Gewerkschaftskonferenz für Frieden: Es gibt noch viel zu tun!
Vom 14. bis 15. Juni fand in Stuttgart die zweite Gewerkschaftskonferenz für den Frieden statt. Mit mehr als 200 Teilnehmern vor Ort und 800 im Stream ist den Veranstaltern eine Verdopplung der Teilnehmerzahlen gelungen. Ulrike Eifler wertet die Veranstaltung aus.
Mitte Juni fand die zweite Gewerkschaftskonferenz für den Frieden statt. Gemeinsam mit dem ver.di-Bezirk Stuttgart organisierte die Rosa-Luxemburg-Stiftung die Veranstaltung, um die innengewerkschaftliche Diskussion über die Friedensfrage aufzugreifen und weiterzuentwickeln. Die Konferenz, die passenderweise im Willi-Bleicher-Haus stattfand, war mit 200 Teilnehmern vor Ort und 800 im Stream erneut ein großer Erfolg. Dass den Veranstaltern im Vergleich zum Vorjahr eine Verdoppelung der Teilnehmerzahlen gelang, muss auf das wachsende Bedürfnis nach politischer Orientierung und Debatte eingeordnet werden. Für den weiteren Verlauf wirft diese Entwicklung allerdings Fragen auf.
Von Hanau nach Stuttgart
Nach der bereits sehr erfolgreichen ersten Konferenz im letzten Jahr, die durch eine Kooperation der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit der IG Metall Hanau-Fulda möglich wurde, richteten die Veranstalter ihren Blick in diesem Jahr auf die Dienstleistungsgewerkschaften. Der letzte ver.di-Bundeskongress hatte gezeigt, dass es auch bei ver.di eine leidenschaftliche Debatte über die friedenspolitischen Grundsätze gibt. Als die Rosa-Luxemburg-Stiftung im ver.di-Bezirk Stuttgart anfragte, ob sich die Kolleginnen und Kollegen eine gemeinsame Konferenzkooperation vorstellen könnten, kam daher auch prompt eine positive Antwort.
Die Veranstalter knüpften mit der Auswahl des Ortes an ein Stück inspirierender Protest- und Arbeiterbewegungsgeschichte an. Nicht nur der erste Internationale Sozialistenkongress fand 1907 in Stuttgart statt - einer der wichtigsten Tagesordnungspunkte damals lautete übrigens "Militarismus und die internationalen Konflikte" -, auch in der jüngeren Geschichte war Stuttgart wiederholt Ort für Aktionen und Proteste der Friedensbewegung. Erinnert sei an die lange Menschenkette, die sich im Oktober 1983 von Neu-Ulm nach Stuttgart zog, um gegen den NATO-Doppelbeschluss und die Stationierung der Pershing-II-Raketen zu protestieren. 2.000 Busse, 50 Sonderzüge, 400.000 Menschen, 108 Kilometer - die längste Menschenkette in der Geschichte der Bundesrepublik. Ein inspirierendes Protestkapitel, an das die Organisatoren anknüpften, um die Hanauer Diskussion aus dem Vorjahr fortzusetzen und gemeinsam zu überlegen, wie Friedensbewegung und Gerechtigkeitsbewegung gestärkt werden können.
Inhaltliche Schwerpunktsetzung
Die Podien waren prominent besetzt. Den inhaltlichen Aufschlag machte Ingar Solty, Referent für Friedens- und Sicherheitspolitik bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung. In sechzehn Thesen arbeitete er die komplexe Krisensituation heraus, die den größeren Rahmen für das Verständnis der geopolitischen Entwicklung und die wachsende Gefahr weltkriegerischer Auseinandersetzungen abbildet. "Das 21. Jahrhundert wird entscheidend sein für die Fähigkeit der Menschheit, als Zivilisation zu überleben", sagte er und zerlegte die Dauerkrise des globalen Kapitalismus in sechs Dimensionen: die globale Krise der Überakkumulation, die Krise der sozialen Reproduktion, die Krise des sozialen Zusammenhalts, daraus ableitend die Krise der Repräsentation und der liberalen Demokratie, schließlich die Krise der ökologischen Nachhaltigkeit und des Klimawandels und - last not least - die Krise der Weltordnung, die die USA nach 1945 im Westens schufen und nach 1990 auf die ganze Welt ausdehnten. Jede dieser Krisen birgt tiefe Destabilisierungstendenzen, denn sobald die Krise in einer Dimension scheinbar gelöst ist, wird sie durch die Auswirkungen der Krise in einer anderen Dimension wieder vertieft. Ohne ein Verständnis dieser komplexen Krisendynamik sind die Konflikte in der Ukraine, in Gaza oder im südchinesischen Meer nicht zu verstehen.
Auf diese Analyse folgte die Frage, was die Darstellung der Krisendynamik für die strategische Aufstellung der Gewerkschaften bedeuten müsste. Diskutiert wurde die Forderung nach einer stärkeren Wahrnehmung des politischen Mandates. Dieses müsste umfassend, also nicht allein sozial- und wirtschaftspolitisch, sondern auch ökologiepolitisch, friedenspolitisch und im Hinblick auf die Krise der liberalen Demokratie ausbuchstabiert werden: Wenn der Krieg in der Ukraine mit seiner Politik aus Sanktionen und Gegensanktionen zum Treiber für Preisexplosionen wird, wenn sich im Windschatten der Aufrüstungsrhetorik demokratische Spielräume verengen, wenn die schlechte CO2-Bilanz der Rüstungsindustrie die gewaltigen Dekarbonisierungsbemühungen der Gewerkschaften ad absurdum führt, dann haben die Gewerkschaften ein vorrangiges Interesse an Diplomatie und Entspannungspolitik.
Erfolgreiche Umverteilungskämpfe, die Ausweitung der betrieblichen Mitbestimmung und die Bearbeitung der Transformation im Interesse von Klima und Mensch gelingen nur im Frieden.
Dass Kriege zudem immer Entscheidungsschlachten der Herrschenden sind, die auf dem Rücken der arbeitenden Klassen ausgetragen werden und schon deshalb von der Gewerkschaftsbewegung abgelehnt werden, ist selbstverständlich und sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt.
Strategische Debatte
Die Widersprüche aufzuzeigen und sie mit den Kolleginnen und Kollegen im Ortsvorstand, im Frauenausschuss oder im Betriebsrat zu diskutieren, wurde als zentrale Aufgabe herausgearbeitet. Dabei wurden viele gute Beispiele genannt. So haben die GEW-Landesdelegiertenversammlungen in Hamburg und Berlin beschlossen, den Aufruf „Gewerkschaften gegen Aufrüstung und Krieg“ zu unterzeichnen und zu seiner Verbreitung beizutragen. Der ver.di-Ortsverband Saar fasste einen ähnlichen Beschluss. Die IG Metall Würzburg führte bereits zwei Vertrauensleute-Wochenenden zum Thema durch. Politische Bildung ist nicht allein die Diskussion im Seminar, sie umfasst vor allem die beständige politische Arbeit in der Gewerkschaft.
Ein herausragendes Beispiel gab die IG Metall Hanau-Fulda, die im Herbst 2022 während der Tarifrunde der Metall- und Elektroindustrie einen gemeinsamen Warnstreik mit den anderen DGB-Gewerkschaften und der Hanauer Friedensplattform organisiert hatte. Eine Aktion, die vom ver.di-Bezirk der Region ein halbes Jahr später während er Tarifrunde im öffentlichen Dienst wiederholt wurde. Natürlich lassen sich Tarifauseinandersetzungen mit Bund, Land oder Kommunen im Hinblick auf staatliche Verteilungsfragen deutlich leichter politisieren, als dies im Bereich der Metall- und Elektroindustrie möglich ist. Das gilt um so mehr, wenn vor dem Hintergrund des steigenden Transformationsdrucks der Aufbau der Rüstungsindustrie nicht mehr kritisch begleitet, sondern teils begrüßt wird. Doch die Auswirkungen des Aufrüstungskurses werden auch für die Beschäftigten in der Industrie gravierend sein. Es wäre ein Trugschluss zu glauben, wir könnten die betriebliche Mitbestimmung ausweiten, um die Transformation besser zu gestalten, während gleichzeitig die Gesellschaft immer autoritärer wird. In einer Atmosphäre von Sozialabbau, Inflation und wachsender Verunsicherung werden nicht die Forderungen der Gewerkschaften Auftrieb bekommen, sondern die der Arbeitgeber.
Internationale Perspektive
Eine Weitung der Debatte gelang schließlich durch die internationalen Beiträge. Bela Galgoczi vom European Trade Union Institute (ETUI) ordnete die Transformationsherausforderungen der Gewerkschaften in Europa in das geopolitische Dilemma der Europäischen Union ein. Die Vertreterin der griechischen Gewerkschaften, Yota Lazaropoulou zog den Zusammenhang zwischen einer hohen Rüstungsquote und dem Abbau von Sozialleistungen. So nutzt die konservative Mitsotakis-Regierung den Konflikt mit der Türkei als Rechtfertigung, um 3,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für militärische Zwecke auszugeben. Und der Gewerkschafter Rudi Kennes sprach von der Notwendigkeit linker Impulse für die gewerkschaftliche Diskussion. Der Opelaner war viele Jahre lang Betriebsratsvorsitzender am Standort Antwerpen. Seit dem 9. Juni sitzt er für die Belgische Partei der Arbeit (PTB) als erster Arbeiter im Europäischen Parlament. Die Friedensforderung ist für ihn eine Selbstverständlichkeit. Leidenschaftlich warb er daher dafür, dass die Bearbeitung der kleinen Fragen die Grundlage dafür schafft, die großen politischen Fragen zu diskutieren und zuzuspitzen.
Höhepunkt war sicherlich das Podium, das versuchte, die Diskussionen aus Klima-, Friedens- und Gewerkschaftsbewegung zusammenzuführen. „Weil es um alles geht - Für eine strategische Zusammenarbeit von Gewerkschaften, Friedensbewegung und Klimaaktivisten“, lautete der ambitionierte Titel. Der Direktor des internationalen Netzwerks Trade Unions for Energy Democracy, Sean Sweeney, ging auf die Schwäche von Gewerkschaften und Klimabewegung vor allem in Bezug auf langfristige Ziele ein und unterstrich die Notwendigkeit, im gegenwärtigen existenziellen Kampf um die Zukunft der Menschheit, die sozialistische Tradition der Arbeiterbewegung wiederzubeleben. Im Anschluss diskutierten die Konferenzteilnehmer leidenschaftlich mit Sean Sweeny, mit NGG-Geschäftsführer Elwis Capece, mit FFF-Aktivistin Ajla Salatovic und mit dem Bezirksvorsitzenden des DGB Baden-Württemberg, Kai Burmeister, über gemeinsame strategische Ziele. Die große politische Ungeduld, die in den Diskussionsbeiträgen zuweilen zu spüren war, muss auf die Tiefe der gesellschaftlichen Krisensituation und die drängende Notwendigkeit, einen Kurswechsel durchzusetzen, zurückgeführt werden.
Generalangriff auf die Lohnabhängigen
Mit all diesen Diskussionen hat die Konferenz wiederholt einen Raum geboten, um die Kriegs- und Aufrüstungspolitik der Bundesregierung als das einzuordnen, was sie ist: ein Generalangriff auf die Lohnabhängigenklasse und ein Katalysator für die dramatische Verschlechterung ihrer Lebenslage. Weil sie die Preise in die Höhe treibt. Weil sie kein Geld mehr für die Industrietransformation übrig lässt. Weil sie den Klimawandel mit schwindelerregender Geschwindigkeit beschleunigt. Und weil sie eine gesellschaftliche Atmosphäre schafft, in der elementare Grundrechte und die betriebliche Mitbestimmung leiden werden. Ganz ohne Pathos kann festgehalten werden: Wenn die Gewerkschaften sich nicht zu Fragen von Krieg und Frieden äußern, handeln sie gegen ihre Interessen und die ihrer Mitglieder.
Dass die Diskussion in den Gewerkschaften dennoch eher widersprüchlich geführt wird, ist nicht zuletzt das Ergebnis einer autoritären Unterordnungsstrategie, die die Bundesregierung der gesamten Zivilgesellschaft verordnete. Die Zeitenwende musste durchgesetzt werden gegenüber einer Bevölkerung, die seit fast 80 Jahren im Frieden lebt. Egal, ob Verheugen, Käßmann, Wagenknecht, Schwarzer oder Mützenich - wer die außenpolitische Linie nicht mitträgt, wird zum Putinversteher oder AfD-Sympathisanten erklärt. Bildungsministerin Stark-Watzinger erhöhte sogar den Druck auf die Hochschullehrer, die sich mit dem Protest ihrer Studierenden solidarisierten. Widerstandspotentiale gegen die sozialen oder ökologischen Folgen des Krieges sollten von Anbeginn kleingehalten werden: So gab es Versuche, die Gewerkschaften mit der Konzertierten Aktion zu disziplinieren. Und es gab Versuche, die Klimabewegung durch Antisemitismusvorwürfe gegenüber Greta Thunberg zu spalten.
Durchsetzung der Zeitenwende
In diesem Prozess versagten die Medien in ihrer Rolle als Vierte Gewalt nahezu vollständig. Ein weiteres Mal übernahmen sie völlig unkritisch die Regierungsnarrative. Obwohl die erschütternden Bilder über den autoritären Umgang mit Kriegsdienstverweigerern in der Ukraine und in Russland auch hierzulande in den sozialen Medien zu sehen waren, wurde die öffentliche Diskussion über die Wehrpflicht wie eine harmlose Fachkräftediskussion geführt. Die Ausstrahlung eines kriegsverharmlosenden Taurus-Animationsfilms im öffentlich-rechtlichen Kinderfernsehens blieb allem Anschein nach ohne Beschwerde im Rundfunkrat. Und dass es nicht einmal einen Aufschrei gab, als der Präsident des IFO-Instituts einen ehemals führenden Nationalsozialisten als Referenz heranzog, um Sozialkürzungen zu rechtfertigen - „Kanonen statt Butter“ - passt in dieses Bild und ist mehr als eine Randnotiz.
Inzwischen gilt Boris Pistorius als beliebtester Politiker. Nahezu ungestört kann er mehr Kriegstüchtigkeit fordern und die Menschen an den furchtbaren Gedanken eines Krieges auf deutschem Boden gewöhnen. Auch dass Kinder am Veteranentag auf Panzer klettern und die Lust am Krieg im Spiel entdecken, wird nicht mehr hinterfragt. Die Zeitenwende scheint durchgesetzt: Aufrüstung auf Kosten der Natur und finanziert durch Sozialabbau - auf diese Linie haben sich die politische Klasse und die Medien verständigt. Doch die Entwicklung ist widersprüchlich: Dass die Mehrheit der Bevölkerung dennoch skeptisch bleibt, zeigen verschiedene Umfragen und nicht zuletzt die Wahlen zum Europäischen Parlament.
Ausblick
All diese Entwicklungen kritisch zu diskutieren, war Ausgangsüberlegung für die Konferenz. Der Zeitenwendediskurs der Bundesregierung darf nicht widerspruchslos erduldet werden. Radikaler als je zuvor in der Nachkriegsgeschichte stellt er die Arbeits- und Lebensbedingungen der Lohnarbeitenden in Frage und ist sogar dazu bereit, die Unterordnung unter die Außenpolitik autoritär zu erzwingen. Das große Bedürfnis nach Debatte, das auf der Konferenz zu spüren war, wirft allerdings die Frage auf, wie die in Hanau und Stuttgart begonnenen Diskussionen verstetigt werden können. Insbesondere mit Stuttgart ist die Konferenz über den Punkt hinaus, an dem es ausreicht, einmal im Jahr zusammenzukommen, um sich unverbindlich zum Status quo auszutauschen. Vielmehr ist es an der Zeit, die unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteure zusammenzuführen und Reformallianzen gegen den Kriegskurs aufzubauen. Die Friedensbewegung hat mit SPD und Grünen ihre traditionellen Bündnispartner verloren und braucht zwingend das Bündnis mit Gewerkschaften und Klimabewegung Die Klimabewegung wird den Planeten nicht retten können, solange ein Kampfjet in einer Stunde mehr CO2 emittiert, als ein Durchschnittsdeutscher im Jahr verursacht. Und auch die Gewerkschaften sind auf das Bündnis mit Klimabewegung und Friedensbewegung angewiesen, um den Druck für die Durchsetzung ihrer Ziele zu erhöhen.
Es wäre also an der Zeit, den Diskussionen Taten folgen zu lassen: gemeinsame Warnstreiks mit der Friedensbewegung in den kommenden Tarifrunden; Argumentationstrainings gegen Aufrüstung; ein regelmäßig erscheinendes Onlinemedium für Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter mit dem Ziel der besseren Vernetzung und strategischen Debatte; und schließlich aktiver Protest gegen die bevorstehenden Sozialkürzungen. Die Konferenzen können den Raum zum Austausch geben und dadurch zum Kristallisationspunkt neuer Vernetzungen und gemeinsamer Aktivitäten werden, aber sie sollten nicht deren Platzhalter sein. Der Gewerkschafter Willi Bleicher hat einmal gesagt: „Wer für den Frieden ist, der muss gegen den Krieg kämpfen“. Die aktuellen Entwicklungen zeigen, wie Recht er damit hatte. Die Wahrscheinlichkeit neuer weltkriegerischer Auseinandersetzungen steht im Raum, ebenso wie der Aufstieg des Faschismus. Die Zeiten sind zu ernst, um sich unverbindlich friedensliebend neben diese Entwicklungen zu stellen.
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Artikel wurde am 22. Dez. 2024 gedruckt. Die aktuelle Version gibt es unter https://betriebundgewerkschaft.de/gewerkschaftspolitische-konferenzen/2024/07/gewerkschaftskonferenz-fur-frieden-es-gibt-noch-viel-zu-tun/.