DIE LINKE braucht einen Klassenkompass

DIE LINKE braucht einen Klassenkompass

Gastbeitrag von Ulrike Eifler, Susanne Ferschl und Jan Richter

DIE LINKE ist in einem desolaten Zustand. Dass es so weit kommen konnte, ist auf tiefe gesellschaftliche Krisenprozesse, aber auch auf organisationspolitische Versäumnisse, Führungsschwäche sowie den Verzicht, die Welt der Arbeit zum Bezugspunkt linker Politik zu machen, zurückzuführen. Ulrike Eifler, Susanne Ferschl und Jan Richter schreiben in der Zeitschrift Sozialismus, dass dieser unzureichende Blick auf die Welt der Arbeit zu analytischen Schwächen und einer strategischen Ausrichtung führte, die an den Interessen der abhängig Beschäftigten oft vorbeiging. Ohne die Wiederaufnahme des Klassenkompass, so ihre These, ist die Krise der Partei nicht zu lösen. Wir spiegeln den Beitrag auf unserer Seite.

Als sich 2007 aus WASG und PDS ein neues Parteiprojekt bildete, mit dem die offene Lücke links von der SPD ausgefüllt werden sollte, war das ein historischer Moment. Der rot-grüne Neoliberalismus der Schröder-Regierung hatte dafür die Bedingungen und die Notwendigkeit geschaffen. Insbesondere unter Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern hatte der Angriff auf den Sozialstaat durch die Agenda 2010 für Unmut gesorgt. Viele organisierte Lohnabhängige waren nicht bereit, die Deregulierung des Arbeitsmarktes, die Entwertung von Arbeit und den entstehenden Niedriglohnsektor hinzunehmen. Sie gründeten mit der WASG eine Partei, die die Interessen der abhängig Beschäftigten wieder ins Zentrum der politischen Debatte rückte und ebneten damit den Weg für ein neues gesamtdeutsches linkes Parteiprojekt. Heute, 15 Jahre später, gelten viele dieser Protagonisten von damals parteiintern als »Linkskonservative«. Selbst führende Mitglieder des Parteivorstandes werben aktuell dafür, sie aus der Partei zu drängen. Dass es so weit kommen konnte, ist auf tiefe gesellschaftliche Krisenprozesse, aber auch auf organisationspolitische Versäumnisse, Führungsschwäche sowie den Verzicht, die Welt der Arbeit zum Bezugspunkt linker Politik zu machen, zurückzuführen.

Gesellschaftliche Krisensituation

Die aktuelle multiple Krisensituation stellt linke Parteien in allen kapitalistischen Ländern vor neue Herausforderungen. Nicht nur die ökologische Zerstörung, auch die Gefahr eines tödlichen Atomkrieges markieren eine Zuspitzung, ohne dass die etablierte Politik eine Alternative verfolgt. Gleichzeitig verfestigen sich ökonomische Widersprüche und führen in den Industriegesellschaften zur Entkernung der sozialen Fundamente. Die damit im Zusammenhang stehende Krise der Demokratie ist unübersehbar. Sie führt auch vor dem Hintergrund der Schwäche der Linken zu einem für die Nachkriegszeit einmaligen Ruck nach rechts und ist ohne einen Blick auf die Welt der Arbeit nicht zu verstehen. Denn für demokratische Beteiligung braucht es Selbstachtung und, wenn der Stellenwert der Arbeit sinkt, sinkt auch das Vertrauen in demokratische Prozesse. Nicht zuletzt die aktuelle Autoritarismus-Studie der Otto-Brenner-Stiftung zeigt, dass das Gefühl politischer Ohnmacht auf die Erfahrungen am Arbeitsplatz zurückgeführt werden muss. Es ist daher wenig verwunderlich, dass in Regionen wie Ostdeutschland, wo Schutzrechte von Beschäftigten am meisten abgebaut und betriebliche Mitbestimmung am ärgsten mit Füßen getreten wurde, das Vertrauen in die Demokratie besonders niedrig ist.

Der desolate Zustand der Partei DIE LINKE ist deshalb nicht allein auf individuelles Führungsversagen zurückzuführen, sondern muss eingebettet werden in die aktuelle gesellschaftliche Krisensituation. So hatte DIE LINKE ihre besten Wahlergebnisse und die höchste Mitgliederentwicklung zu einem Zeitpunkt, als sich die sozialen Bewegungen europaweit gegen die neoliberale Bearbeitung der Finanzmarktkrise formierten. Sie sorgten nicht nur in Griechenland, Spanien oder Portugal für einen neuen linken Aufbruch, sondern auch im Rest von Europa. Dieser Aufschwung hat die strategischen Fragen überstrahlt, die eigentlich einer Klärung bedurften: Was ist die Kernaufgabe einer sozialistischen Partei in einer Zeit tiefer sozialer und ökologischer Widersprüche? Wie definiert DIE LINKE in diesen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen ihre Rolle? Und wer sind die zentralen Bündnispartner der Partei?

Partei ohne Strategie

Ein Versuch zur Klärung der Strategie fand statt: Der Parteivorstand organisierte im Februar 2020 in Kassel eine entsprechende Konferenz. Dass in deren Vorfeld über 300 Diskussionsbeitrage aus den unterschiedlichen Gliederungen der Partei verfasst wurden, zeigte das starke Bedürfnis nach strategischer Debatte. Doch die Parteiführung verzichtete darauf, die Diskussionen zu strukturieren. Dieses Vorgehen führte dazu, dass die Debatte ergebnislos verpuffte. Eine Analyse gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse unterblieb und politisch-strategische Fragen wurden nicht priorisiert, sondern beliebig aneinandergereiht diskutiert. Nach einer verlorenen Europa- und mehreren verlorenen Landtagswahlen 2019 war damit zwar dem innerparteilichen Druck nach strategischer Positionsbestimmung nachgegeben worden, eine ernsthafte Behandlung offener Fragen fand jedoch nicht statt.

So ist nicht verwunderlich, dass auf die Strategiekonferenz nichts folgte. Sie bildete gleichermaßen den Auftakt und den Abschluss der Debatte und öffnete den Raum für eine neue Vielstimmigkeit der Partei. Ohne Verabredungen für eine Fortsetzung des strategischen Klärungsprozesses und ohne eine Diskussionskultur, die der Parteipluralität entsprach, schlitterte die DIE LINKE in das Pandemiejahr 2020. Die Bekämpfung der Infektionen stellte die Partei vor große Herausforderungen, denn der Maßnahmen-Staat, der Freiheitsrechte einschränkte, konkurrierte mit dem Gesundheits-Staat, der das völlig unterfinanzierte Gesundheitssystem sich selbst überlies und die medizinischen Tragödien der Patienten ebenso wie eine unverantwortliche Überlastung der Pflegekräfte billigend in Kauf nahm. Beides von links zu kritisieren, hatte seine Berechtigung. Die Parteiführung unterlies es jedoch, die unterschiedlichen Perspektiven und Blickwinkel in den aktuellen politischen Kontext einzuordnen und auf die gesellschaftlichen Krisensymptome, die wie Fliehkräfte an der Verfasstheit der Partei rüttelten, zurückzuführen. Stattdessen führte sie strategische Klärungsprozesse als innerparteilichen Machtkampf zwischen den Strömungen. Inhaltliche Argumente wurden strömungspolitisch verortet, statt sie als strategischen Beitrag zu sehen. Das lies wenig Raum für das eigentlich so notwendige Aufwerfen von Fragen und die gemeinsame Suche nach Antworten.

(c) Sozialismus-Archiv

Welt der Arbeit

In der Linkspartei waren mit Klaus Ernst und Bernd Riexinger gleich zwei prominente Gewerkschafter Vorsitzende. Sie führten die Partei über einen Zeitraum von insgesamt elf Jahren. Dennoch muss festgestellt werden, dass sich die strategische Orientierung auf die Lohnabhängigen und ihre Gewerkschaften in der 15-jährigen Geschichte der Partei verändert hat, wie zuletzt am Ausgang des Mitgliederentscheides zum Bedingungslosen Grundeinkommens unschwer zu erkennen war. Der unzureichende Blick auf die Welt der Arbeit führte in der Konsequenz zu analytischen Schwächen und einer strategischen Ausrichtung, die an den Interessen der abhängig Beschäftigten oft vorbeiging. Während die Arbeitswelt vor tiefgreifenden, historischen Umbrüchen steht, beschränkt sich die Debatte der Partei über die sozial-ökologische Transformation darauf, »Soziales und Ökologisches zusammen zu denken«. Mit dieser Formel wird die Partei jedoch weder den Sorgen vieler Menschen vor Entqualifizierung und Jobverlust gerecht, noch ist sie eine adäquate Analyse der Demokratisierungs- und Finanzierungsfragen, die mit den aktuellen Umbrüchen in der Arbeitswelt und den Herausforderungen für die Gewerkschaften einhergehen.

Es reicht eben nicht aus, einen Gewerkschafter an die Spitze der Partei zu stellen oder eine Handvoll von ihnen in die Parlamente zu schicken. Es braucht auch Strukturen, die der politischen Arbeit der Partei eine regelmäßige gewerkschaftspolitische Routine geben. Die strategischen Herausforderungen, vor denen die Gewerkschaften angesichts von Krise und Inflation stehen, hatten einen politischen Partner notwendig gemacht. Stattdessen trat DIE LINKE oft als Lehrmeisterin auf, etwa als die Abteilung Strategie und Grundsatz in den Leitantrag für den Bundesparteitag 2022 schrieb, dass sich Tarifabschlüsse oberhalb der Inflation bewegen mussten – angesichts einer Inflation von 10% und drückenden Energiekosten in den Unternehmen ein aussichtsloses Unterfangen. Das Beispiel zeigt, die Partei kompensierte ihre ungeklärte Rolle gegenüber den Gewerkschaften mit linksradikalem Voluntarismus. Hohe Inflationsraten machen eine sozialpolitische Rahmung von Tarifauseinandersetzungen notwendig und hätten eine starke LINKE im Parlament gebraucht. An der Seite der abhängig Beschäftigten zu stehen, ist eben deutlich mehr, als sich gelegentlich in Tarifrunden oder bei Streiks solidarisch zu zeigen.

Und so wurde die fehlende Orientierung auf die Welt der Arbeit zum größten Defizit der Partei. Denn wer die Welt des Kapitals schwachen will, muss die Welt der Arbeit stärken. Abhängig Beschäftigte sind eben nicht eine beliebige Zielgruppe unter vielen, sondern zentraler Akteur im Konflikt zwischen den Klassen. Doch während die Gewerkschaften für Millionen von Beschäftigten einen Schutzraum bieten, der verhindert, dass sie in diesem Konflikt an die Wand gedrückt werden, ist der Blick der Partei DIE LINKE auf die Gewerkschaften viel zu häufig durch die Benennung von Defiziten geprägt. Ohne Zweifel müssen Gewerkschaften und linke Parteien ein kritisch-solidarisches Verhältnis zueinander entwickeln. Ohne regelmäßige Zusammenarbeit wirkt die Kritik der Partei an den Gewerkschaften aber schnell überheblich und ignorant gegenüber den Anliegen der Kolleginnen und Kollegen. Der Partei fehlt ein gemeinsamer Blick dafür, dass sozialer Fortschritt auch historisch nie durch lupenreine Beschlüsse zustande kam, sondern immer gemeinsam erkämpft werden musste. Bei allen Widersprüchen – die Arbeit linker Parteien in und mit Gewerkschaften ist und bleibt zentral.

Kampf um Strukturen

Die BAG Betrieb & Gewerkschaft hatte deshalb bereits 2019 eine Debatte über einen gewerkschaftspolitischen Strukturaufbau in der Partei angeregt. Lokale gewerkschaftliche Gruppen, die vor Ort Debatten befördern und den Kontakt zu den lokalen Gewerkschaftsgliederungen suchen sollten, spielten darin eine Rolle. Außerdem die Gründung eines Gewerkschaftsrates auf der Bundesebene sowie auf der Ebene der jeweiligen Landesverbände. Dieser Beschluss im Parteivorstand war weder ein Selbstläufer, noch kam er einstimmig zustande. Dass er am Ende dennoch gefasst wurde, war ein wichtiges Signal. Leider gelang es weder der Parteiführung noch der Partei, dem Gremium eine Rolle im Strategieprozess zuzugestehen. Die Einberufung von Sitzungen blieb unverbindlich, war handwerklich schlecht und führte dazu, dass der Gewerkschaftsrat nach nur elf Monaten in einen ähnlich desolaten Zustand geriet wie die gesamte Partei.

Das liegt auch daran, dass die Welt der Arbeit als Bezugspunkt linker Politik, wie es noch 2007 zur Gründung der Partei der Fall gewesen war, über die Jahre in den Hintergrund gerückt wurde. Mit dem Konzept der verbindenden Klassenpolitik, das als Bereicherung für die Klassendebatte in der Partei gedacht war, wurden Klassenwidersprüche eher verwischt als geschärft. Nicht selten wurden antirassistische, feministische und sogar ökologische Kämpfe völlig beliebig als verbindende Klassenkämpfe eingeordnet. Dass das Interesse an bezahlbarem Wohnraum oder einer wirksamen CO2-Reduktion bis weit in die Mitgliedschaft der Gewerkschaften hineinreicht, ist unbestritten, aber das macht diese Bewegungen noch lange nicht zu Klassenkämpfen. Der Gewerkschaftsrat hätte die Chance eröffnet, die Orientierung der Partei auf die Welt der Arbeit zu festigen und auszubauen. Doch ein regelmäßiger Bericht über die Arbeit des Gremiums in den Sitzungen des Parteivorstandes wäre dazu ebenso notwendig gewesen, wie eine verbindliche Einladungspraxis und eine ernsthafte Vor- und Nachbereitung der Sitzungen.

Strategisches Zentrum

Die BAG Betrieb & Gewerkschaft hatte in den letzten Jahren darauf gedrängt, den parteiinternen Strömungsauseinandersetzungen den Aufbau eines starken strategischen Zentrums entgegenzustellen. Dabei wurde angeführt, dass das Konzept der Einheitsgewerkschaft, das nach den historischen Fehlern ein zentrales Erbe der deutschen Gewerkschaften wurde, auch eine Antwort auf die spaltenden Milieu- und Strömungsdebatten in der Partei sein kann: Eine für alle – weil es die Einheit ist, die stärkt. Insbesondere weil parteiinterne Diskussionen teilweise als Generationendebatten geführt und WASG-Gründer nicht selten als »alte weiße Männer« verunglimpft wurden, warb die BAG Betrieb & Gewerkschaft dafür, nicht zwischen jungen und alten, organizingaffinen und weniger affinen, guten und schlechten Gewerkschaftern zu unterscheiden, sondern das Lager der Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter in seiner Gesamtheit als Stärke und Gewinn für die Partei zu betrachten. Der Jahresauftakt der BAG im Januar 2022 zur Energiepolitik in der Klimakrise mit Klaus Dörre, Bernd Riexinger und Klaus Ernst war ein gelungener Aufschlag. Er zeigte, dass es möglich war, politische Widersprüche auf dem Boden der Grundsolidarität miteinander zu diskutieren, um am Ende festzustellen, dass diese Widersprüche gar nicht so groß und unüberwindbar waren. Von solchen Diskussionsformaten hätte es mehr gebraucht. Vor allem aber hätten sie nicht allein einer Bundesarbeitsgemeinschaft überlassen werden dürfen, sondern zur Praxis des Parteivorstandes werden müssen. Stattdessen sind die Strömungsauseinandersetzungen heute tiefer und unversöhnlicher als je zuvor. Der BAG Betrieb & Gewerkschaft ist es nicht gelungen, der spaltenden Strömungspolarisierung der Partei ein starkes und von einer Gewerkschaftsorientierung getragenes Zentrum entgegenzusetzen – nicht zuletzt, weil die Parteiführung den Wert einer Gewerkschaftsorientierung für die Konsolidierung der Partei nicht erkannte. Vielleicht stünde DIE LINKE heute anders da, hätte der Parteivorstand dem Gewerkschaftsrat als Beratungsgremium eine zentrale Rolle eingeräumt und die Landesverbände nachdrücklich aufgefordert, Gewerkschaftsräte einzuberufen.

Dabei wäre es auch im Hinblick auf programmatische Streitigkeiten hilfreich gewesen, gesellschaftliche Debatten stärker durch die Brille der abhängig Beschäftigten zu betrachten. Nicht ohne Grund existierte in der Arbeiterbewegung die Tradition des proletarischen Feminismus. Sie grenzte sich vom bürgerlichen Feminismus ab, weil die Hausmädchen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen Acht-Stunden-Tag forderten, ein anderes Interesse hatten als ihre Arbeitgeberinnen. Ähnlich verhält es sich heute mit LGBTQ-Themen, mit Fragen von Rassismus oder Homophobie. Sie werden häufig auf einer rein moralischen Ebene und ohne Klassenbezug diskutiert. Die feministische Forderung nach einer Frauenquote in Aufsichtsräten taucht in diesen Debatten dann ebenso gleichberechtigt auf wie die Reduzierung von Ladenschlusszeiten, ein Verbot von Nachtarbeit für alleinerziehende Mütter oder ein flächendeckender Ausbau von Kindergartenplätzen. Anstatt deutlich zu machen, dass Rassismus, Sexismus und Homophobie Gift für die Solidarität in der Klasse sind, beschränkt sich auch DIE LINKE auf einen recht allgemeinen libertären Diskurs. Gepaart mit moralischer Erhebung befördert dieser einen langst fortgeschrittenen Entfremdungsprozess zwischen Partei und Klasse. Nicht alle Kolleginnen und Kollegen mögen lupenreine Feministen oder Antirassisten sein. Politische Interessenvertretung setzt jedoch Diskussionen auf Augenhohe voraus.

Fehlender Klassenkompass

Es ist falsch zu behaupten, DIE LINKE kümmere sich nicht mehr oder zu wenig um die soziale Frage. Richtig ist: DIE LINKE hat ihren Klassenkompass beim Betrachten gesellschaftlicher Entwicklungen verloren. Es war immer die Stärke sozialistischer Parteien, gesellschaftliche Kräfteverhältnisse auf der Basis ökonomischer Zusammenhänge zu analysieren. DIE LINKE aber streitet über die Hohe von Alimentierungen, statt notwendige strukturelle Veränderungen in den Blick zu nehmen. Einen Klassenkompass zu haben, bedeutet, auch den Stolz und die Stärke der abhängig Beschäftigten zu sehen, ihnen bei der Durchsetzung ihrer Interessen eine subjektive Rolle zuzugestehen, die Klasse nicht auf ein heroisches Treppchen zu heben, sondern ihre Widersprüche zur Kenntnis zu nehmen und er bedeutet letztendlich auch, über die Rolle nachzudenken, die eine linke, sozialistische, aus der Tradition der Arbeiterbewegung kommende Partei hat: nämlich nicht für die Klasse zu kämpfen, sondern sie dabei zu unterstützen, ihre Interessen gemeinsam durchzusetzen.

Doch stattdessen mäandern die politischen Themen in ihrer ganzen Bandbreite gleichberechtigt in der Partei umher. Das Subjekt gesellschaftlicher Veränderung ist dabei die Partei, nicht die Klasse. Und weil die Partei immer schwächer wird und das Ziel gesellschaftlicher Veränderung in immer weitere Ferne rückt, entbrennt umso rücksichtsloser ein erbitterter Streit um die richtige Programmatik. Doch die Frage ist nicht, ob Sahra Wagenknecht, Klaus Ernst oder Bernd Riexinger recht haben. Die Frage sollte vielmehr sein: Wie hält es DIE LINKE mit der Klasse? Die aktuelle Diskussion über den Krieg in Osteuropa und wie DIE LINKE darauf reagieren müsse, zeigt überdeutlich: Eine falsche Klassenanalyse führt zu einer falschen Politik. Ein nur moralischer Blick auf den Krieg und das entsetzliche Leid der Menschen in der Ukraine, der die aktuelle Verschiebung geostrategischer Bündnisse ausblendet, führt zu unterkomplexen Antworten. Denn die Sanktionspolitik der Bundesregierung hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen. Der heftig geführte Meinungsstreit in der Partei um die Sanktionspolitik zeigt daher auch, fehlende Klassenverankerung kann in zugespitzten gesellschaftlichen Krisensituationen dazu führen, dass linke Parteien sich von der Klasse entfernen.

Was bleibt?

Ob DIE LINKE sich konsolidieren und den Platz links von der SPD ausfüllen kann, ist ungewiss. Gewiss ist aber, dass DIE LINKE es ohne eine stärkere Orientierung auf die Welt der Arbeit, auf die abhängig Beschäftigten und ihre Gewerkschaften nicht schaffen wird, das strategische Dilemma, in dem sie steckt, zu lösen. Denn es reicht eben nicht, auf Parteitagen vegane Ernährung anzubieten und plastikfreies Merchandising zu beschließen, es braucht vor allem eine Analyse gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse und eine genaue Vorstellung von der eigenen Rolle in der aktuellen Krisensituation. Diese ist komplex, und eine linke Partei in orkanähnlichen Stürmen neu aufzurichten, bedarf einer Kraftanstrengung. Wichtig wäre es daher, sich dieser Kraftanstrengung ebenso bewusst zu sein wie das Risiko ernst zu nehmen, dass die Existenz der Partei DIE LINKE in diesem Prozess auch verspielt werden kann. Deshalb muss die Parteiführung zügig den Strategieprozess einleiten, der lange verschleppt wurde. Es wäre fürwahr ein Strategieprozess, der angesichts der gesellschaftlichen Entwicklungen unter widrigsten Bedingungen stattfinden würde. Gerade deshalb muss er von der Parteiführung auch so organisiert sein, dass er alle Teile der Partei mitnimmt. Findet DIE LINKE nicht bald ihren Klassenkompass zurück, steht es schlecht um ihre Zukunft.

 

Ulrike Eifler und Jan Richter sind Sprecher*innen der Bundesarbeitsgemeinschaft Betrieb & Gewerkschaft (BAG), dem offiziellen Zusammenschluss für Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter in der Partei DIE LINKE. Susanne Ferschl ist Vize-Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE im Bundestag und Mitglied der BAG. Die drei sind offiziell berufene Mitglieder des Gewerkschaftsrates der Partei.

 

Original-Beitrag als Druckvorlage:

DIE LINKE braucht einen Klassenkompass

 

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