Gewerkschaften in der Zeitenwende

In einer fünfteiligen Serie beleuchten Ulrike Eifler, Susanne Ferschl und Jan Richter die Auswirkungen der Zeitenwende auf die abhängig Beschäftigten und werben dafür, dies in den Gewerkschaften stärker zu diskutieren.

Gewerkschaften in der Zeitenwende
Foto von Hasan Almasi / Unsplash

Seit drei Jahren dient der völkerrechtswidrige Einmarsch Russlands in die Ukraine als Begründung für eine spezifische Interpretation einer geänderten Weltlage: Die Bedrohung Europas durch Russland. Für die Scholz-Regierung gab es unter dem Stichwort Zeitenwende nur eine Antwort: Mehr Rüstung bringt mehr Sicherheit. Damit wurde die Zeitenwende als "Primat der Sicherheitspolitik" zu einer Durchsetzungsstrategie, die in zwei Richtungen wies: Eine "innere Zeitenwende", die im Zusammenhang mit einer umfassenden Militarisierung der Gesellschaft stand und die mediale Diskurshoheit ebenso einschloss wie den Abbau des Sozialstaates. Aber eben auch die "Zeitenwende nach außen". Sie sollte die Weichen für die neue globale Führungsrolle Deutschlands in den aktuellen geopolitischen Zuspitzungen stellen. Gleichzeitig ging die politische Klasse dazu über, zum Bruch der eigenen Regeln aufzurufen. 

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Ulrike Eifler ist Mitglied bei der IG Metall. Sie ist Bundessprecherin der BAG Betrieb & Gewerkschaft und Mitglied im Parteivorstand der Partei Die Linke.
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Susanne Ferschl ist Mitglied der Gewerkschaft NGG. Sie war bis zur Bundestagswahl 2017 GBR-Vorsitzende bei Nestlé. Von 2017 bis 2025 war sie Mitglied im Deutschen Bundestag und arbeitsmarkt- und gewerkschaftspolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke.
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Jan Richter ist Mitglied bei ver.di. Er war bis 2015 BR-Vorsitzender bei H&M und zuletzt Koordinator in der Bundestagsfraktion. Er ist ebenfalls Bundessprecher der BAG Betrieb & Gewerkschaft.

Teil 1: Die Gewerkschaften müssen sich zu Wort melden

Bereits in den ersten Tagen nach der Bundestagswahl zeigte sich schnell, die Zeit des behäbigen 'Zeitenwende'-Staatsumbaus zu mehr Repression und ideologischer Reaktion geht zu Ende. Statt 'Armut per Gesetz' durch die 'Agenda 2010' folgt nun 'Verelendung durch Militarisierung' per 'Agenda 2030'. Noch am Wahlabend stellte der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil die im sozialdemokratischen Diskurs über Aufrüstungsfragen eher für Besonnenheit stehende Olaf Scholz und Rolf Mützenich in die zweite Reihe und sich selbst sowie den Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius nach vorn. Schon in den darauffolgenden Tagen folgten die ersten Sondierungsgespräche mit der Union – mit dem Ergebnis, dass beide bereits eine Woche nach der Wahl an die Presse treten und eine erste Einigung verkünden konnten: Die Schuldenbremse wird für alle Rüstungsausgaben ab einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts gelockert. "Was auch immer nötig ist", kommentierte Friedrich Merz den Coup, der sowohl im Hinblick auf die Höhe als auch im Hinblick auf die Dauer unbegrenzte Rüstungsausgaben möglich machen soll. Aber nicht nur die SPD macht ihren Frieden mit dem Aufrüstungspaket. Auch die Gewerkschaften laufen Gefahr, in die "Infrastrukturfälle" neoliberaler Ökonomen zu tappen:

Gewerkschaften in der Zeitenwende - Die Gewerkschaften müssen sich zu Wort melden - Etos.Media
Teil I der 5-teiligen Reihe Gewerkschaften in der Zeitenwende von Ulrike Eifler, Susanne Ferschl und Jan Richter. Seit drei Jahren dient der völkerrechtswidrige Einmarsch Russlands in die Ukraine als Begründung für eine spezifische Interpretation einer geänderten Weltlage: Die Bedrohung Europas durch Russland. Für die Scholz-Regierung gab es unter dem Stichwort…

Teil 2: Äußere Zeitenwende und die Verschiebung der Weltbeziehungen

Die Geschichte lehrt: Gewerkschaftliche Kämpfe in Zeiten von Aufrüstung und Krieg haben es schwer. So wird der ökologische Umbau der Industrie nur gelingen, wenn die dafür notwendigen 600 Milliarden Euro nicht im Rüstungshaushalt versenkt werden. Die Auseinandersetzung um die Ausweitung der betrieblichen Mitbestimmung ist zum Scheitern verurteilt, wenn die Gesellschaft um uns herum autoritärer wird. Die Daseinsvorsorge wird weiter unter Druck geraten und Stück für Stück der breiten Bevölkerung entzogen werden. Die seit mehr als einem Vierteljahrhundert andauernde Aussetzung der Vermögensteuer zeigt: Umverteilung ist schon zu Friedenszeiten schwierig, in Zeiten, in denen Krieg und Aufrüstung Konjunktur haben, ist ihre Wiedereinführung noch viel schwieriger. Und schließlich geraten all die Werte, für die die Gewerkschaften stehen – Respekt, Solidarität, Gerechtigkeit, Internationalismus, Frieden – in der Zeitenwende unter die Räder von Aufrüstung, Nationalismus und Kriegstüchtigkeit. Gewerkschaften brauchen ein Umfeld der Entspannungspolitik, damit sie ihre Rolle als Interessenvertretung ausfüllen können:

Gewerkschaften in der Zeitenwende - Äußere Zeitenwende und die Verschiebung der Weltbeziehungen - Etos.Media
Teil II der 5-teiligen Reihe Gewerkschaften in der Zeitenwende von Ulrike Eifler, Susanne Ferschl und Jan Richter. (zu Teil I) Deutschland als geopolitischer Akteur Die Geschichte lehrt: Gewerkschaftliche Kämpfe in Zeiten von Aufrüstung und Krieg haben es schwer. So wird der ökologische Umbau der Industrie nur gelingen, wenn die dafür notwendigen 600 Milliarden Euro nicht im Rüstungshaushalt…

Teil 3: Innere Zeitenwende: Ein Kampf gegen Demokratie und Mitbestimmung

Nach innen ist die Unterordnung aller gesellschaftlichen Bereiche unter die Sicherheitspolitik der entscheidende Paradigmenwechsel. Auf dem Feld der Sozialpolitik wird aus der bloßen Begrifflichkeit eine Umverteilungsstrategie, die zu Lasten der arbeitenden Klassen geht: Zeitenwende als Begründung für den Abbau des Sozialstaates, denn die neue geopolitische Rolle Deutschlands muss finanziert werden. 66,8 Milliarden Euro hatte sich die Scholz-Regierung 2023 die Ausstattung der Bundeswehr kosten lassen. Ein Anstieg um fast 16 Prozent in nur zwölf Monaten. Damit rangierte die Bundesrepublik auf Platz sieben der Weltrangliste. Bis Mitte der 2030er Jahre sollen – geht es nach Pistorius – dann 130 bis 150 Milliarden Euro jährlich für Rüstung ausgegeben werden. Dass die Bevölkerung, für die diese haushaltspolitische Schwerpunktsetzung mit schweren sozialen Einschnitten einhergehen wird, nicht einmal die Möglichkeit hat, durch ihr Wahlverhalten einen Politikwechsel herbeizuführen, zeigt, die Zeitenwende ist nicht nur ein Angriff auf den Sozialstaat, sondern auch auf die repräsentative Demokratie. Eine solche Entwicklung aber gefährdet nicht nur demokratische Strukturen. Sie wirkt wie Gift für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, das sich auch über die Werkstore tief hinein in die Arbeitswelt ausbreitet. Denn wenn das gesellschaftliche Klima autoritärer wird, hat das Auswirkungen auf die strukturelle Ungleichheit in den Arbeitsbeziehungen:

Gewerkschaften in der Zeitenwende - Innere Zeitenwende: Ein Kampf gegen Demokratie und Mitbestimmung - Etos.Media
Teil III der 5-teiligen Reihe Gewerkschaften in der Zeitenwende von Ulrike Eifler, Susanne Ferschl und Jan Richter. (zu Teil I, Teil II) Militaristische Durchdringung der Gesellschaft Nach innen ist die Unterordnung aller gesellschaftlichen Bereiche unter die Sicherheitspolitik der entscheidende Paradigmenwechsel. Auf dem Feld der Sozialpolitik wird aus der bloßen Begrifflichkeit eine Umverteilungsstrategie, die zu Lasten der arbeitenden Klassen…

Teil 4: Sozialpolitische Zeitenwende als Folge der militärpolitischen Zeitenwende

Innenpolitisch geht die Zeitenwende mit einer erheblichen Bedrohung des sozialen Friedens einher. "Hochrüstung macht generell die Reichen reicher und die Armen zahlreicher. Weil dem Wohlfahrtsstaat fehlt, was ein Rüstungsstaat an Mehrheiten verschlingt, folgt der militärpolitischen Zeitenwende nun fast zwangsläufig auch eine sozialpolitische Zeitenwende", schreibt der Armutsforscher Christoph Butterwegge. Die Scholz-Regierung hatte mit der Nationalen Sicherheitsstrategie den politischen Willen zu einer über Sozialabbau finanzierten Aufrüstung verkündet. "Angesichts der erheblichen aktuellen Herausforderungen an unsere öffentlichen Haushalte streben wir an, die Aufgaben dieser Strategie ohne zusätzliche Belastung des Bundeshaushaltes insgesamt zu bewältigen".2 Viel Spielraum für Interpretation lässt diese Formulierung nicht. Das Papier sei der Vorbote für eine grundlegende gesellschaftliche Debatte über nationale Prioritäten, an deren Ende entweder die Kürzung sozialer Leistungen oder das Scheitern der Zeitenwende stünde, frohlockt der Informationsdienst zur Sicherheitspolitik:

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Teil IV der 5-teiligen Reihe Gewerkschaften in der Zeitenwende von Ulrike Eifler, Susanne Ferschl und Jan Richter. (zu Teil I, Teil II, Teil III) Sozialpolitische Zeitenwende Innenpolitisch geht die Zeitenwende mit einer erheblichen Bedrohung des sozialen Friedens einher. „Hochrüstung macht generell die Reichen reicher und die Armen zahlreicher. Weil dem Wohlfahrtsstaat fehlt, was ein Rüstungsstaat an Mehrheiten verschlingt,…

Teil 5: Zwischen Rüstungstransformation und Kriegswirtschaft

Mit Beginn des Ukraine-Krieges haben sich die Wertschöpfungsketten der Rüstungsindustrie verdichtet und stabilisiert. Während der Krieg für viele Industriezweige aufgrund von Markteinbrüchen oder gestiegenen Energiekosten zum Krisenbeschleuniger wurde, beschert er der Rüstungsindustrie einen beispiellosen Aufwärtstrend. Rekordgewinne winken und die Rüstungsbranche spricht von der größten Einstellungswelle seit Ende des Kalten Krieges. So bemüht sich der deutsch-französische Rüstungskonzern KNDS derzeit darum, ab März 2026 auf dem Gelände des Alstom-Konzerns in Görlitz gepanzerte Fahrzeuge zu produzieren und zu warten. Letzterer hatte erst kürzlich das Ende des Schienenbaus in der deutsch-polnischen Grenzstadt angekündigt, und KNDS hat bereits signalisiert, den 700 überwiegend jungen und hochqualifizierten Beschäftigten eine Perspektive geben zu wollen. Nicht zufällig ordnet der Tagesspiegel die Pläne des Rüstungsproduzenten als "industriepolitisches Großprojekt mit verteidigungspolitischer Relevanz" ein. Auch der Automobilzulieferer Continental und der Rüstungskonzern Rheinmetall haben eine Kooperation beschlossen. Ein Beispiel, das Schule machen könnte, denn während die deutsche Automobilindustrie knietief in einer Strukturkrise steckt, erleben die Rüstungshersteller durch das Sondervermögen Bundeswehr ein nie dagewesenes Wachstum – nicht zuletzt, weil das Verteidigungs- und das Finanzministerium nach Angaben des Handelsblattes Druck in Richtung Aufrüstung machen:

Gewerkschaften in der Zeitenwende - Zwischen Rüstungstransformation und Kriegswirtschaft - Etos.Media
Teil V der 5-teiligen Reihe Gewerkschaften in der Zeitenwende von Ulrike Eifler, Susanne Ferschl und Jan Richter. (zu Teil I, Teil II, Teil III, Teil IV) Rüstungstransformation Mit Beginn des Ukraine-Krieges haben sich die Wertschöpfungsketten der Rüstungsindustrie verdichtet und stabilisiert. Während der Krieg für viele Industriezweige aufgrund von Markteinbrüchen oder gestiegenen Energiekosten zum Krisenbeschleuniger wurde, beschert er der…

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