Édouard Louis: Anleitung ein anderer zu werden

Édouard Louis: Anleitung ein anderer zu werden

Von Ulrike Eifler

Von der Unmöglichkeit, seiner Klasse zu entkommen: Mit dem Perspektivwechsel, den er anstrebte, übernahm er eben nicht nur die Vorliebe für Rotwein und Programmkino, sondern auch bildungsbürgerliche Überheblichkeit und Arroganz, schreibt Ulrike Eifler in ihrer Rezension über das jüngste Buch des großartigen Édouard Louis.

Von der Unmöglichkeit, seiner Klasse zu entkommen: Édouard Louis gilt als Vertreter eines literarischen Genres, das in autobiografischen Erzählungen die Widersprüche des sozialen Aufstiegs in den Blick nimmt. Seine Protagonisten schreiben über Bildungsaufstiege und die damit verbundene soziale Entfremdung, über die eigene Intellektualität und familiäre Brüche. Mit „Anleitung ein anderer zu werden“ hat Louis nun ein Buch vorgelegt, das in diesem Genre seinen Platz findet, aber mit einer Rücksichtslosigkeit und Offenheit geschrieben ist, die zuweilen verstörend wirkt.

Louis knüpft zunächst an den Erzählungen seiner früheren Bücher an. Er beschreibt die Armut seiner Kindheit in einem nordfranzösischen Dorf. Die Mutter, die ihn zur Nachbarin schickt, um nach einer Packung Nudeln oder einem Glas Tomatensauce zu fragen, weil sie weiß, dass Kinder mehr Mitleid auslösen. Den Vater, der die Homosexualität des Sohnes nicht wahrhaben will. Die Bildungsferne, die sich in fehlenden Büchern und Schularbeiten am Küchentisch bei laufendem Fernseher ausdrückt.

Doch dann hat Louis die Möglichkeit, das Gymnasium in der nächstgrößeren Stadt zu besuchen – als erster seiner Familie und einer der wenigen seines Dorfes. Untergebracht in einem Internat verbringt er nur noch die Wochenenden in seinem Heimatdorf, entfremdet sich dabei aber sprachlich und intellektuell von seinen Eltern. In der Schule lernt er Elena kennen, mit der er bald auch an den Wochenenden Zeit verbringt. Als Elenas Familie ihm bei seinen Wochenendbesuchen Einblick in ihren bildungsbürgerlichen Alltag gewährt, ergreift er diese Gelegenheit, um seine als plump und unbeholfen empfundene Klassenprägung abzustreifen. Bücher, Programmkino, Theater, Rotwein und gepflegte Tischmanieren werden zu den Merkmalen seines neuen Lebens als Intellektueller. Er versucht Lebensstil, Sprache, Gesprächsthemen, winzige Gesten und selbst die Art zu lachen zu imitieren.

Und so vollzieht sich die Entfremdung von der eigenen Familie nicht als schleichender Prozess, sondern als bewusst vollzogener Schritt, als Bruch, als Verleugnung, als Plan, ein anderer zu werden. Fast folgerichtig wirkt in dieser Kette der Metamorphose ein hässlicher Streit mit der Mutter, bei dem Louis ihr den fehlenden bildungsbürgerlichen Kontext zum Vorwurf macht. Nachdem dieser Streit den endgültigen Bruch besiegelt, ist sein Leben von Unruhe, Rastlosigkeit, vom Wissen um den eigenen Rückstand geprägt. Er liest alles, was ihm Erkenntnisgewiss verspricht, besucht die Vorlesungen von Didier Eribon, fängt an zu schreiben und wird schließlich mit Mitte zwanzig einer der bekanntesten Schriftsteller der modernen französischen Literatur.

Louis schildert eindrücklich den Kampf mit sich selbst, das Bedürfnis, über die demütigenden Klassenerfahrungen zu triumphieren und bewegt sich dabei zwischen studierendem Eifer, überheblicher Selbstgerechtigkeit und abschätziger Selbstverleugnung. Sein durch unzählige Verletzungen ausgelöster Ehrgeiz, seine Unruhe, die Rastlosigkeit wirken dabei anrührend. Doch die rücksichtslose Selbstleugnung stößt vermutlich jene vor den Kopf, die sich mit der eigenen biografischen Entfremungserfahrung in ihm wiederfinden.

Doch Louis bleibt nicht bei den eigenen Klassenerfahrungen stehen, sondern wirft zugleich einen Blick auf die Undurchdringlichkeit kapitalistischer Klassenverhältnisse. Ohne seine radikale Selbstleugnung wäre ihm der soziale Aufstieg nicht gelungen, ebensowenig wie ohne die Hilfe Dritter. Es brauchte Elenas Familie, den intellektuellen Freund Didier Eribon oder die materielle Unterstützung schwuler Bekanntschaften. Sie gewährten ihm einen zeitlich begrenzten Verbleib in anderen gesellschaftlichen Klassen, halfen ihm, dieselbe Distanz zwischen sich und seine Familie zu bringen, die gesellschaftlich zwischen den Klassen besteht. Louis’ rücksichtslose Radikalität muss deshalb als Ausweis für die manifesten, ebenso undurchdringlichen wie unerbittlichen Klassenbarrieren, dessen Überwindung nicht gewollt ist, eingeordnet werden. Die Härte, mit der er versuchte, sich von seinen eigenen Klassenerfahrungen abzuschneiden, gründet auf der gesellschaftlichen Verachtung gegenüber den sogenannten bildungsfernen Schichten. Mit dem Perspektivwechsel, den er anstrebte, übernahm er eben nicht nur die Vorliebe für Rotwein und Programmkino, sondern auch bildungsbürgerliche Überheblichkeit und Arroganz.

Am Ende findet er zurück zu seinen Wurzeln. „Ich hatte Umgang mit den reichsten Menschen der Welt. Ich hatte Sex mit Männern, in deren Wohnzimmern Originale von Picasso, Monet, Soulages hingen, die nur im Privatjet reisten, die in Hotels wohnten, in denen eine Nacht, eine einzige Nacht, so viel kostete wie das Jahreseinkommen unserer siebenköpfigen Familie“, schreibt Louis. Er kommt zu dem Schluss, dass er nicht nur den Bruch mit seiner Klasse brauchte, sondern auch die Perspektive der Herrschenden, um einen objektiven, freigestellten und unmoralischen Blick für die eigenen Klasse zu bekommen. Édouard Louis hat ein großes Buch über den Preis des sozialen Aufstiegs und die Unmöglichkeit, seiner Klasse zu entkommen, vorgelegt.

Ulrike Eifler ist Bundessprecherin der BAG Betrieb & Gewerkschaft

Édouard Louis: Anleitung ein anderer zu werden, aufbau, 272 Seiten, 24,70 Euro

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