Waffen runter, Löhne rauf – Italiens Arbeiterklasse erhebt sich
In Italien verbindet sich Solidarität mit Palästina mit einem neuen Klassenbewusstsein. Basisgewerkschaften, Hafenarbeiter und Studierende zeigen: Widerstand gegen Krieg und Ausbeutung gehört zusammen. „Waffen runter, Löhne rauf“ wird zur Parole einer neuen Bewegung.
Von Maurizio Coppola
Seit dem 7. Oktober 2023 erlebt die italienische Solidaritätsbewegung mit Palästina eine regelrechte Renaissance. Universitätsbesetzungen, lokale und nationale Demonstrationen sowie Protestaktionen vor den Botschaften der USA und Israels sind zu alltäglichen Aktionen gegen den Genozid an der palästinensischen Bevölkerung, gegen die Komplizenschaft der italienischen Regierung und die Untätigkeit der parlamentarischen Opposition (Demokratische Partei, 5-Sterne-Bewegung, Links-Grünes-Bündnis) geworden. Dieses "Palästina-Moment" stellte einen wichtigen Wendepunkt dar und beendete mehr als ein Jahrzehnt des "sozialen Friedens" in Italien. Es hat die populären Klassen wieder aktiviert und eine Vielzahl sozialer und politischer Widersprüche ans Licht gebracht.
Der unermüdliche und jahrzehntelange Kampf des palästinensischen Widerstandes gegen die koloniale Besatzung hat uns einmal mehr bewiesen, dass wir nicht dazu verdammt sind, als Opfer Ausbeutung und Unterdrückung hinzunehmen, sondern dass wir uns dagegen aktiv organisieren und kämpfen müssen. Eine wichtige Erkenntnis aus dieser "Identifikation mit Palästina" ist, dass nicht nur Palästina uns braucht, sondern auch wir Palästina brauchen, um unser Bewusstsein zu schärfen und gegen unsere inneren Feinde zu kämpfen. Mit anderen Worten: Bevor wir „alle Augen auf Palästina” richten konnten, mussten wir unsere Augen öffnen, und Palästina hat dies getan.
Heute, zwei Jahren seit dem Beginn des Genozids in Gaza, erlebt Italien somit eine der stärksten Solidaritätsbewegungen seiner Geschichte. Im letzten Monat kam es zu einer quantitativen Akkumulation von Kräften, die zu großen Massenmobilisierungen geführt hat. Tag für Tag wurde immer deutlicher, dass die Unfähigkeit und der Unwille der italienischen Regierung, ihren Teil zur Beendigung des Genozids beizutragen (wir erinnern daran, dass Italien nach den Vereinigten Staaten und Deutschland der drittgrößte Waffenlieferant Israels ist), eng mit der massiven Prekarität verbunden ist, in der die italienische Arbeiterklasse in den letzten zwei Jahrzehnten gestürzt ist. Dies kommt in dem Slogan "Waffen runter, Löhne rauf" zum Ausdruck, der – zusammen mit "Stoppt den Genozid" – zu einem der Hauptslogans der Demonstrationen geworden ist.
Alle Räder stehen still, wenn...
Aber warum erleben wir heute eine so starke Bewegung? Es wäre ein Fehler zu glauben, dass sich die italienischen Straßen massenhaft gefüllt haben, einfach nur aufgrund der außergewöhnlichen Geschichte der Solidarität mit Palästina und des Friedensaktivismus Italiens oder schlicht wegen der Spontaneität der Massen. An den Generalstreiks vom 22. September und 3. Oktober nahmen jeweils 1 Million und 2 Millionen Menschen teil, die alle von großer Entschlossenheit beseelt waren. Es gab nicht nur Massendemonstrationen in den großen Städten des Landes, sondern auch Aktionen in kleinen Orten sowie Blockaden von Häfen, Bahnhöfen, Autobahnen und sogar Flughäfen. Noch müssen wir unser Verständnis dafür vertiefen, warum wir nach der jahrzehntelangen Passivierung der italienischen Gesellschaft nun diesen qualitativen Sprung erleben; doch einige Hinweise zu den Gründen können wir schon geben.

Ein erstes Element ist die zentrale Rolle der Arbeiterklasse in dieser Bewegung, angeführt von den Hafenarbeitern in Genua, die in den letzten Jahren sich immer wieder geweigert haben, Waffenlieferungen in Kriegsgebiete zu verladen und somit Komplizen von Tod und Genozid zu werden; in den Jahren zuvor (2019, 2021) im Krieg Saudi Arabiens gegen Jemen, ab 2023 in der massiven Zerstörung Palästinas durch Israel. Seitdem hat die Unione sindacale di base (USB) – die Basisgewerkschaft, der sie angehören – auch in anderen italienischen Häfen (Livorno, Civitavecchia, Salerno, Ravenna usw.) einen Organisationsprozess in Gang gesetzt, und innerhalb von zwei Jahren hat sich ihre Aktionsfähigkeit deutlich erhöht.
Als die Global Sumud Flotilla ihre Mission nach Gaza begann, schloss sich einer der Sprecher der Hafenarbeiter von Genua, José Nivoi, der Besatzung an. Während der Vorbereitungen für die Überfahrt startete die Bewegung in Genua einen Aufruf zur Sammlung von Hilfsgütern für Gaza; innerhalb weniger Tage kamen 300 Tonnen Material zusammen. Darüber hinaus organisierte die Solidaritätsbewegung eine Demonstration, an der 40.000 Menschen teilnahmen. In seiner Rede vor der Menge sagte einer der Hafenarbeiter: "Wenn wir den Kontakt zu unseren Leuten auf der Flottille auch nur für 20 Minuten verlieren, werden wir alles blockieren. Nicht einmal ein Nagel wird Israel erreichen." Die Gewerkschaftsbewegung trat somit nicht nur als Teil der Bewegung in Erscheinung, sondern übernahm darin eine führende Rolle.

Die Radikalisierung der "Generation Gaza"
Ein zweites Element, das berücksichtigt werden muss, ist die Hartnäckigkeit der politischen Organisationen und der Basisgewerkschaften. Wir haben bereits die Rolle der USB erwähnt (und dürfen die anderen Basisgewerkschaften nicht vergessen, die in den letzten Jahrzehnten in den prekärsten Sektoren die Arbeiterinnen und Arbeiter organisiert haben), aber es muss auch die Rolle politischer Organisationen wie Potere al Popolo und zahlreicher anderer Jugend- und Studierendenorganisationen, sozialer Räume und politische Kollektive im ganzen Land hervorgehoben werden. Jede kleine Soli- und Flyeraktion, jede kleine Demo waren ein Samen, der heute zur (zarten) Pflanze des politischen Kampfes und der internationalen Solidarität herangewachsen ist.
Gerade die von Medien und Politik oft als "apathisch" und "uninteressierte" Jugend wurde - nebst der organisierten Arbeiterklasse - durch die Causa Palästina zu einem zentralen Subjekt der Proteste. Für den langfristigen Organisationsprozess dieser Jugend ist es wichtig, sie nicht einfach als "Gen Z" zu definieren, weil sie durch die digitale Technologie determiniert ist. Vielmehr geht es darum, den ethisch-politischen Bewusstseinsprozess zu fassen, hinter dem sich ein Organisierungspotential birgt. Denn die Solidarität mit Palästina ist nicht zu einer der wichtigsten Kampagnen geworden, weil sie als "Trendthema" angesehen oder schlicht als "Event" angegangen wurde, sondern weil sie sich von einer humanitären Forderung zu einem zutiefst politischen Kampf entwickelt hat: Die "Generation Gaza" hat es geschafft, die internationale Solidarität mit dem Kampf für soziale Gerechtigkeit im eigenen Land zu verbinden.

Palästina produziert neue gesellschaftliche Brüche
All dies führt zu Widersprüchen innerhalb unserer traditionellen politischen Landschaft, sowohl innerhalb der traditionellen Gewerkschaften als auch in der Regierung selbst.
Als die USB wegen der israelischen Angriffe auf die Flotilla in Tunesien einen Generalstreik für den 22. September ausrief, war die CGIL - die größte Gewerkschaftskonföderation Italiens - gezwungen, ebenfalls Stellung zu beziehen. Zunächst schloss sie sich der Forderung der USB nicht an und kündigte gar seine eigene "Arbeitsniederlegung von 4 Stunden" (sic!) am 19. September an. Dieser arrogante Schritt erwies sich für die CGIL selbst als kontraproduktiv: Die Aktion wurde ein völliger Misserfolg mit sehr geringer Beteiligung, und ein Großteil ihrer eigenen Mitglieder entschied, sich dem Streik der Basisgewerkschaft am 22. September anzuschließen. In der Folge war die CGIL gezwungen, dem Appell des Generalstreiks durch die Basisgewerkschaften am 3. Oktober zu folgen. Palästina mischt also zurzeit auch die Karten in der italienischen Gewerkschaftsbewegung neu und endlich findet eine radikale, antimilitaristische Friedenspolitik ihren Weg bis in die großen Gewerkschaftskonföderationen rein.
Hinzu kommt, dass die italienische Regierung und Premierministerin Giorgia Meloni gezwungen waren, zu Palästina und zur Global Sumud Flotilla Stellung zu nehmen. Die Palästina-Bewegung stellt auch diesbezüglich einen Bruch dar: die Regierung Meloni hat sich in den letzten drei Jahren durch ihre "kleine Politik" gekennzeichnet, das heisst dadurch, wichtige gesellschaftliche Themen "administrativ" und "apolitisch" abzuhandeln. Mit dem Genozid an die palästinensische Bevölkerung und der Komplizenschaft Italiens stieß diese Methode auf eine ethisch-politische Empörung in der Gesellschaft. Somit macht die Bewegung die Widersprüche innerhalb der Regierung in Bezug auf die Erhöhung der Militärausgaben, die Anerkennung des Genozids und des palästinensischen Staates, aber auch in Bezug auf interne Fragen wie die Kriminalisierung sozialer Bewegungen, das Grundrecht auf Streik und soziale Fragen deutlich. In diesen Strudel wurden auch die parlamentarischen Oppositionsparteien hineingezogen, die die ganze Inkonsequenz ihrer Positionen unter Beweis stellten, indem sie völlig unfähig waren, sich sowohl zum Genozid als auch zu den laufenden Mobilisierungen kohärent zu äußern. Nur sehr spät sprangen sie auf den Wagen der Palästina Solidarität.

Nun braucht es Organisierung!
Vieles von dem, was aktuell in Italien geschieht, muss noch genauer analysiert werden. Doch einiges ist klar geworden: In einem Land, in dem die Hungerlöhne seit drei Jahrzehnten nicht mehr gestiegen sind, haben Hunderttausende von Menschen beschlossen, aus Solidarität mit dem palästinensischen Widerstand auf einen Tageslohn zu verzichten, um an Streiks und Demonstrationen teilzunehmen. Hunderttausende Menschen haben Basisgewerkschaften und politischen Organisationen vertraut, die bisher in den Mainstream Medien als "radikal" oder "irrelevant" bezeichnet wurden, weil sie als einzige in der Lage waren, mit eine konsequente Position einzunehmen und einen sozialen und politischen Raum zu besetzen, der leer geblieben war. Die Tatsache, dass diese Zensur nun für Hundertausende von Menschen nicht mehr funktioniert, ist ein Beweis dafür, dass sich etwas bewegt in der italienischen Gesellschaft.
Jetzt hängt alles von der Fähigkeit dieser Basisgewerkschaften und politischen Organisationen ab, die politischen Widersprüche, die sich dank der neuen Sichtweise, die uns Palästina gegeben hat, aufgetan haben, zu vertiefen.
Artikel wurde am 25. Okt. 2025 gedruckt. Die aktuelle Version gibt es unter https://betriebundgewerkschaft.de/gewerkschaft/2025/10/waffen-runter-lohne-rauf-italiens-arbeiterklasse-erhebt-sich/.