Partei im Gespräch - Interview mit Martin Schirdewan

Partei im Gespräch - Interview mit Martin Schirdewan

Auf dem Parteitag in Erfurt wählen wir einen neuen Vorstand. Im Netz war bereits einiges über die vier aussichtsreichsten Kandidaturen für den Parteivorsitz zu lesen. Wir haben bei Janine, Heidi, Martin und Sören nachgefragt, was sie dazu bewogen hat und darüber hinaus auch, was uns sonst noch wichtig erschien. Partei im Gespräch: Wir fragen nach, sie antworten. Heute im Interview: Martin Schirdewan

BAG Betrieb & Gewerkschaft: Lieber Martin, du kandidierst Ende Juni auf dem Parteitag in Erfurt als Vorsitzender für die Partei DIE LINKE. Was hat dich dazu bewogen?

Martin Schirdewan: Mir tut die Krise unserer Partei im Herzen weh. Nach Susannes Rückzug war vielen klar, dass wir etwas in unserer Partei ändern müssen. Und zwar grundlegend. Das fängt bei der inneren Kultur an, geht weiter über die Außendarstellung der Partei und endet bei einigen ungeklärten inhaltlichen Fragen.

Ich führe seit drei Jahren in einer Doppelspitze die Fraktion The Left im Europäischen Parlament, die mittlerweile politisch schlagkräftig, unaufgeregt und erfolgreich Politik gestaltet. Diese Erfahrung möchte ich der Partei zur Verfügung stellen.

Die Linke hat auf die sozialen Fragen, auf die Frage wie Energiewende und Klimaschutz sozial gestaltet werden können oder wie wieder Friede in Europa zu sichern sein wird, wichtige und gesellschaftlich relevante Antworten und Positionen, die sonst von keiner anderen Partei vertreten werden. Ich will dazu beitragen, dass diese Positionen künftig wieder besser Gehör finden.

Die Vielstimmigkeit der Partei wird von vielen Genossinnen und Genossen derzeit als wesentlichstes Problem gesehen. Wie willst du Die Partei führen, um dieses Problem zu überwinden?

Eine Linke war, ist und bleibt immer vielstimmig. Wer unterschiedliche Positionen als Problem sieht, hat nichts aus der Geschichte der Linken gelernt. Der Partei fehlt aber ein strategisches Zentrum. Also ein Führungsteam, das in enger Abstimmung nach außen und innen geschlossen agiert und mit einer Stimme spricht. Dazu zählt für mich auch eine enge Abstimmung mit der Bundestagsfraktion.Meinetwegen können wir hart in der Sache streiten, aber fair. Zerstrittene Parteien werden nicht gewählt. Also braucht es ein einheitliches Erscheinungsbild mit einer einheitlichen Kommunikation. Ein guter Freund von mir hat immer gesagt, dass ein Sozialist die Welt aus den Augen der Schwächsten der Gesellschaft zu beurteilen hat. Mit dieser Klassenperspektive wird die soziale Frage zum Kern unserer Politik. Das gilt beim Kampf gegen Altersarmut und für gute Arbeit ebenso wie für die notwendige Energiewende und den digitalen Umbau. Diesen Erneuerungsprozess hin zu einer sozialistischen Gerechtigkeitspartei will ich gestalten.

Wir wissen alle, DIE LINKE ist derzeit in einer schwierigen Situation. Was muss deiner Ansicht nach geschehen, damit unsere Partei wieder eine Rolle in den gesellschaftlichen Debatten spielt?

Indem sie sich den realen Problemen der Leute zuwendet. Ganz einfach. Vergangenes Jahr wurde ich als Fraktionsvorsitzender wieder bestätigt, nachdem ich 2019 zum ersten Mal zum Ko-Vorsitzenden gewählt wurde. Die Fraktion The Left leite ich gemeinsam mit Manon Aubry von La France Insoumise. In unserer Fraktion sind Mitglieder mit kommunistischem Hintergrund, andere bezeichnen sich als Sozialisten, wieder andere entstammen eher den Grünen, aber auch Tierschutzparteien sind in unserer Fraktion. Dennoch agieren wir erfolgreicher denn je. Wir debattieren intern durchaus hitzig, stellen aber immer unsere gemeinsamen politischen Forderungen in den Vordergrund.

So haben wir etliche politische Erfolge erzielt: Wir sind die politische Kraft, die sich für gute Arbeit für Plattformarbeiterinnen und -arbeiter einsetzt. Ein Riesenthema, auch in Deutschland. Wir konnten durchsetzen, dass diejenigen, die auf europäischen Baustellen arbeiten, zukünftig vor tödlichem Asbest geschützt werden müssen. Ebenfalls ein Riesenthema, angesichts der gewaltigen Gebäudemodernisierungswelle, die auf uns zukommt. Wir haben Mehrheiten des Parlamentes erkämpft für die Freigabe der Impfpatente, während die Pandemie noch auf ihrem Höhepunkt wütete.

Wir haben während der Brexit-Verhandlungen den Schutz der sozialen Rechte auf die politische Agenda gesetzt. Zur richtigen Zeit mit den richtigen politischen Forderungen in echte gesellschaftliche Konflikte einzugreifen, das kann unsere Partei wieder lernen! So werden wir auch wieder als ernstzunehmender politischer Partner wahrgenommen.

Bist du Gewerkschaftsmitglied und wenn ja, warum?

Selbstverständlich! Ich bin ver.di-Mitglied aus Überzeugung. Meine Großeltern wurden in die allereinfachsten Verhältnisse hineingeboren und haben mir ihren lebenslang bewahrten Stolz auf ihre Klasse, die Arbeiterklasse, vorgelebt. Für mich gehört linkes Bewusstsein und Gewerkschaftsmitgliedschaft zusammen. Das ist eine Frage der Solidarität.

Aber insbesondere im Osten, wo ich herkomme, haben wir enorme Probleme bei den Unternehmen und der Tarifbindung, da viel zu viele Beschäftigte nicht gewerkschaftlich organisiert sind. Da sehe ich eine große Aufgabe für unsere Partei, unsere Präsenz in den Belegschaften zu steigern und insgesamt gemeinsam mit den Gewerkschaften für gewerkschaftliche Organisation und eine hohe Tarifbindung einzutreten.

Viele Kolleginnen und Kollegen berichten uns, dass DIE LINKE in ihrem Leben und auch in ihrem Betrieb keine Rolle spielt. Wie wichtig ist aus deiner Sicht die gewerkschaftliche und betriebliche Verankerung der LINKEN und wie kann diese befördert werden?

Für Plattformarbeitende schaffen wir als Linke auf EU-Ebene gerade den rechtlichen Rahmen, damit sie sich künftig in Betriebsräten und in Gewerkschaften ohne Sorge um ihre Anstellung organisieren können. Das ist ein toller Erfolg, den wir initiiert haben! Das geschieht in enger Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften vor Ort, also den europäischen Gewerkschaftsverbänden, dem DGB, ver.di und der IG Metall, die in Brüssel aktiv sind.

In meinem Arbeitsleben vor dem EP-Mandat habe ich Betriebsräte von Coca Cola aus ganz Europa zusammengeführt, die sich über gemeinsame Arbeitskampfstrategien und Fragen praktischer Solidarität ausgetauscht haben. Einmal pro Jahr veranstalten wir als Fraktion eine große Gewerkschaftskonferenz, die TUNE-Konferenz, bei der wir mit Betriebsräten und Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern aus Europa gemeinsame Strategien angesichts der ökologischen und digitalen Transformation diskutieren und abstimmen. Zudem stehe ich in stetigem Austausch mit den Gewerkschaftsvertretern zu aktuellen Gesetzgebungsvorhaben der EU. So sieht für mich praktische politische Arbeit mit den Gewerkschaften aus.

Viele in den Gewerkschaften machen sich Sorgen um DIE LINKE. Ihnen, unseren Kolleginnen und Kollegen, müssen wir erstmal wieder den Rücken stärken. Auch sie wollen eine starke LINKE. Und viele haben uns in den vergangenen Monaten und Jahren trotz alledem die Stange gehalten. Erst, wenn wir selber wieder positiv und selbstbewusst auf unsere erfolgreiche politische Arbeit verweisen, können wir attraktiv für neue Mitglieder sein und nach außen strahlen.

DIE LINKE hat ein gutes Programm. Aber das allein reicht natürlich nicht. Wie gelingt es uns, Forderungen nach einer stabilen Rente oder einer höheren Tarifbindung durchzusetzen?

Da können wir uns ein gutes Beispiel an einem der größten Erfolge der Linken nehmen, dem Mindestlohn. Dieser wurde eingeführt, weil wir ihn erfolgreich mit den Menschen auf der Straße durchgesetzt haben. Weil der Druck von links auf die SPD so hoch war, dass sie handeln musste. Die Linke muss wieder eine politisch so starke Kraft werden, dass die Leute uns zutrauen, dass wir im Kampf gegen Altersarmut und für Renten, von denen man in Würde leben kann, nicht nachlassen, bis wir uns durchgesetzt haben. Die derzeit regierenden Parteien werden das nicht aus Menschenliebe oder politischer Überzeugung veranlassen. Das müssen wir mit Gewerkschaften und Betriebsräten Seite an Seite erkämpfen. Und wir sollten den Menschen auch eine klare Umsetzungsperspektive vermitteln. Ich rede von unserer Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, um politische Ziele durchzusetzen.

Weißt du, was derzeit ein Pfund Butter kostet?

Ich kaufe in der Regel immer 250gr Packungen und neulich habe ich ein wenig mehr als 2 Euro gezahlt. Ich kann mich aber noch gut erinnern, vor einem halben Jahr noch deutlich unter 2 Euro gezahlt zu haben. Bei hohen Abgeordnetendiäten fällt das weniger ins Gewicht, aber ich kenne viele aus meinem Kiez, die bei dem Preisanstieg der vergangenen Monate die Cents mehrfach im Portemonnaie umdrehen, ehe sie sich mal den leckeren Käse gekauft haben. Deswegen fordere ich ja auch, die Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel auf 0 zu setzen, ein Verbot von Spekulation mit Nahrungsmitteln und kostenlose Kindergarten- und Schulspeisung.

Momentan geht die Inflation durch die Decke. Insbesondere Menschen mit geringen Einkommen ächzen unter dieser Belastung. Was kann dagegen getan werden und was müssen vor allem wir als LINKE machen, um den Menschen zu helfen?

Endlich wieder die Menschen und deren Belange und Ängste in den Fokus der Politik zu rücken, bedeutet, dass wir jetzt etwas gegen die explodierenden Energie- und Nahrungsmittelpreise machen müssen. Ein Energiepreisdeckel muss her, damit alle sich den Strom zum Leben leisten können. Und die deutsche Bundesregierung und allen voran der Finanzminister Lindner müssen ihren Widerstand gegen die überfällige Einführung einer Übergewinnsteuer auf Krisengewinne aufgeben. Diese Steuer gibt es bereits in vielen europäischen Staaten. Ich kämpfe im EP seit vielen Monaten für deren Einführung.

Apropos Finanzminister Lindner: Der hat die Interessen der Aktionärinnen und Aktionäre von Nestle im Blick. Wir sind dafür da, dass sich alle am Ende des Monats auch noch die Butter von Nestle leisten können. Und natürlich müssen wir die Gewerkschaften politisch darin unterstützen, gute Lohnabschlüsse zu erzielen, damit der Lohn nicht immer weiter von der galoppierenden Inflation aufgefressen wird.

Als Reaktion auf den Krieg in der Ukraine wird auf der europäischen Ebene derzeit Druck gemacht für ein Öl- und Gasembargo. Wie stehst du dazu und wer wären die Leidtragenden eines solchen Embargos?

Die unmittelbar Leidtragende dieses Krieges ist die Bevölkerung der Ukraine. Als die einzige deutsche Friedenspartei müssen wir jeden Tag für ein Ende dieses fürchterlichen Krieges eintreten. Als moderne sozialistische Gerechtigkeitspartei wissen wir, dass Klimaschutz und Energiewende nur gelingen werden, wenn sie Akzeptanz in der Bevölkerung finden. Selbstverständlich werden wir angesichts der drohenden Klimakatastrophe weg von fossilen Energieträgern müssen. Und das gilt auch für russisches Öl und Gas. Wenn jetzt aber bald – so wie es das jüngste Sanktionspaket der EU vorsieht – der Ölhahn zugedreht werden soll, dann muss es jetzt für die betroffenen Regionen Entwicklungsperspektiven geben. Und dafür muss Geld in die Hand genommen werden. Und es muss Jobgarantien geben für die Leute in Schwedt und Leuna. Die dürfen wir nicht im sauren sozialen Regen stehen lassen. Hier kann DIE LINKE ihren Gebrauchswert unter Beweis stellen, indem wir vernehmbar diejenigen sind, die genau das fordern: Jobgarantien und ausfinanzierte Entwicklungsperspektiven.

Und wie stehst du zu Sanktionen gegenüber Russland ganz allgemein?

Ich befürworte harte gezielte Sanktionen gegen Putin und seinen Machtapparat. Nur wenn diese Leute getroffen werden, kann dieser Krieg schneller ein Ende finden. Ich befürworte auch Sanktionen gegen den militärisch-industriellen Komplex, um die Kriegsfähigkeit einzuschränken. Für absoluten Unsinn halte ich Sanktionen gegen die Zivilgesellschaft. Europa sollte aber darüber hinaus international immer die Rolle des Vermittlers und Diplomaten spielen und alles in seiner Macht Stehende tun, diesen Krieg zu beenden und die durchaus mögliche Eskalation und Ausbreitung zu verhindern.

In der zweiten Jahreshälfte wird DIE LINKE mit dem Mitgliederentscheid zu einem Bedingungslosen Grundeinkommen vor eine neue Zerreißprobe gestellt. Wie stehst du ganz persönlich zum BGE und warum?

Die Durchführung des Entscheids fällt in die Amtszeit des Vorstands, den wir auf dem Erfurter Parteitag wählen. Aufgabe ist es, und dafür werbe ich schon jetzt, diese Abstimmung nicht in eine Zerreißprobe münden zu lassen, sondern beide Positionen (Ablehnung, Zustimmung) in der Partei zu halten und zu respektieren. Es steht unserer Partei gut zu Gesicht, konstruktiv über Formen der sozialen Sicherheit der Zukunft zu diskutieren. Wir werden dafür Sorge tragen, dass die Argumente bezüglich der Finanzierung, der arbeits- und lebensethischen Dimension sowie der Chancen und Gefahren für bestehende soziale Sicherung in einer guten Atmosphäre ausgetauscht werden und niemand als Verlierer vom Platz geht. Für Gewinnergebaren, den Triumph über andere Genossinnen und Genossen, ist in unserer Partei kein Platz, für solidarischen Umgang miteinander aber umso mehr. In meinem persönlichen Abwägungsprozess überwiegt derzeit die Skepsis.

Was war dein letztes Buch, das du gelesen hast und würdest du es weiterempfehlen?

Ich empfehle das Buch „Depeche Mode“ von Serhij Zhadan. Serhij ist ein ukrainischer Schriftsteller, der in diesem Buch die postsowjetische Wende beschreibt. Das ist so unglaublich klug und witzig geschrieben, ich als alter Ossi hab mich weggeworfen vor Lachen. Absolute Leseempfehlung.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das offizielle Bewerbungsschreiben von Martin findet ihr hier auf der Webseite der Partei DIE LINKE. Auf seiner persönlichen Homepage findet ihr Informationen zu seiner Person und seiner Arbeit im Europäischen Parlament und im Wahlkreis. Wer es persönlicher mag, kann Martin auf Twitter folgen: @schirdewan

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