„Ich habe überlebt, weil ich gegangen bin“

Ilya Zaripov meldet sich im Alter von 23 Jahren zum Kriegsdienst und kommt zum 12. Panzerregiment nach Luhansk. Trotz aller Gefahren beschließt er zu fliehen. Unsere Bundessprecherin Ulrike Eifler sprach mit dem russischen Deserteur über seine Kriegserfahrungen und die Entscheidung zur Flucht.

„Ich habe überlebt, weil ich gegangen bin“
Foto: Ilya Zaripov

Im Juli 2024 meldet sich der Russe Ilya Zaripov im Alter von 23 Jahren zum Kriegsdienst. Er kommt zum 12. Panzerregiment nach Luhansk. Doch die Zeit an der Front ist anstrengend und zermürbend. Trotz aller Gefahren beschließt er zu desertieren. Er reist mit dem Bus nach Weißrussland, fliegt nach Georgien, durchquert die Türkei und Marokko und erreicht schließlich Frankreich, wo er politisches Asyl beantragt. Unsere Bundessprecherin Ulrike Eifler sprach mit dem russischen Deserteur über seine Kriegserfahrungen und die Entscheidung zur Flucht.

BAG Betrieb & Gewerkschaft: Ilya, kannst du uns zu Beginn etwas über dich erzählen – wie hast du vor deiner Einberufung in die russische Armee gelebt?

Ilya Zaripov: Ich bin 24 Jahre alt. Vor meiner Einberufung arbeitete ich als Vertriebsleiter und war zuletzt bei der Tinkoff Bank beschäftigt. Ich bin in Moskau geboren und aufgewachsen. Mein Leben war relativ normal und konzentrierte sich auf Arbeit und Privates. Ich war so gut wie gar nicht an politische Aktivitäten interessiert.

Was ging dir durch den Kopf, als der Krieg begann?

Anfangs habe ich mich nicht besonders für Politik interessiert. Ereignisse wie die Krim-Annexion interessierten mich nicht, und ich verfolgte auch die Nachrichten nicht besonders aufmerksam. Doch als die Militärübungen begannen und die Diskussionen über einen möglichen Krieg aufkamen, verfolgte ich die Ereignisse genauer. Mir wurde klar, ein Kriegsausbruch würde mich direkt treffen.

Was heißt das, du verfolgtest die Ereignisse genauer?

Als ich bei Übungen an der Grenze Erkennungszeichen an Fahrzeugen sah, war mir sofort klar, dass das Kriegsvorbereitungen waren. Als jemand, der bereits in der russischen Armee gedient hatte, wenn auch nur kurz, wusste ich, dass solche Markierungen nicht ohne Grund angebracht werden würden. Die meisten Menschen in meinem Umfeld allerdings schienen sich nicht sonderlich darum zu kümmern. Selbst unter Freunden wurde nur selten und oberflächlich gesprochen. Mein Eindruck war, dass nur wenige wirklich die drohende Kriegsgefahr sahen. Selbst Experten waren sich damals unsicher. Für mich jedoch waren die Zeichen eindeutig, und ich kam mir manchmal wie ein Analytiker vor, der die Ereignisse beobachtet, bevor irgendjemand sonst ihre Bedeutung erkennt.

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Das Interview ist zuerst bei etos.media erschienen - dem Portal für kritischen, unabhängigen und freien Journalismus. Wir spiegeln es auf unserer Seite.

Hattest du Kontakt zu Menschen aus der Ukraine?

Ich hatte nicht viele ukrainische Freunde, aber ich hatte einige Kontakte zu ukrainischen Flüchtlingen, die entweder zu Beginn des Krieges oder später geflohen waren. Für sie war der Krieg unmittelbar und furchterregend. Städte wurden bombardiert; die Zivilbevölkerung lebte in ständiger Angst. Ihre Panik, Wut und das Gefühl des Verrats waren deutlich spürbar. In Moskau und anderen Teilen Russlands hingegen fühlte sich der Krieg weit weg an; viele Menschen spürten ihn nicht direkt. Der Unterschied war krass: In der Ukraine war der Konflikt allgegenwärtig, während er in Russland weitgehend unsichtbar war.

Hast du zu diesem Zeitpunkt einen Gedanken daran verschwendet, selbst Soldat zu werden und zu kämpfen?

Nein, überhaupt nicht. Anfangs dachte ich, der Krieg wäre schnell vorbei – vielleicht nicht in drei Tagen, vielleicht nicht in einem Monat. Aber länger als sechs Monate würde er nicht dauern. Deshalb erschien es mir nicht sehr wahrscheinlich, dass man mich einberufen würde. Auch deshalb nicht, weil die Regierung sich zu diesem Zeitpunkt noch zurückhielt, die Menschen direkt zu rekrutieren. Erst als die russischen Truppen in der Umgebung Kiews ankamen und sich der Konflikt hinzog, ahnte ich, worauf das hinauslaufen würde. Mir war klar, dass ich zur ersten Reservekategorie gehörte und damit rechnen musste, eingezogen zu werden. Im Juli 2024 meldete ich mich schließlich freiwillig.

Du hast dich freiwillig gemeldet?

Die öffentliche Propaganda, aber auch die Gespräche mit Verwandten und vor allem ein starker sozialer Druck suggerierten, der Dienst in der Armee sei „ehrenhaft“. In einer Bank weiterzuarbeiten und ein normales Leben zu führen dagegen sei sinnlos. Diese Kombination aus persönlichem und gesellschaftlichem Druck beeinflusste schließlich meine Entscheidung. Ja, ich meldete mich freiwillig. Niemand zwang mich physisch, aber Propaganda und gesellschaftlicher Einfluss waren allgegenwärtig. Das Narrativ war klar: Die Teilnahme am Krieg bedeutete, Teil der „Elite“ im neuen Russland zu sein. Alle um mich herum schienen es zu glauben. Anfangs dachte ich, ich könnte dem irgendwie aus dem Weg gehen, aber gesellschaftliche Erwartungen, familiärer und staatlicher Druck machten das fast unmöglich. Im August 2024 unterschrieb ich den Vertrag und wurde an die Front geschickt.

Wie hast du dich da gefühlt?

Ich habe nichts Besonderes empfunden. Ich bin kein sehr emotionaler Mensch. Mir war von Anfang an klar, dass der Einsatz an der Front im Grunde ein Glücksspiel ist: überleben oder sterben. Nur das Glück zählte, nicht Können, nicht Vorbereitung. Ein zufälliges Geschoss, ein unerwarteter Drohnenangriff oder eine kleine Fehleinschätzung konnten ein Leben augenblicklich beenden. Ich habe diese Tatsache mental akzeptiert, ohne Panik oder emotionale Reaktion.

Wo genau wurdest du eingesetzt?

Ich diente im 12. Panzerregiment der 1. Panzerarmee und operierte auf der Swatowski-Achse in Luhansk. Meine Aufgabe war administrativer Natur. Ich arbeitete im Hauptquartier und kümmerte mich um Berichte, Dokumentation und die Abrechnung von Drohnen und Munition. Ich organisierte Personalbewegungen, Ausbildungspläne und die Erfassung neuer Rekruten. Obwohl ich eine Waffe trug, hatte ich nie scharfe Munition bei mir, denn meine Arbeit fand ausschließlich im Büro an der Front statt.

Wie hast du den Krieg erlebt?

Das Leben an der Front war anstrengend und zermürbend. Meine Tage dauerten 14 bis 16 Stunden, ohne Wochenenden und mit wenig Schlaf. Ich leitete ein Regiment von etwa 140 Mann und koordinierte ständig Operationen und Logistik. Versorgungsprobleme traten häufig auf. Drohnen waren knapp, die Ausrüstung veraltet und die Kommunikationssysteme unzuverlässig. Viele meiner Kollegen waren aggressiv oder kriminell, was zu einer angespannten Atmosphäre führte. Offiziere hatten die volle Befehlsgewalt, und kleine Fehler konnten zu Tod oder Bestrafung führen. Psychisch war die Situation extrem belastend. Körperlich anstrengend, emotional erschöpfend und moralisch herausfordernd.

Kannst du etwas ausführen, warum die Atmosphäre so angespannt war?

Die Atmosphäre insgesamt war angespannt, düster und bedrückend. Die Soldaten waren erschöpft und traumatisiert. Die meisten wünschten sich nur ein Ende des Krieges, obwohl einige davon profitierten. Am schlimmsten war es, den Tod von Freunden und Kollegen mitzuerleben, oft durch vermeidbare Fehler. Mitzuerleben, wie Gemeinschaften zerstört und Leben vergeudet wurden, war unerträglich. Offiziere missbrauchten oft ihre Macht, und die Angst vor willkürlichen Strafen war allgegenwärtig. Jeder Tag fühlte sich an, als würde man im Schatten von Bedrohung und Gewalt leben.

Wie wirkte sich das auf die Moral in der Truppe aus?

Angst, Frustration und Apathie dominierten. Soldaten kämpften nicht, weil sie es wollten, sondern weil Verweigerung Strafe oder Tod bedeutete. Heldentum, Stolz und Zielstrebigkeit fehlten weitgehend. Zurück blieben nur Erschöpfung, Traumata und negative Emotionen.

Warum hast du dich entschieden zu desertieren und wie gefährlich war das?

Ich habe mich entschieden zu gehen, weil mir klar wurde, dass die Teilnahme an diesem Krieg moralisch falsch war. Um mein Gewissen und meine geistige Gesundheit zu bewahren, musste ich woanders ein neues Leben beginnen. Die Flucht war gefährlich. Wäre ich erwischt worden, hätte man mich gefoltert, hingerichtet oder in einen tödlichen Angriff geschickt. Praktisch war Flucht jedoch möglich. Ich reiste mit dem Bus von Russland nach Weißrussland, flog nach Georgien, durchquerte die Türkei und Marokko und erreichte schließlich Frankreich, wo ich politisches Asyl beantragte. Eine Rückkehr nach Russland hätte den sicheren Tod bedeutet.

Wie hat sich dein Leben seit der Flucht verändert?

Es hat sich komplett verändert. Alles Vertraute ist weg. Ich passe mich einer neuen Kultur, neuen sozialen Normen und einer neuen Sprache an, was eine große Herausforderung darstellt. Das Warten auf die Entscheidung über meinen Asylantrag ist stressig. Ich kann noch nicht offiziell arbeiten, und meine Mittel sind begrenzt. Trotz alledem fühle ich mich im Vergleich zur Front frei und sicher. Ich weiß, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe, auch wenn das Leben jetzt schwierig ist. Freiheit und die Fähigkeit, ohne Angst zu leben, belohnen alle Strapazen.

Was würdest du den russischen Soldaten sagen, die noch kämpfen?

Es gibt einen Weg heraus. Trefft die richtigen Entscheidungen und stellt euer Leben und das Wohl eurer Familie über die Ambitionen der Kriegsherren. Viele Leben sind bereits umsonst verloren gegangen. Denkt darüber nach, was ihr tut. Euer Leben zählt mehr als die Pläne der Mächtigen. Ich hoffe, ihr findet den Mut zu gehen, euch selbst zu retten und dazu beizutragen, diesen Krieg zu beenden.

Lieber Ilya, danke für deine Geschichte. Ich wünsche dir für dein neues Leben in Frankreich alles Gute.

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Ulrike Eifler arbeitet für die IG Metall und ist Bundessprecherin der BAG Betrieb & Gewerkschaft