausweitung der Wochenarbeitszeit auch in anderen Branchen unter dem Deckmantel einer Sicherheitsdebatte sein? Zumal die Arbeitgeber seit Jahren immer wieder auf eine Ausweitung, zumindest aber auf eine Flexibilisierung der Arbeitszeit drängen?

Ich glaube nicht, dass das ein Vorbote für eine Ausweitung der Wochenarbeitszeit ist. Arbeitszeiten bei Soldat/innen sind eine besondere Angelegenheit. Wer auf einer Fregatte in der Nordsee dient, ist nicht jeden Tag zum Abendessen zu Hause. Ebenso wer auf einem abgelegenen Standort wie Torgelow dient. Wenn da der Feierabend erreicht ist, sitzt man im Wald in Ostvorpommern. Ich will hier überhaupt nicht einer Ausweitung der Wochenarbeitszeit das Wort reden, aber schon festhalten, dass der Soldat/innen-Beruf etwas Besonderes ist.

Bei der Ausweitung der Wochenarbeitszeit müssen wir immer auf der Hut sein, wie die Einführung der 60-Stunden-Woche in Österreich durch schwarz-blau im Jahr 2018 gezeigt hat. Liberale, Konservative und Unternehmerverbände fordern immer wieder einen Angriff auf die derzeit geltenden Wochenarbeitszeitregeln. Klar ist, dass wir eine Entwicklung hin zu einer Reduzierung der Wochenarbeitszeit brauchen und nicht in die andere Richtung. Aber ich schätze nicht, dass die Bundeswehr in dieser Frage als Richtmaß für die anderen Teile der Gesellschaft taugt.

Ein Teil des Artikelgesetzes ist das Arbeitssicherstellungsgesetz. Das Gesetz ist von 1968, kam aber nie zur Anwendung. Kannst du kurz umreißen, worum es in dem Gesetz geht?

Das Arbeitssicherstellungsgesetz ist ein Gesetz aus dem Paket der Notstandsgesetzgebung, welches Regeln aufstellt, wie die Bundesregierung im Kriegs- oder Spannungsfall Aspekte der Infrastruktur und der öffentlichen Daseinsvorsorge aufrechterhalten kann. Damit nicht alle Menschen im Ernstfall fliehen und das öffentliche Leben zusammenbricht, werden dann wehrpflichtige Männer für zivile Berufe "dienstverpflichtet", um den Bedarf an Arbeitskräften für lebens- und verteidigungswichtige Aufgaben zu decken. Dabei werden das Recht auf körperliche Unversehrtheit, die Freiheit der Person, die Freizügigkeit und die Berufsfreiheit massiv eingeschränkt. Ich bin sehr froh, dass es bisher keinen Ernstfall gab, bei dem dieses Gesetz zur Anwendung kam.

Nun sind Änderungen in der Anwendung des Gesetzes vorgesehen. Darunter fällt beispielsweise die Erweiterung der Maßnahmen, die eine Beschränkung des Rechts, ein Arbeitsverhältnis zu beenden, betreffen. Auch das Vorhaben, Frauen zwischen 18 und 50 zum Dienst im zivilen Sanitätsdienst- und Heilwesen zu verpflichten, wird darin erwähnt. Sind das nicht ganz schön viele Möglichkeiten, die Menschen zu bestimmten Tätigkeiten zu verpflichten?

Im Gesetz liest sich das so, dass viele Aufgaben, die im neoliberalen Eifer der vergangenen drei Jahrzehnte privatisiert wurden, nun als nicht mehr gesichert gelten. Wenn man wichtige Technik oder Essen von privaten Firmen transportieren oder organisieren lässt, steht die Bundeswehr vielleicht blank dar, wenn es zum Ernstfall kommt und die Konzern-Manager/innen und einige ihrer Mitarbeiter/innen fliehen.

Das ist Flickschusterei für ein System, welches vielfach privatisiert wurde und deswegen in kritischen Zeiten ggf. nicht mehr funktioniert.

Auch soll das geänderte Arbeitssicherstellungsgesetz dann privatisierte Dienstleistungen im Ausland regeln. 1968 ging man davon aus, dass die Frontlinie entlang der Elbe verläuft, heute sind die wahnwitzigen Szenarien, dass an der Memel und der Neris in Litauen gekämpft wird. Eine Bundeswehr, bei der jahrzehntelang rumprivatisiert wurde, kann nicht garantieren, dass dann in diesem äußerst unrealistischen Szenario jede Soldatin und jeder Soldat genug Essen, Trinken und frische Wäsche bekommt.

Die Dienstverpflichtung von Frauen zwischen 18 und 50 zum Dienst im zivilen Sanitätsdienst- und Heilwesen ist eine Unverschämtheit. Über Dekaden wurde auf allen Ebenen von der freiwilligen Feuerwehr in den kleinen Orten über das Rote Kreuz bis hin zum Technischen Hilfswerk gespart und nun sollen Frauen gezwungen werden, Dienst in der Zivilverteidigung zu tun. Hätten wir nicht Jahrzehnte des neoliberalen Kahlschlags hinter uns, gäbe es genug Menschen, die Erfahrung in diesen Bereichen hätten.

Teil des Gesetzes ist auch, dass die Feldjäger mit deutlich mehr Kompetenzen und Zugriffsrechten auf Daten ausgestattet werden, die im zivilen Leben eigentlich geschützt sind, wie etwa biometrische Daten. Wie ist dieser Vorstoß zu bewerten?

Dieser Aspekt ist ein Skandal! Eine solche Datenverarbeitung gibt es im Bereich der Innenpolitik und Terrorismusbekämpfung ansonsten nicht. Dort sind derartige Regelungen normalerweise sehr viel konkreter. Es fehlt an ausreichender Rechtssicherheit für die Soldat/innen, wie diese Regeln anzuwenden sind. Das sieht mir so aus, als würde das alles mit heißer Nadel gestrickt sein.

In Artikel 12 des Gesetzes heißt es: "Durch Artikel 10 werden die Grundrechte der körperlichen Unversehrtheit, der Freiheit der Person, der Freizügigkeit, der freien Wahl des Arbeitsplatzes und des Schutzes vor Arbeitszwang eingeschränkt". Kannst du diesen Artikel 12 für uns politisch einordnen?

Wie das Beispiel Ukraine seit Ende Februar 2022 zeigt, muss ein Land im Kriegsfall nicht nur Soldat/innen für die Front organisieren, sondern auch das öffentliche Leben in einer Extremsituation. Aus der Ukraine sind unmittelbar nach Kriegsbeginn rund sechs Millionen Menschen geflohen und im Land circa acht Millionen Menschen vor den Kampfhandlungen in andere Gebiete des Landes. Das ist fast jede/r Dritte! Damit Krankenhäuser, Kraftwerke, aber auch einfach der Transport von Lebensmitteln weiterhin funktioniert, gibt es dann diese Dienstverpflichtungen. Anstatt zum Dienst an der Waffe, werden dann Menschen zum Fahren von LKWs oder Betreiben von Kraftwerksanlagen verpflichtet. Das ist eine Extremsituation, sollte uns noch mehr motivieren, uns dafür einzusetzen, dass die Gefahr einer militärischen Eskalation in Europa sinkt.

Würdest du sagen, dass das auf eine Militarisierung der Arbeitswelt hinauslaufen könnte?

Praktisch hoffentlich nicht, da es aktuell kein realistisches Szenario für einen Spannungs- oder gar einen Verteidigungsfall gibt. Die russische Armee ist bisher mit ihren strategischen Zielen in der Ukraine gescheitert und die Behauptung, dass in einem Jahrzehnt Russland ein NATO-Land angreifen könnte, ist Panikmache. Im vergangenen Jahr haben die NATO-Staaten mehr Geld für Rüstung als alle anderen Staaten auf der Welt zusammen ausgegeben.

Es gibt keine Macht, welche die NATO ernsthaft konventionell bedrohen könnte. Das weiß man in Moskau auch.

Da es kein realistisches Szenario für einen Spannungs- oder gar einen Verteidigungsfall gibt, ziehen ja auch nicht die Regeln des Arbeitssicherstellungsgesetzes. Es ist daher eine hypothetische, aber keine praktische Militarisierung der Arbeitswelt.

Das Artikelgesetz greift gezielt in Fragen der Arbeitswelt ein. Zusätzlich haben das Bundesverteidigungsministerium und die Bundesagentur für Arbeit kürzlich vereinbart, dass Menschen ohne Arbeit künftig in den militärischen Bereich der Bundeswehr vermittelt werden sollen, was mindestens aus zwei Gründen ein Problem ist. Zum einen ist es der Bereich, der gerade arbeitsrechtlich dereguliert wird. Zum anderen trägt auch hier die Verschärfung der Zumutbarkeitskriterien für Bürgergeldempfänger dazu bei, dass in einer Zeit, in der die industriellen Kernbelegschaften durch die Deindustrialisierung zunehmend unter Druck geraten, in die Bundeswehr gespült werden. Ist das nicht auch der Militarisierung der Arbeitsmarktstrategie, die die Bundesregierung da vornimmt?

Ja, das ist eine Militarisierung der Arbeitswelt, wie es sie schon lange nicht mehr in Deutschland gegeben hat. Der Beruf der Soldatin oder des Soldaten ist kein Beruf wie ein anderer. Wenn nun die geringen Freiwilligenzahlen für die Bundeswehr damit ausgeglichen werden sollen, dass Arbeitslose in die Truppe gedrängt werden, ist das skandalös.

Jede und jeder hat das Recht, den Dienst an der Waffe zu verweigern und keine Sanktionen vom Jobcenter befürchten zu müssen. Das muss weiterhin gewahrt sein!

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung fand sich vor einigen Wochen ein Hinweis auf ein geheimes Strategiepapier. 1000-Seiten stark trägt es den Titel "Operationsplan Deutschland" und beschreibt den Zeitenwende-Umbau der Gesellschaft bis hin zu den Unternehmen. Was kannst du uns über dieses Strategiepapier sagen?

Ich bin seit diesem Frühjahr Mitglied des Verteidigungsausschusses und seitdem war dieser Plan nur eingeschränkt und geheim Thema im Ausschuss. Ich habe auch Bürgerpost zu dem Thema bekommen. Wegen der Einstufung als geheim kann ich da auch wenig sagen.

Die FAZ spricht bereits von einer schleichenden Mobilmachung. Würdest du dieser Einschätzung zustimmen?

Wenn es um Außen- und Sicherheitspolitik geht, schmeißen in Deutschland viele Journalisten/innen mit Begriffen um sich, die nicht passen. Es ist sicher ein Merkmal für eine schleichende Militarisierung der Gesellschaft, aber eine Mobilmachung sieht anders aus.

Auch in den 1960er und 1970er Jahren gab es Versuche, die Gesellschaft durch ein Gesundheitssicherstellungsgesetz oder durch das Postgesetz zu militarisieren. Das Gesundheitssicherstellungsgesetz scheiterte am Widerstand der Bevölkerung. Das Arbeitssicherstellungsgesetz ist von 1968, kam aber nie zur Anwendung. Heute hat man das Gefühl, dass sich die Militarisierung der Gesellschaft lautloser vollzieht. Hat Die Linke hier eine Aufgabe?

Es war stets Aufgabe der Linken, sich der Militarisierung der Gesellschaft entgegenzustellen. Insofern hat es keine "Zeitenwende" gegeben. Im so genannten "Krieg gegen den Terror" wuchs der Rüstungshaushalt stetig. Von 2001 bis 2021 verdoppelte sich dieser. Wir haben also schon zwei Jahrzehnte schleichende Militarisierung hinter uns und diese hat seit Ende Februar 2022 noch einmal Fahrt aufgenommen. All die Aufrüstung hat aber nicht mehr, sondern weniger Sicherheit gebracht und deswegen stellt sich die Linke heute wie eh und je gegen die Militarisierung der Innen- und Außenpolitik. Wir müssen mehr über kluge Diplomatie, Abrüstung, Rüstungsbegrenzung, vertrauensbildende Maßnahmen, mehr Jugend- sowie Kulturaustausch reden – das ist die Aufgabe der Linken.

Der Gesetzentwurf ist jetzt erstmal nicht über den Kabinettsbeschluss hinausgekommen und wird wohl auch in den letzten Wochen der Ampel nicht mehr im Bundestag besprochen werden. Hat er sich damit erledigt, oder wird er möglicherweise für die kommende Bundesregierung ein Anknüpfungspunkt sein?

So wie sich CDU und CSU in der Opposition aufführen, wird die Militarisierung der Gesellschaft nach der Bundestagswahl noch einmal an Fahrt aufnehmen. Die Wiedereinführung der Wehrpflicht ist dann möglich, wenn Union und SPD miteinander regieren. Da eine CDU-geführte Bundesregierung das Land weiter in Richtung Aufrüstung treiben wird, ist es durchaus realistisch, dass das Artikelgesetz wieder auf die Tagesordnung kommt. Umso wichtiger wird es sein, dass Die Linke in den nächsten Bundestag kommt und sich weiterhin konsequent gegen die weitere Militarisierung der Gesellschaft stellt.

Vielen Dank für das Gespräch, Dietmar!

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Dr. Dietmar Bartsch, MdB, ist Sprecher für Verteidigungspolitik der Gruppe Die Linke und war langjähriger Vorsitzender der Bundestagsfraktion.
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Ulrike Eifler ist Bundessprecherin der BAG Betrieb & Gewerkschaft und Mitglied im Vorstand der Partei Die Linke.

Den Gesetzentwurf findet ihr hier:

Öffentliche Anhörung zum Artikelgesetz

Am Montag, 16. Dezember 2024, fand die dreistündige öffentliche Anhörung des Verteidigungsausschusses zum Artikelgesetz statt. Die Unterlagen der Sachverständigen können hier, ebenso wie Anhörung selbst, nachverfolgt werden:

Deutscher Bundestag - Verbesserung der Einsatz­bereitschaft der Bundeswehr
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung „zur weiteren Stärkung der personellen Einsatzbereitschaft und zur Änderung von Vorschriften für die Bundeswehr“ (20/13488) sollte noch in dieser…