„So viele IG Metall-Fahnen habe ich danach nie wieder auf einer Demo gesehen.“
Sind die Gewerkschaften Teil der Friedensbewegung? Selbstverständlich! Doch diese Rolle kommt nicht ohne Widersprüche. Wie gestaltet sich der Kampf um gute Arbeitsbedingungen und die Sicherung der Arbeitsplätze vor Ort? Ulrike Eifler sprach mit einem, der es wissen muss: Alfred Kuffler.
BAG Betrieb & Gewerkschaft: Alfred, du warst über dreißig Jahre hauptamtlich bei der IG Metall beschäftigt, zuletzt Erster Bevollmächtigter der Geschäftsstelle Ludwigshafen-Frankenthal. Arbeitsplatzsicherheit in der Rüstungsindustrie und das zerstörerische Potential der dort hergestellten Produkte war immer eine Frage, die zu Diskussionen und Widersprüchen geführt hat. Wie ist die IG Metall zu deiner Zeit damit umgegangen?
Alfred Kuffler: Es gab in unserer Verwaltungsstelle einen großen Rüstungsbetrieb. Die Vereinigten Flugtechnischen Werke Speyer, kurz VFW Speyer. Später wurde daraus Messerschmitt-Bölkow-Blohm (MBB). Heute nennt sich das Unternehmen PFW Aerospace AG Speyer. Dort wurden Teile für den MRCA Düsenjet produziert.
VFW Speyer, war das nicht der Flugzeugbauer, der Ende der siebziger Jahre geschlossen werden sollte?
So ist es. 1975 bis 1977 war das. Ich war zu diesem Zeitpunkt noch nicht in der Verwaltungsstelle, aber die Akteure von damals kannte ich natürlich gut. 1.600 Arbeitsplätze waren in Gefahr. Die Kolleginnen und Kollegen führten damals einen beispiellosen Arbeitskampf zum Erhalt ihrer Arbeitsplätze und zum Erhalt des Betriebes. Und sie waren erfolgreich damit. Den Betrieb gibt es heute noch, noch dazu mit einem sehr hohen Organisationsgrad.
Wie ist das damals gelungen?
Der Betriebsrat führte den Kampf um das Unternehmen nicht nur auf der betrieblichen Ebene. Er mobilisierte die Bevölkerung, die Kirchen, die Politik. Eine besondere Rolle in diesem Arbeitskampf spielten die Frauen der Arbeiter, die Tag und Nacht das Werk bewachten, um den Abtransport wichtiger Maschinenteile zu verhindern. Der Arbeitskampf in Speyer war so nachhaltig erfolgreich, dass alle weiteren Versuche, das Werk stillzulegen, abgewehrt werden konnten.
Nun ging es ja um die Rettung eines Rüstungsunternehmens. Spielte die Friedensfrage in der Auseinandersetzung eine Rolle?
Natürlich tat sie das. Die Manager des Konzerns wollten das Werk schließen, weil es ihnen unrentabel erschien. Doch die IG Metall war in dem Unternehmen stark aufgestellt. Wir hatten damals über 90 Prozent Organisationsgrad. Mit der Unterstützung der IG Metall mobilisierten die gewerkschaftlichen Vertrauensleute die Bevölkerung in der gesamten Region. Gleichzeitig entwickelte die Belegschaft Alternativen zur Rüstungsproduktion, um nicht mehr davon abhängig zu sein.
Das heißt, ihr habt die große Produktions- und Organisationsmacht bei VFW genutzt, um das Unternehmen und die Arbeitsplätze der Kollegen zu retten. Und gleichzeitig habt ihr in der Belegschaft über Konversion und den zivilen Umbau der Rüstungsproduktion gesprochen. Wie wurde das in der IG Metall diskutiert?
Natürlich wurde die gesamte Auseinandersetzung in großen Teilen durch die IG Metall unterstützt. Und doch gab es damals auch schon Vorstandsmitglieder, denen diese Auseinandersetzung politisch gar nicht gefallen hat. Das hielt aber die Belegschaft nicht davon ab, für ihre Arbeitsplätze zu kämpfen. Es gibt übrigens einen tollen Film über diese Auseinandersetzung. Er heißt „Wachsam Tag und Nacht“ und spielte in den darauffolgenden Jahren eine wichtige Rolle in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit. Es wäre auch heute ratsam, wenn sich der ein oder andere Kollege oder die eine oder andere Kollegin diesen Film einmal anschauen würden.
Aber die Konversionsdebatte wurde dadurch nicht gewonnen, oder? Rüstungsproduktion blieb das Geschäftsfeld des Unternehmens…
Die Umstellung der Produktion auf zivile Produkte ist leider nicht gelungen. Aber es ist gelungen, zumindest einen Teil der Produktion auf alternative Produkte umzustellen. Beispielsweise wurden dann auch Bordküchen oder Luftladesysteme dort gebaut. Gleichzeitig hat die Diskussion die Kolleginnen und Kollegen politisiert und ein Bewusstsein für die Widersprüche geschaffen. Betriebsrat und Vertrauensleute hatten lange vor dem Konflikt immer großen Wert auf politische Gewerkschaftsarbeit gelegt. Das war ihre Stärke und letztlich auch die Voraussetzung für die Konversionsdiskussion.
Es scheint, als spitzten sich unter der aktuellen „Zeitenwende“ die alten Konflikte in der Rüstungsindustrie neu zu.
Du spielst auf das gemeinsame Positionspapier zwischen IG Metall, Rüstungslobby und dem Wirtschaftsforum der SPD an.
Mich würde deine Meinung dazu interessieren. Was denkst du über dieses Papier?
Ich halte es für politisch falsch, so ein Papier ohne inhaltliche Diskussion innerhalb der Mitgliedschaft als Vorstand zu unterschreiben. Deshalb habe ich den Kontrollausschuss der IG Metall beauftragt, dieses Verhalten zu überprüfen. Das Ergebnis der Prüfung liegt dir vor. Die Beschlusslage des letzten Gewerkschaftstages hat klar gezeigt, wir sind Teil der Friedensbewegung.
Das Papier argumentiert ja vor allem industriepolitisch. Ganz wesentlich ist dabei, dass das Sondervermögen „Bundeswehr“ zugleich ein Konjunkturpaket für die Rüstungsindustrie ist. Können die Herausforderungen im Zusammenhang mit dem technologischen Umbau der Industrie dazu führen, dass die IG Metall friedenspolitisch auf Abwege gerät, wenn nicht gleichzeitig gefragt wird, in welcher Gesellschaft wir leben und wofür wir produzieren wollen?
So wie ich das Kerner-Papier verstehe, ist der IG Metall-Vorstand schon auf Abwegen. Noch nicht die gesamte Organisation, aber die Gefahr besteht, gerade aufgrund des Krieges zwischen Russland und der Ukraine und das mit Unterstützung der NATO. Kaum jemand diskutiert über die geschichtliche Entwicklung, die zu diesem Krieg geführt hat. Und wenn es jemand tut - unter anderem auch ich - wird er oder sie sofort als Putin-Freund bezeichnet.
Aktuell ist der ökologische Umbau der Stahlindustrie ein großes Thema. Mit Hilfe von grünem Wasserstoff kann Stahl künftig CO2-neutral hergestellt werden. Wir wissen, dass Stahl - vor allem der Panzerstahl - für die Rüstungsindustrie eine wichtige Rolle spielt. Bräuchten wir grün produzierten Stahl nicht sehr viel dringlicher in Bussen, Zügen und Schienen statt in Panzern?
Die Beantwortung ist einfach: Natürlich brauchen wir den Stahl zur Herstellung von Bussen, Zügen, Straßen und vielem mehr. Allein der Zusammenbruch der Carolabrücke in Dresden zeigt deutlich, dass wir dringend Stahl brauchen. Auch um zivile Produkte zu fördern, anstatt Rüstungsgüter zu produzieren.
Wird in der IG Metall über ihre Rolle als Teil der Friedensbewegung diskutiert?
Ich kann Dir zu aktuellen Diskussionen innerhalb der IG Metall nichts sagen, weil ich schon seit längerem nicht mehr in die Prozesse eingebunden bin. Ich gehe aber davon aus, dass 90 Prozent unserer Mitglieder das Positionspapier nicht kennen und dass es nur wenige, kritische Diskussionen gibt. Trotzdem: Die Gewerkschaften sind und bleiben ein Teil der Friedensbewegung. Es liegt in unserer Verantwortung, dies wieder stärker in der Mittelpunkt zu rücken. Wenn es auch dem ein oder anderen unserer VorstandskollegInnen scheinbar nicht gefällt. Wenn wir den Einsatz für den Frieden vergessen, haben wir aus der Geschichte nichts gelernt, in der wir für Frieden, Freiheit und soziale Gerechtigkeit einstanden. Geben wir diese Ziele auf, werden wir unserer gesellschaftlichen Verantwortung nicht mehr gerecht.
Der Blick auch in die jüngere Geschichte bestätigt das ganz eindeutig. Das ehemalige Vorstandsmitglied Georg Benz sprach 1980 auf der Bonner Hofgartenwiese. 2003 während des Irakkrieges rief die IG Metall zur großen Gegendemonstration in Berlin mit auf. Trotzdem gibt es heute bislang keinerlei Verlautbarungen zur Stationierung der Mittelstreckenraketen, stattdessen aber ein gemeinsames Papier mit der Rüstungslobby. Was ist da innerhalb der IG Metall passiert?
Was inhaltlich bei der IG Metall passiert ist, kann ich dir leider nicht beantworten, da ich seit 14 Jahren aus diesem inhaltlichen Diskussionsprozess draußen bin. Trotzdem meine Einschätzung: Es werden meiner Meinung nach zu viel sachbezogene Probleme diskutiert, was unbestritten wichtig ist. Aber es mangelt aus meiner Sicht an der inhaltlichen, politischen Diskussion, und zwar bevor die Sachprobleme bearbeitet werden.
Am 3. Oktober findet in Berlin eine große Friedensdemonstration statt. Ist das ein Anlass, als Gewerkschafterin oder Gewerkschafter auf die Straße zu gehen?
Natürlich ist es das. Es ist notwendig, am 3. Oktober auf die Straße zu gehen und in Berlin für Frieden und Abrüstung - nicht zu verwechseln mit Aus-/ Aufrüstung - zu demonstrieren. Es gibt viele IG Metall-Verwaltungsstellen und Bezirke, die dafür mobilisieren. Zur Erinnerung: Zur Friedensdemo am 10. Oktober 1981 rief der Vorstand der IG Metall ausdrücklich nicht zur Demo auf, untersagte sogar den Teilnehmern der IG Metall, Fahnen mitzunehmen, was zum Gegenteil führte. Auch dass Redner wie Georg Benz dort auftraten, war nicht gerne gesehen, änderte aber nichts an der Tatsache, dass er dort redete. So viele IG Metall-Teilnehmer mit IG Metall-Fahnen habe ich zuvor und danach nie wieder auf einer Demonstration gesehen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Artikel wurde am 22. Dez. 2024 gedruckt. Die aktuelle Version gibt es unter https://betriebundgewerkschaft.de/friedenspolitik/2024/09/so-viele-ig-metall-fahnen-habe-ich-danach-nie-wieder-auf-einer-demo-gesehen/.