Klassenorientierte Klimapolitik - Was ist das eigentlich?

Klassenorientierung meint, gesellschaftliche Entwicklungen durch die Brille der Lohnabhängigen zu betrachten. Bei "Eine Linke Für Alle" taucht nun der Begriff »klassenorientierte Klimapolitik« (für alle?) auf. Was wir darunter verstehen? Hier unser Vorschlag.

Klassenorientierte Klimapolitik - Was ist das eigentlich?
Bild: Mika Baumeister / Unsplash

von Ulrike Eifler

Die Linke setzt einen starken Schwerpunkt auf die Frage nach sozialer Gerechtigkeit, aber auch auf den Aspekt der Klimagerechtigkeit. Im Zentrum steht dabei, die soziale und die ökologische Frage miteinander auszusöhnen und zu verbinden. Dabei knüpft der innerparteiliche Diskurs an eine wichtige und seit einigen Jahren geführte Diskussion über die Notwendigkeit einer klassenorientierten Politik an. Gemeint ist, die gesellschaftlichen Entwicklungen und Widersprüche durch die Brille der Lohnabhängigen zu betrachten. Im Kontext der neuen Kampagne "Eine Linke für alle" tauchte nun der Begriff der klassenorientierten Klimapolitik (für alle) auf. Ein Begriff, der ausbuchstabiert und inhaltlich entwickelt werden muss. Die folgenden Thesen sollen einen Beitrag dazu leisten.

These 1: Keine "Klimapolitik für alle"

Klassenorientierte Klimapolitik ist keine Klimapolitik für alle, denn Klassenpolitik geht von den bestehenden Widersprüchen zwischen den Klassen aus, die als Triebfeder für die soziale und ökologische Zerstörung fungieren. Der richtige antikapitalistische Fokus der Klimabewegung, der sich in der Formel "System Change, not Climate Change" verdichtet, setzt an diesen Widersprüchen an. Doch das kapitalistische Ausbeutungs- und Profitsystem darf nicht nur als Verursacher identifiziert werden. Über die Problembeschreibung hinaus muss aus den Klassenwidersprüchen eine Handlungsfähigkeit abgeleitet werden.

In der Auseinandersetzung um eine erfolgreiche sozial-ökologische Transformation muss Die Linke die Welt der Arbeit als Bezugspunkt und die Klasse der Lohnabhängigen als handelndes Subjekt betrachten.

Lohnarbeit hat sich in den letzten 150 Jahren verändert, aber noch immer wird sie von diejenigen verrichtet, die arbeiten müssen, weil sie das Geld zum Leben benötigen – das gilt für Stahlarbeiter ebenso wie für Pflegekräfte, für Kohlekumpel ebenso wie für Lokführer. DIE LINKE muss ihre Strategie für eine klassenorientierte Klimapolitik also aus dem Kapital-Arbeit-Verhältnis ableiten: Wer die Welt des Kapitals schwächen will, muss die Welt der Arbeit stärken. Dieser Grundsatz muss handlungsleitend werden.

These 2: Zentrale Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit

Klassenorientierte Klimapolitik muss den Kampf um die sozialökologische Transformation als zentrale Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit einordnen. Dabei geht es um mehr als "nur" die Dekarbonisierung der Stahlindustrie. Es geht um die große Frage, wie wir leben und arbeiten wollen. Der Kampf für eine sozial-ökologische Transformation muss als Auseinandersetzung um die Ausfinanzierung des Sozialstaates verstanden werden, weil nur so der enge betriebliche Rahmen rein technischer Umbauprozesse durchbrochen und der Handlungsspielraum auf die gesellschaftliche Ebene gezogen werden kann.

Er muss als Auseinandersetzung um die Frage verstanden werden, wer was warum entscheidet, weil Beteiligung, Partizipation und Mitbestimmung der Lohnabhängigen darüber bestimmt, ob aus der ökologischen eine sozial-ökologische Transformation wird.

Es ist die Auseinandersetzung um den Grundsatz, dass sich politische und wirtschaftliche Entscheidungen nicht an kurzfristigen Profitinteressen, sondern an tatsächlichen gesellschaftlichen Bedarfen orientieren müssen. Es ist aber auch die Auseinandersetzung darum, dass die Dekarbonisierungskosten, die betrieblich wie gesellschaftlich entstehen, nicht auf die unteren Klassen abgewälzt werden.

These 3: Die gesamte Klasse in den Blick nehmen

Klassenorientierte Klimapolitik muss die gesamte Klasse in den Blick nehmen. Dazu gehören auch diejenigen, die ihrer Lohnarbeit in ökologisch prekären Bereichen nachgehen müssen und die vielleicht von einer Fortsetzung der fossilen Produktion profitieren würden. Dazu zählen etwa die Beschäftigten in der Braunkohleindustrie, in der energieintensiven Chemieindustrie oder in der Stahlindustrie. Das ist deshalb wichtig, weil klassenorientierte Klimapolitik das doppelte Schutzbedürfnis dieser Beschäftigten zum Ausgangspunkt der Betrachtung machen muss. So sind die Beschäftigten in diesen Bereichen doppelt verwundbar: Zum einen sind sie als Erdenbürger den Folgen des Klimawandels ausgesetzt. Zum anderen stehen sie unter dem Risiko, den Arbeitsplatz zu verlieren. Die Sicherung gut bezahlter und abgesicherter Arbeitsverhältnisse muss mit der gleichen Leidenschaft und Empathie und mit dem gleichen politischen Verantwortungsbewusstsein in den Blick genommen werden, wie dies auch für die Rettung des Klimas geschieht.

Zentral für eine klassenorientierte Klimapolitik wird sein, dass sie den Blick der abhängig Beschäftigten einnimmt und dabei deren Widersprüche nicht leugnet, sondern so bearbeitet, dass diese sie nicht daran hindert, handlungsfähig zu werden.

Klassenorientierte Klimapolitik bedeutet daher auch, diskriminierende und spaltenden Ideen, wie sie beispielsweise die AfD vertritt, entgegenzutreten, denn sie verhindern, dass die Lohnabhängigen in die Lage versetzt werden, als Klasse zu agieren.

These 4: Deindustrialisierung ist nicht die Lösung

Klassenorientierte Klimapolitik darf die Lösung der Klimakrise nicht in der Deindustrialisierung sehen. Sie muss vielmehr das Ziel verfolgen, industrielle Wertschöpfung zu erhalten und umzubauen. Die Forderung, fossile Industrien müssten schrumpfen oder gar beseitigt werden, ist keine klassenpolitische Antwort auf die Klimakrise. Sie blendet aus, dass tausende Arbeitsplätze am Fortbestand dieser Industrien hängen. Gleichzeitig hat die Agorastudie zu Jahresbeginn gezeigt, dass Deindustrialisierung zwar CO2-Emissionen einspart, diese aber nach erfolgten Produktionsverlagerungen an anderer Stelle entstehen. Um industrielle Fertigungsprozesse zu dekarbonisieren, muss die Industrie erhalten bleiben, auch deshalb, weil sie die Voraussetzung für eine erfolgreiche Klimawende ist: Denn der Ausbau von Pflege, Bildung und Mobilität funktioniert nur, wenn in den Ausbau des Schienenverkehrs, in Gebäude oder technische Infrastruktur investiert wird. Wer sich vom Wachstumsbegriff verabschiedet, gibt die Entscheidung aus der Hand, was wachsen soll und was nicht. Klassenorientierte Klimapolitik darf die Definition, die Erzeugung und die Verteilung von Wertschöpfung nicht den Märkten überlassen, sondern muss Wachstumsfragen als Demokratisierungsfragen betrachten.

These 5: Friedenspolitik ist Klimapolitik

Klassenorientierte Klimapolitik muss die geopolitische Dynamik in den Blick nehmen und auf die Schwierigkeiten hinweisen, die sich aus wachsender Kriegsgefahr und neuer Aufrüstung für Klima- und Gerechtigkeitsbewegung ergeben. Wenn Krieg und Aufrüstung Konjunktur haben, dann hat das nicht nur verheerende Folgen für Verteilungs- und Klimakämpfe. Vielmehr beschleunigen sich der Klimawandel und soziale Ungerechtigkeiten dadurch, und der Planet stirbt. Die aktuelle geopolitische Konfrontationspolitik ist nicht kompatibel mit der notwendigen globalen Kooperation, die uns der Kampf gegen den Klimakollaps diktiert. Die Trennung der Grünen von ihren friedenspolitischen Wurzeln in einer Zeit wachsender ökologischer Konflikte schwächt Friedensbewegung und Klimabewegung gleichermaßen. Gleiches gilt für die Gerechtigkeitsbewegung, die durch die neue Kriegsrhetorik der SPD geschwächt wird. In der Gesellschaft gibt es untergründige Anzeichen dafür, dass das Bedürfnis, sich gegen den Krieg zu positionieren, wächst. Doch bislang fehlt dafür ein Kristallisationspunkt. Gerade weil SPD und Grüne sich aus der Friedensbewegung verabschiedet haben, muss Die Linke zum organisierenden Zentrum werden und die Anliegen der Bewegungen zu einer Gesamtperspektive weiten.

These 6: Reformallianzen mit den Gewerkschaften

Klassenorientierte Klimapolitik muss auf Reformallianzen mit den Gewerkschaften setzen. Sie sind, um es mit Marx zu sagen, "Sammelpunkte des Widerstands gegen die Gewalttaten des Kapitals". Das muss sowohl für soziale als auch für ökologische "Gewalttaten" gelten – denn Antrieb ist in beiden Fällen die Abwälzung der Produktionskosten auf Mensch und Natur. Dabei muss festgestellt werden, dass die Gewerkschaften keine Veto-, sondern Gestaltungsakteure sind. Die Erfahrungen aus früheren Strukturwandelprozessen beispielsweise im Ruhrgebiet zeigen, Strukturwandel lässt sich nicht aufhalten. Gewerkschaften können diesen Wandel nur gestalten, damit Industrien nicht zerstört, Arbeitsplätze nicht ersatzlos gestrichen und Regionen nicht abgehängt werden. Die Linke muss die Gewerkschaften in der Rolle als Gestaltungsakteur bestärken. Ziel muss sein, dass die Gewerkschaften Treiber der Transformation werden, um aus dem ökologischen Umbau industrieller Fertigung eine echte sozial-ökologische Transformation zu machen – eine Transformation, die den Erhalt bzw. die Schaffung von Arbeitsplätzen in den Mittelpunkt stellt.

These 7: Gewerkschaftliche Strategiebildung in den Blick nehmen

Klassenorientierte Klimapolitik muss die Herausforderungen, vor denen die Gewerkschaften angesichts der komplexen gesellschaftlichen Krisensituation stehen, analysieren und das Eingreifen in gewerkschaftliche Strategiebildung in den Blick nehmen. Ziel muss dabei sein, dass die Gewerkschaften als Transformationsakteur handlungsfähig werden. Dieser Diskurs über die Handlungsfähigkeit der Gewerkschaften kommt an der Diskussion über die Wahrnehmung des gesellschaftspolitischen Mandates nicht vorbei. Das bedeutet einerseits wahrzunehmen, dass das Kerngeschäft der Gewerkschaften, die Sicherung der Einkommen ihrer Mitglieder, in der komplexen Krisensituation nicht allein auf der betrieblichen Ebene geregelt werden kann. Nicht mehr nur durch Managemententscheidungen kommen die Arbeitsbedingungen unter Druck, sondern auch durch gesellschaftliche Entwicklungen und politische Entscheidungen: Die Corona-Pandemie, die zum Zerreissen von Lieferketten führt. Der Ukrainekrieg, der das Wegrechen von Märkten verursacht. Die Energiepreisentwicklung, die zum Treiber der Inflation wird. Eine neue schwindelerregende Aufrüstung, die Verteilungskonflikte verschärft. Politische Handlungsfelder verschränken sich zunehmend. Um Einkommensverluste für die Beschäftigten zu verhindern, müssen die Gewerkschaften tarifpolitisch offensiv agieren, aber gleichzeitig auch das Ende des Krieges fordern. Hinzu kommt: In Zeiten des Klimakollapses muss das gesellschaftspolitische Mandat der Gewerkschaften auch ökologiepolitisch ausgerichtet werden. Klassenorientierte Klimapolitik muss ihre Kernaufgabe in der Unterstützung gewerkschaftlicher Strategiebildung sehen.

These 8: Die Lohnabhängigen als Subjekt der Veränderung

Klassenorientierte Klimapolitik muss die Klasse der Lohnabhängigen als Subjekt gesellschaftlicher Veränderung in den Mittelpunkt stellen. Das bedeutet einerseits zu verhindern, dass die Kosten der Dekarbonisierung auf die abhängig Beschäftigten abgewälzt werden. Und es bedeutet zum anderen, dass diese in die Lage versetzt werden, mitbestimmt und gestaltend auf unterschiedlichen Ebenen einzugreifen. Auf der betrieblichen Ebene durch eine Anpassung der betrieblichen Mitbestimmung an die Herausforderungen der Transformation, um in ökologische Umbauprozesse so einzugreifen, dass sie ökologisch sinnvoll und arbeitsplatzerhaltend sind. Auf der gesellschaftlichen Ebene durch den Aufbau von Transformationsräten, um die für die Transformation notwendigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen durchzusetzen. Auf der Utopieebene durch die Stärkung des Diskurses über Wirtschaftsdemokratie, weil der Umbau von Produktions- und Lebensweise nur dann erfolgreich sein wird, wenn er einen vollständigen Bruch mit der profitgetriebenen Logik im Kapitalismus darstellt. Die Beteiligung der Beschäftigten ist daher der Schlüssel für eine echte sozial-ökologische Transformation, weil sie nur so in die Lage versetzt werden, ihre sozialen und ökologischen Interessen im Konflikt zwischen den Klassen durchzusetzen. Wenn wir sagen, Subjekt gesellschaftlicher Veränderung ist die Lohnabhängigenklasse, dann beginnt das hier und jetzt mit der Gestaltung der Transformation.

These 9: Bewegungen zusammenbringen

Klassenorientierte Klimapolitik muss aber auch das Ziel verfolgen, die unterschiedlichen Bewegungen zusammenzubringen. Die Diskursmacht der Klimabewegung, die Entschlossenheit der Anti-AfD-Bewegung, die Erfahrung der Friedensbewegung und die Klassenverankerung der Gewerkschaftsbewegung müssen zueinander finden. Das geschieht nicht von allein, das zeigt ein Blick auf die einzelnen Bewegungen, die sich schwertun, sich aufeinander zu beziehen.

Die Linke muss aber genau darin ihre Rolle einnehmen. Allein darin besteht der strategische Wert der Partei.

Sie tut dies zum Teil auch schon, beispielsweise in der "Wir fahren zusammen"-Kampagne zur Unterstützung der Beschäftigten in der Tarifrunde des Nahverkehrs. Entscheidend wird sein, dass die Klassenorientierung dabei das Primat hat. Dreh- und Angelpunkt ist der Blickwinkel der Lohnabhängigenklasse, denn ihre Stärke kann Managemententscheidungen erzwingen. Der Sachschaden, der bei Aktionen der Klimakleber auf der Straße oder auf dem Rollfeld entstanden ist, wird zu einer hohen individuellen Belastung für den einzelnen Aktivisten. Der wirtschaftliche Schaden, den Lokführer, Zugpersonal, Stahlarbeiter oder Busfahrer anrichten, geht zu Lasten des bestreikten Unternehmens und kann dadurch eine enorme kollektive ökonomische Macht entfalten. Strategische Ausrichtung einer klassenorientierten Klimapolitik muss daher sein, als Linke in der Klimabewegung für einen "Labour Turn" und in der Gewerkschaftsbewegung für einen "Climate Turn" zu werben.

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Ulrike Eifler ist Sprecherin der BAG Betrieb & Gewerkschaft und arbeitet als Gewerkschaftssekretärin für die IG Metall