Partei im Gespräch - Interview mit Heidi Reichinnek

Partei im Gespräch - Interview mit Heidi Reichinnek

Auf dem Parteitag in Erfurt wählen wir einen neuen Vorstand. Im Netz war bereits einiges über die vier aussichtsreichsten Kandidaturen für den Parteivorsitz zu lesen. Wir haben bei Janine, Heidi, Martin und Sören nachgefragt, was sie dazu bewogen hat und darüber hinaus auch, was uns sonst noch wichtig erschien. Partei im Gespräch: Wir fragen nach, sie antworten. Heute im Interview: Heidi Reichinnek

BAG Betrieb & Gewerkschaft: Liebe Heidi, du kandidierst Ende Juni auf dem Bundesparteitag in Erfurt als Vorsitzende für die Partei DIE LINKE. Was hat dich dazu bewogen?

Heidi Reichinnek: Ich spüre jeden Tag, in jedem Gespräch im Alltag oder am Infostand, dass es dringend eine starke LINKE braucht, die die Interessen der Menschen im Blick hat und für sie kämpft. Ich habe noch vor wenigen Monaten in der Jugendhilfe gearbeitet und hautnah miterlebt, wie die Regierung die Interessen von Kindern und Jugendlichen ignoriert, Familien im Stich lässt und wie viel Kraft es diese Menschen im Alltag kostet. Menschen mit kleinem Einkommen werden mit den immer weiter steigenden Kosten für Wohnen und Leben alleine gelassen. Der so dringende Kampf gegen den Klimawandel wird auf die einfachen Leute abgewälzt. Während über Nacht 100 Milliarden Euro für Aufrüstung aus dem Ärmel geschüttelt werden, ist für soziale Gerechtigkeit kein Geld da.

Gleichzeitig schaffen wir es in den letzten Jahren immer weniger, mit unseren Antworten auf genau diese Fragen durchzudringen. Und das sogar in Zeiten, in denen unsere Themen Hochkonjunktur haben. Wir brauchen dringend einen Neustart und der muss sich auch auf personeller Ebene niederschlagen. Ich habe mich entschlossen zu kandidieren, um die Linke wieder zu der starken Kraft zu machen, die die Menschen brauchen. Dafür muss sich die Bundesebene mit den Landesverbänden vernetzen, gemeinsame Aktionen koordinieren, Erfolge vor Ort stärker in den Vordergrund rücken. Jede Wahl ist eine Wahl der ganzen Partei, die Landesverbände, gerade ohne Landtagsfraktionen, brauchen (personelle) Unterstützung, wenn sie für gute Ergebnisse kämpfen.

Wir sind eine Partei, die an der Seite sozialer Bewegungen steht, da komme ich auch her. Gleichzeitig müssen wir stärker diejenigen im Blick haben, die nach einer harten 40-Stunden-Woche, Kinderbetreuung, Pflege oder aus anderen Gründen keine Kraft mehr haben, sich politisch zu engagieren. Für diese Menschen müssen wir da sein, ihr Leben vor Ort spürbar verbessern, unsere Büros können dafür Anlaufpunkte sein. Dafür braucht es unsere Mitglieder, die seit Jahren – meist ehrenamtlich – Großartiges leisten, trotz der schlechten Ergebnisse. Wir müssen ihnen gerade in stürmischen Zeiten den Rücken stärken.

Die Vielstimmigkeit der Partei wird von vielen Genossinnen und Genossen derzeit als wesentlichstes Problem gesehen. Wie willst du Die Partei führen, um dieses Problem zu überwinden?

Ich bin überzeugt davon, dass eine Partei verschiedene Positionen innerhalb eines gewissen Spektrums aushalten muss. 60.000 Menschen haben nun mal unterschiedliche Hintergründe und damit auch andere Auffassungen zu bestimmten Themen. Was uns aber doch eint, ist der Kampf für eine bessere, eine gerechtere Welt. An diesen Kern müssen wir uns erinnern und bei den Differenzen, die wir in Fragen der Ausgestaltung haben, im Kopf behalten, dass das Gegenüber nicht Gegner:in, sondern Genoss:in ist. Die Diskussionen müssen intern geführt werden, nicht über die Presse und sie brauchen eine Form, die einer linken Partei angemessen ist. Wir fordern Toleranz – also sollten wir sie auch intern üben. Unser höchstes Gremium ist der Parteitag, an seinen Beschlüssen müssen wir uns ausrichten und sie gemeinsam nach außen vertreten.

Wir wissen alle, DIE LINKE ist derzeit in einer schwierigen Situation. Was muss deiner Ansicht nach geschehen, damit unsere Partei wieder eine Rolle in den gesellschaftlichen Debatten spielt?

Nach außen nicht mit gegensätzlichen Positionen aufzutreten ist dafür mit Sicherheit die absolute Grundvoraussetzung. Die Menschen müssen wissen, wofür wir stehen. Und die Menschen haben ja auch ein klares Bild von uns: wir sind die Partei der sozialen Gerechtigkeit. Daher will ich dieses Thema wieder stärker im Vordergrund unserer Partei sehen. Hierzu müssen wir unsere Kommunikation verbessern. Jedes einzelne Thema lässt sich unter dem Aspekt der sozialen Gerechtigkeit betrachten und dort sind wir die Expert:innen. Das müssen wir vor allem vor Ort zeigen, unsere Mitglieder sind unsere größte Stärke. Sei es an Infoständen, als Gewerkschafter:innen, auf Demos oder als Kommunalpolitiker:innen – sie zeigen, was uns als Linke ausmacht. Hier müssen wir von Bundesebene unterstützen. Wir müssen unsere Erfolge stärker in den Vordergrund rücken – sei es in Regierungsverantwortung, als streitbare Opposition oder außerhalb der Landtage.

Bist du Gewerkschaftsmitglied und wenn ja, warum?

Ja, ich bin Mitglied bei ver.di. Ich finde es überaus wichtig, dass sich die Kolleg:innen gemeinsam organisieren und für ihre Interessen kämpfen. Das schafft Solidarität in den Betrieben und darüber hinaus. Die Gewerkschaftsmitgliedschaft war und ist daher für mich selbstverständlich.

Viele Kolleginnen und Kollegen berichten uns, dass DIE LINKE in ihrem Leben und auch in ihrem Betrieb keine Rolle spielt. Wie wichtig ist aus deiner Sicht die gewerkschaftliche und betriebliche Verankerung der LINKEN und wie kann diese befördert werden?

Ich finde diese Verankerung sehr wichtig. Ich selbst war vor meinem Einzug in den Bundestag Mitglied in unserer betrieblichen Mitarbeitendenvertretung (als kirchlicher Träger gab es keinen Betriebsrat, sondern die MAV). Umso mehr Sorge bereitet es mir, dass wir hier unsere Verankerung mehr und mehr einbüßen. Dennoch gibt es für diese Frage kein Patentrezept. Die Vernetzung mit den Gewerkschaften auf allen Ebenen ist dabei in meinen Augen die Basis, dies wieder auszubauen – durch Unterstützung von Streiks, sei es durch Soli-Erklärungen, Redebeiträge oder Teilnahme, gemeinsamen Austausch z.B. in Mitgliederversammlungen und Zusammenarbeit auf kommunaler Ebene, speziell auch in der Kommunalpolitik, können wir eine engere Anbindung erreichen.

DIE LINKE hat ein gutes Programm. Aber das allein reicht natürlich nicht. Wie gelingt es uns, Forderungen nach einer stabilen Rente oder einer höheren Tarifbindung durchzusetzen?

Da wo wir mitregieren, können wir natürlich konkret Dinge tun um beispielsweise die Tarifbindung zu erhöhen. In Berlin werden ja beispielsweise Fördergelder im Einzelhandel, Gastronomie und Hotellerie an die Tarifbindung gekoppelt werden. Das ist die eine Seite. Da wo wir nicht regieren, insbesondere im Bund müssen wir einerseits parlamentarischen Druck auf die Regierung ausüben, indem wir entsprechende Anträge und Initiativen einbringen und andererseits außerhalb des Parlaments den Protest organisieren, natürlich zusammen mit den Gewerkschaften.

Weißt du, was derzeit ein Pfund Butter kostet?

Ich habe bereits vor einigen Wochen im Bundestag meine Rede zum Kindersofortzuschlag mit genau diesem Beispiel eingeleitet: ein Päckchen Butter kostet inzwischen drei Euro! Seitdem sind die Preise noch weiter gestiegen, gerade bei Grundnahrungsmitteln ist das fatal. Die immer länger werdenden Schlangen vor den Tafeln sind eine einzige Schande für dieses Land!

Momentan geht die Inflation durch die Decke. Insbesondere Menschen mit geringen Einkommen ächzen unter dieser Belastung. Was kann dagegen getan werden und was müssen vor allem wir als LINKE machen, um den Menschen zu helfen?

Ich finde zum Beispiel den Vorschlag gut, die Mehrwertsteuer auf Lebensmittel vorübergehend auszusetzen. Indirekte Steuern sind unsozial, da sie für alle gleich hoch sind – egal welches Einkommen zur Verfügung steht. Zudem halte ich eine staatliche Preisaufsicht für sinnvoll. Dass mit Gütern des täglichen Bedarfs in Krisenzeiten durch künstliche Verteuerung die Gewinne der Konzerne noch weiter in die Höhe getrieben werden, ist völlig inakzeptabel. Und nicht vergessen werden darf an dieser Stelle der Ausbau erneuerbarer Energien, denn ein großer Teil der Preisanstiege geht letztlich auch auf gestiegene Energiepreise zurück.

Nicht zuletzt muss auf der anderen Seite angesetzt werden: Menschen mit niedrigem Einkommen müssen stärker entlastet werden, wir brauchen eine Grundsicherung, die weit über den aktuellen Hartz-IV-Sätzen liegt, denn die kürzlich beschlossenen Einmalzahlungen oder der lächerliche Kindersofortzuschlag können nicht im Ansatz abfedern, was an Mehrausgaben zusammenkommt. Dort wo wir in Verantwortung sind, müssen entsprechende Spielräume genutzt werden. Wo wir in Opposition sind, müssen wir die Bewältigung des Alltags der Menschen in den Debatten in den Mittelpunkt rücken. Darüber hinaus sollten wir schnellstmöglich mit den Gewerkschaften und anderen Organisationen ins Gespräch gehen, Protest organisieren und die Verzweiflung der Menschen sichtbar machen.

Als Reaktion auf den Krieg in der Ukraine wird auf der europäischen Ebene derzeit Druck gemacht für ein Öl- und Gasembargo. Wie stehst du dazu und wer wären die Leidtragenden eines solchen Embargos?

Es ist zu befürchten, dass die Leidtragenden, wie immer, diejenigen mit niedrigem Einkommen sein werden und dass die Bundesregierung sie, ebenfalls wie immer, im Stich lassen wird. Gerade im Osten Deutschlands hängen zahlreiche Arbeitsplätze an den Öl-Importen. Wenn ein Embargo kommt, braucht es einen Schutzschirm für betroffene Unternehmen und vor allem die Beschäftigten.  Erneut drohen ganze Regionen in drastischem Maße abgehängt zu werden. Gleichzeitig scheint mir der Nutzen eines solchen Embargos nur symbolischer Natur zu sein. Zum einen ist nur ein Teil der Importe aus Russland betroffen und zum anderen findet Russland problemlos neue Absatzmärkte für sein Öl. Zudem importieren wir weiter fleißig aus Ländern wie Katar. Diese hektischen Debatten lenken vor allem davon ab, dass die letzten Regierungen den Weg zu erneuerbaren Energien blockiert haben, um einigen Konzerne weiterhin Profite zu sichern.

Und wie stehst du zu Sanktionen gegenüber Russland ganz allgemein?

Prinzipiell halte ich Sanktionen für richtig – sofern sie denn die Richtigen treffen. Die russische Kriegsindustrie oder Oligarchen, die den ‚Putinschen Machtapparat‘ am Laufen halten, müssen gezielt geschwächt werden. Deutschland geht hier viel zu zaghaft vor, wie sich auch an unseren Anfragen im Bundestag zeigt. Wenn jedoch die Sanktionen insbesondere die Zivilbevölkerung treffen oder gar nur symbolischer Natur sind, lehne ich sie ab.

In der zweiten Jahreshälfte wird DIE LINKE mit dem Mitgliederentscheid zu einem Bedingungslosen Grundeinkommen vor eine neue Zerreißprobe gestellt. Wie stehst du ganz persönlich zum BGE und warum?

Ich selbst bin keine Anhängerin des Konzepts, muss aber auch zur Kenntnis nehmen, dass die satzungsmäßigen Anforderungen an einen Mitgliederentscheid nun mal erfüllt sind. Ich habe aber große Zweifel hinsichtlich des Konzepts und auch hinsichtlich der erhofften Wirkung. Ich habe weiterhin die Sorge, dass die Übernahme des BGE in unseren Forderungskatalog unsere Politikfähigkeit gerade in den Betrieben noch weiter schmälern würde.

Was war dein letztes Buch, das du gelesen hast und würdest du es weiterempfehlen?

Das letzte Buch, das ich gelesen habe, war „Girly Drinks – A world history of women and alcohol“ von Mallory O’Meara. Es verbindet Feminismus, die Geschichte von Alkohol sowie eine Kritik an der jeweils herrschenden Klasse und wie diese den Zugang zu Alkohol regulierte und seinen Konsum für Teile der Gesellschaft regulierte und kriminalisierte. Also alles, was man für einen guten Abend braucht. Leider gibt es das Buch bisher nur auf Englisch, ich hoffe, es wird eine Übersetzung geplant. Absolute Empfehlung. Aktuell lese ich „Alexandra Kollontai oder: Revolution für das Leben“ aus dem Dietz-Verlag, das ich auch jetzt schon weiterempfehlen kann.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das offizielle Bewerbungsschreiben von Heidi findet ihr hier auf der Webseite der Partei DIE LINKE und eine ergänzende Vorstellung auf ihrer Kandidatur-Webseite. Auf ihrer persönlichen Homepage findet ihr Informationen zu ihrer Person und ihrer Arbeit im Deutschen Bundestag. Wer es persönlicher mag, kann Heidi auf Twitter folgen: @HeidiReichinnek

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