„Viele Beschäftigte sind heute schon am Limit.“
Ende Mai beging die Gewerkschaft GEW ihren 30. Gewerkschaftstag. Im Interview berichtet Andreas Keller, wiedergewähltes Vorstandsmitglied, über den Kongress und die aktuellen Herausforderungen der Bildungsgewerkschaft. Das Gespräch hat unser Bundessprecher Jan Rübke geführt.

BAG Betrieb & Gewerkschaft: Zunächst einmal einen herzlichen Glückwunsch zu Deiner erneuten Wahl in den Vorstand. Der 30. Gewerkschaftstag der GEW fällt in eine Zeit harter Angriffe auf die Gewerkschaften. Soziale Errungenschaften wie der 8-Stunden-Tag werden angegriffen. Es drohen gerade im Öffentlichen Dienst Kürzungen nach der Devise „Drohnen statt Butter“. Wie spiegelte sich das in den Debatten wieder?
Andreas Keller: Vielen Dank für die Glückwünsche! Der Gewerkschaftstag fand 14 Tage nach der Vereidigung von Friedrich Merz (CDU) zum Bundeskanzler statt, die Erwartungen und Befürchtungen an die neue Bundesregierung zogen sich durch viele Delegiertenreden.
Dass die schwarz-rote Koalition das Arbeitszeitgesetz angreifen und 13-Stunden-Tage einführen möchte, ist ein starkes Stück. Denn viele Beschäftigte sind heute schon am Limit. Das Arbeitszeitgesetz ist eine zivilisatorische Errungenschaft, welches die Gewerkschaften erkämpft haben und verteidigen werden.
Beim Thema Arbeitszeit liegt ja so einiges im Argen.
Richtig. Für viele Kolleg:innen im Organisationsbereich der GEW stellt sich nämlich ein ganz anderes Problem: Für Lehrkräfte und Schulen, aber auch für die allermeisten Wissenschaftler:innen an Hochschulen gibt es nach wie keine Arbeitszeiterfassung – obwohl nicht nur der Europäische Gerichtshof, sondern auch das Bundesarbeitsgericht diese zwingend verlangen. Ob in Gesetzen oder Tarifverträgen 38, 40 oder 42 Stunden stehen, ist für sie zweitrangig, da sie ohnehin deutlich länger arbeiten, aber dafür keinen Ausgleich erhalten. Das hat die GEW mit mehreren Arbeitszeitstudien nachgewiesen. Wir erwarten daher von Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas, dass sie die Pflicht zur Zeiterfassung endlich im Arbeitszeitgesetz verankert und gleichzeitig die Arbeitszeitsouveränität und von Pädagog:innen und Wissenschaftler:innen so weit wie möglich zu schützen.

Im Herbst stehen klassisch die Haushaltberatungen im Bundestag an. Da habt ihr als GEW doch sicher auch ein Auge drauf, oder?
Was die Haushaltssituation im öffentlichen Dienst angeht: Ich befürchte, dass wir erst am Anfang dramatischer Kürzungen der Budgets für Bildung, Wissenschaft, öffentliche Infrastruktur und Daseinsvorsorge stehen. Der so genannte Investitionsbooster ist ein Programm zur einseitigen steuerlichen Entlastung von Unternehmen, das nichts zur Stärkung der Kaufkraft der Verbraucher:innen beiträgt, aber in Folge der Steuermindereinnahmen viele Länder und Kommunen unter Druck setzen wird .
Insbesondere aber wird die massive Aufrüstung, die sich die Koalition auf die Fahnen geschrieben hat, zunehmend zu Lasten von Bildungs- und Sozialausgaben gehen. Fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Militär auszugeben würde hieße den Verteidigungshaushalt des Bundes zu versechsfachen – das ist wirklich irre. Selbst wenn die einseitige Lockerung der Schuldenbremse für Militärausgaben sowie das Sondervermögen Bundeswehr keine unmittelbare Kürzung anderer Haushaltsposten erzwingen, müssen die Zinszahlungen für die Kredite aus ordentlichen Haushalt bezahlt werden – und irgendwann werden die Banken auch ihre Anleihen zurückhaben wollen.

Gab es auf eurem Gewerkschaftstag nicht auch einen Antrag des Hauptvorstands zur Friedenspolitik?
Ja, aber leider hat der Gewerkschaftstag diesen umfassenden Antrag aus Zeitgründen nicht beraten, sondern an den Hauptvorstand zurücküberwiesen. Immerhin aber hat sich der Kongress klar gegen die Militarisierung von Hochschule und Forschung und für den Schutz und Ausbau von Zivilklauseln positioniert.
Auch wenn die Verabschiedung noch durch das alte Parlament, aber nach der Wahl problematisch war: Das 500 Milliarden Euro starke Sondervermögen Infrastruktur und Klimaneutralität ist ein Lichtblick. Es eröffnet Bund, Ländern und Kommunen neue Handlungsspielräume – wenn das Geld schnell dort investiert wird, wo es gebraucht wird.
Kannst du den Finanzbedarf beziffern?
Allein für den Hochschulbau haben die Wissenschaftsminister*innen der Länder den Sanierungsstau inzwischen auf über 140 Milliarden beziffert. Aber auch in anderen Bildungsbereichen ist der Investitionsbedarf erheblich – marode Schultoiletten sind dafür geradezu sprichwörtlich geworden. Und es stürzen Brücken ein, Züge bleiben regelmäßig liegen, der Aufenthalt in vielen öffentlichen Gebäuden ist in den klimakrisenbedingt zunehmenden Hitzetagen gesundheitsgefährdend, auch und erst recht in Krankenhäusern.
Völlig klar ist schon: 500 Milliarden Euro reichen nicht, zumal wenn sie über zwölf Jahre gestreckt werden und teilweise auch in den Zivilschutz gehen sollen. Aber sie sind ein Anfang. Die GEW wird darauf pochen, dass die Mittel schnell abgerufen und zielgerichtet eingesetzt werden. Und wir setzen darauf, dass in Sachen Schuldenbremse und Steuerpolitik die Messen nicht gesungen sind! Ohne eine Aufhebung oder wenigstens umfassende Reform der Schuldenbremsen von Bund und Ländern und eine stärkere Besteuerung von Reichen und Superreichen werden sich die Probleme nicht lösen lassen!
Früher galt die GEW vielen als Beamtengewerkschaft ohne die sonst für Gewerkschaften „normalen“ Tarifauseinandersetzungen. Wie gelingt es in den jetzt häufiger werdenden Tarifkämpfen Erfolge zu erzielen?
Die GEW ist immer noch eine Beamtengewerkschaft, die den hunderttausenden Beamt:innen an Schulen und Hochschulen eine starke Stimme gibt. Mit einer jahrelangen Kampagne haben wir über das Beamtenrecht die Aufwertung der Lehrkräfte an Grundschulen und in der Sekundarstufe I in fast allen Bundesländern durchgesetzt. Aber in der Tat haben wir uns längst auch zu einer selbstbewussten Tarifgewerkschaft entwickelt, die im öffentlichen Dienst, aber auch gegenüber freien und privaten Trägern faire Beschäftigungsbedingungen und anständige Gehälter für ihre Mitglieder durchsetzt. Die Zusammenarbeit mit den anderen Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes ist dabei zentral.
Was sind deiner Einschätzung nach besondere Herausforderungen für die Gewerkschaften im Bildungsbereich?
Anders als in der Industrie, wo jeder Arbeitskampf die Arbeitgeber durch die materiellen Auswirkungen, die ein Streik hat, unmittelbar unter Druck setzt, sparen viele Arbeitgeber im Bildungsbereich häufig einfach erstmal nur Geld, wenn die Beschäftigten in den Ausstand geht. Wichtig ist daher, dass wir sowohl die öffentliche Meinung auf unserer Seite haben als auch die Unterstützung von Eltern, Schüler:innen und Studierenden.
Wann werden bei euch die Studierenden auch zu Streikenden?
Studierenden sollen Arbeitskämpfe nicht nur unterstützen, sondern selbst streiken – wenn sie zu den geschätzt über 300.000 studentische Beschäftigten gehören, die einen Arbeitsvertrag mit ihrer Hochschule haben. In allen Bundesländern außer Berlin leider nach wie vor ohne Tarifbindung. Ein Skandal, dass ausgerechnet die Länder anderen Arbeitgebern ein schlechtes Vorbild sind und systematische Tarifflucht betreiben. Die Durchsetzung eines Tarifvertrages für studentische Beschäftigte (TVStud) steht daher erneut auf der Agenda der GEW für die im Dezember startende Länder-Tarifrunde. Dank der jahrelangen Kampagne der bundesweiten TVStud-Bewegung konnten die Gewerkschaften als ersten Schritt zum Tarifvertrag eine schuldrechtliche Vereinbarung erkämpfen, in der sich die Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TDL) zu Stundenlöhnen über dem Mindestlohn und Mindestlaufzeiten von in der Regel einem Jahr verpflichtet haben. Der Pferdefuß: Die Verbesserungen lassen sich von den Beschäftigten nicht individuell einklagen. Darum wollen wir nachlegen und einen echten TVStud mit besseren Bedingungen durchsetzen. Und wir setzen auf eine beteiligungsorientierte Tarifpolitik. Eine erfolgreiche Tarifkampagne muss bottom-up entwickelt und aufgebaut werden – mit 1:1-Gesprächen mit Kolleg*innen, Organizing-Kampagnen und offenen Forderungsdiskussionen.
Andere Gewerkschaften beklagen zum Teil massive Mitgliederverluste. Gelingt es euch, Mitglieder zu halten bzw. stärker zu werden z.B. durch die Erschließung neuer Branchen?
Ja, auch dafür ist der Hochschulbereich ein gutes Beispiel. Aufgrund des hohen Anteils prekärer Beschäftigung galt der Hochschulbereich vor Jahren vielen schwer organisierbar. Doch gerade prekär Beschäftigte lassen sich für die Gewerkschaften dann gewinnen, wenn sie spüren, dass diese ihre Probleme adressieren. Mit unserer Kampagne „Dauerstellen für Daueraufgaben“ machen wir das an den Hochschulen sehr erfolgreich. Wir fordern eine radikale Reform und neuerdings die Abschaffung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes und machen uns für unbefristete Beschäftigungsverhältnisse, Mindestlaufzeiten für Zeitverträge, berechenbare Karrierewege und gleiche Chancen für alle in der Wissenschaft stark.
Befristet angestellte Doktorand*innen und Postdocs melden sich nicht nur in den sozialen Medien mit Hashtags wie #IchBinHanna, #IchBinReyhan, #Dauerstellen oder #NotMyWissZeitVG zu Wort, sondern organisieren sich gewerkschaftlich und gehen auf die Straße, etwa in der letzten Länder-Tarifrunde beim bundesweiten Hochschulaktionstag. Noch nie hatte das große W für Wissenschaft in der GEW eine so große Bedeutung wie heute.

Debatten um ein wissenschaftspolitisches Programm bestimmten die Diskussionen. Worum ging es im Kern?
Mit unserem neuen wissenschaftspolitischen Programm „WissenSchafftZukunft“ setzen wir ein Aufbruchssignal. Wir dürfen nicht nur in Abwehrkämpfen gegen Bildungs- und Sozialabbau, Einschränkung von Mitbestimmungsrechten oder Prekarisierung von Beschäftigung verharren, sondern arbeiten an positiven Gegenentwürfen für eine umfassende Reform von Hochschule und Forschung festhalten. Im unserem neuen Programm buchstabieren wir aus, wie das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft neu zu bestimmen ist, wie eine Demokratisierung der Hochschulen aussehen kann, was gute Arbeit in der Wissenschaft ausmacht, welche Rahmenbedingungen wir in Lehre und Studium benötigen, wie wir Hochschulen offen und durchlässig gestalten können und wie die Studien- und Hochschulfinanzierung neuzuordnen ist. Wie ein roter Faden setzen wir uns für eine inklusive und diversitätsgerechte Wissenschaft ein.
Ein früherer Bundeskanzler wollte alle, die Visionen haben, zum Arzt schicken. In unserem wissenschaftspolitischen Programm bekennen wir uns aber gerade zu einem visionären Leitbildung für eine Reform von Hochschule und Forschung. Ein Beispiel: Statt halbherzig am BAföG herumzudoktern oder gar immer wieder neue Anläufe für Studiengebühren zu starten, sollten wir uns auf dem Weg zu einem elternunabhängigen Studienhonorar machen, auf das Studierende wie Auszubildende in der dualen beruflichen Bildung einen Anspruch haben. Ausgehend von dieser langfristigen Reformperspektive lassen sich Forderungen für tagespolitische Interventionen ableiten, etwa die nach einer elternunabhängigen Sockelförderung für alle Studierende an Stelle des derzeitigen Familienleistungsausgleichs, der besserverdienende Eltern von Studierenden begünstigt und Bürgergeldempfänger*innen leer ausgehen lässt.
Wie stehen die anderen DGB-Gewerkschaften zu diesen Positionen?
Wir werden das beim Ordentlichen Bundeskongress des DGB 2026 diskutieren, für den der DGB mit seinen Mitgliedsgewerkschaften wieder einen bildungspolitischen Leitantrag vorbereiten wird. Das wissenschaftspolitische Programm der GEW ist dafür eine ebenso gute Grundlage wie unsere neuen schulpolitischen Positionen und weitere Beschlüsse des Gewerkschaftstages. Bei Themen wie der BAföG-Reform gehen wir als GEW mit unseren Forderungen traditionell ein paar Schritte weiter als andere, aber insgesamt bewegen wir uns in dieselbe Richtung und werden sicher auch beim Bundeskongress 2026 gute Beschlüsse fassen, die alle acht Gewerkschaften gemeinsam gut vertreten können.
Lieber Andreas, vielen Dank für das Gespräch!
Weitere Infos zum GEW Gewerkschaftstag 2025:

Artikel wurde am 1. Okt. 2025 gedruckt. Die aktuelle Version gibt es unter https://betriebundgewerkschaft.de/gewerkschaft/2025/09/viele-beschaftigte-sind-heute-schon-am-limit/.