Sozial- und Erziehungsdienst: Endlich Entlastung schaffen!
Erzieher und Sozialarbeiter verhandeln ab Ende Februar über mehr Geld, mehr Zeit und mehr Personal. Der Bedarf an Unterstützung ist in der Pandemie für viele Menschen gestiegen, sagt unsere Bundessprecherin Ulrike Eifler. Wer verhindern will, dass die mentalen Pandemiekosten auf die Beschäftigten und die Menschen abgewälzt werden, muss Entlastung schaffen. Dafür braucht es den Rückenwind von uns allen.
Von Ulrike Eifler
Erzieher und Sozialarbeiter verhandeln ab Ende Februar mit den Kommunen über mehr Geld, mehr Zeit und mehr Personal. Diese Auseinandersetzung ist von großer gesellschaftlicher Bedeutung, denn es geht um weit mehr als ein bisschen mehr Geld für die Beschäftigten. Die Tarifrunde ist vielmehr eine Auseinandersetzung um den Stellenwert der öffentlichen Daseinsvorsorge und die Frage, was uns die Betreuung von Kindern, von Menschen mit Behinderung oder von Familien, die vielleicht mehr Unterstützung benötigen als andere, wert ist. Die Tarifrunde der Sozial- und Erziehungsdienste ist aber auch eine Auseinandersetzung um gesellschaftliche Umverteilung und die Frage, wer für die Kosten der Pandemie zahlt.
Wir wissen: Die kommunale Daseinsvorsorge hat in der Pandemie eine wichtige Rolle gespielt. Trotz hohen Infektionsrisikos für die Beschäftigten wurden Betreuungsangebote für Kinder oder Beratungsangebote wie Familien-, Sucht- und Verbraucherberatung aufrechterhalten. Der Bereich der Sozial- und Erziehungsdienste gehört zu den sogenannten systemrelevanten Branchen. Die Beschäftigten konnten sich nicht ins Homeoffice zurückziehen. Insbesondere die Betreuung der Kinder wurde zur Voraussetzung dafür, dass unsere Krankenhausversorgung, der Lebensmittelverkauf, der öffentliche Personenverkehr oder die Energieversorgung auch weiterhin sichergestellt werden konnten.
Doch wir wissen auch, dass die Kindergärten, Behinderteneinrichtungen und Sozialberatungen seit Jahren unter personeller Unterbesetzung leiden. Dieser Zustand verschärfte sich in der Pandemie mit rasanter Geschwindigkeit. Die Beschäftigten arbeiteten nicht nur unter einem hohen persönlichen Infektionsrisiko weiter, sondern auch in reduzierter Besetzung. Denn jede fünfte Beschäftigte gehörte einer Risikogruppe an und war nur noch bedingt einsatzfähig. Jede Zweite erkrankte an Corona und fiel zeitweise aus. Die Folge war eine enorme Arbeitsverdichtung – nicht zuletzt durch die vielen zusätzlichen Infektionsschutzmaßnahmen, die zu organisieren waren. Eine von ver.di in Auftrag gegebene Branchenbefragung fand heraus, dass sich zwei von drei Beschäftigten überlastet fühlen und jede Dritte über einen Stellen- oder Berufswechsel nachdenkt.
Doch damit nicht genug: Das Bedürfnis nach Orientierung, Beratung und Unterstützung ist bei vielen Menschen in der Pandemie rasant gestiegen. Die Pandemie hat tief in das Leben von Kindern und Jugendlichen hinsichtlich ihrer Bildungs- und vielfältigen Entwicklungsmöglichkeiten eingegriffen. Depressionen und Angststörungen haben zugenommen. Manche Kinder und Jugendliche werden kurz-. mittel- und wahrscheinlich auch langfristig von den pandemiebedingten Belastungen begleitet bleiben. Die Pandemie wirke als Verstärker von bereits zuvor bestehenden Ungleichheiten und Entwicklungsrisiken, schrieb die Leopoldina-Akademie im Juni 2021. Und auch die Kinder- und Jugendärzte sind sich einig: Nach zwei Jahren Pandemie brauchen Kinder und Jugendliche nicht weniger, sondern mehr Betreuungs- und Beratungsangebote.
Diese Entwicklung zeigt: Die Arbeitsbedingungen der Kolleginnen und Kollegen im Sozial- und Erziehungsdienst haben Einfluss auf unser gesellschaftliches Zusammenleben. Die Probleme vieler Menschen haben in der Pandemie zugenommen, gleichzeitig haben sich die Möglichkeiten der Fachkräfte, darauf in notwendigem Umfang einzugehen, verschlechtert. Unterm Strich ist diese Entwicklung eine Katastrophe. Sozialarbeiter und Erzieher bieten Prävention, Bildung und Unterstützung in verschiedenen, auch schwierigen Lebenslagen. Doch in einer Zeit, in der der gesellschaftliche Bedarf für diese Tätigkeiten steigt, werden die Beschäftigten in Kitas, Frauenhäusern und Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen zunehmend allein gelassen.
Die Beschäftigten sind sich einig: Das in der Pandemie angestiegene Arbeitspensum ist kaum zu bewältigen. Statt zwei bis drei Jahre betreut man eine Familie oft nur noch ein Jahr, sagen Sozialpädagogen in der ver.di-Branchenanalyse. Für eine empathische und ganzheitliche Unterstützung fehle die Zeit. Statt die Familien dabei zu unterstützen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, könnten sie diese oft nur noch „managen“. In der Konsequenz werden die Beschäftigten zwischen dem eigenen Qualitätsanspruch an die Arbeit und den unzureichenden Rahmenbedingungen aufgerieben. Nicht selten führe die dauerhaft hohe Arbeitsintensität zu unbezahlter Mehrarbeit und zunehmend zum Verzicht auf Pausen- und Urlaubstage.
Die Forderungen der Sozialpädagogen in der anstehenden Tarifrunde sind also nicht nur mehr als berechtigt, sondern für die Kompensation der mentalen Krisenfolgen und die Sicherstellung des gesellschaftlichen Zusammenhaltes notwendig. Doch sie treffen auf eine kommunale Finanz- und Haushaltelage, die sich nach Einschätzung der Städte, Gemeinden und Kreise in der Pandemie zugespitzt hat. Eine Vorab-Auswertung des KfW-Kommunalpanels 2021 kommt zu dem Ergebnis, dass sich bei mehr als einem Drittel der befragten Kommunen sowohl die Einnahmen- als auch die Ausgabensituation gegenüber dem Frühjahr 2020 verschlechtert hat. Ein weiteres Drittel habe zwar unveränderte Ausgaben, aber geringere Einnahmen. Für 70 Prozent der Kommunen fallen die Steuereinahmen schlechter aus als im Mai 2020 – trotz der Kompensationszusagen von Bund und Ländern.
Die Verhandlungsposition der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaft ist nach zwei Jahren Pandemie also nicht optimal. Doch ohne eine bessere Ausstattung der Sozial- und Erziehungsdienste und eine personelle Entlastung zahlen die dort Beschäftigten diese fehlende Bereitschaft mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen und einem Verlust an Lebensqualität. Die Pandemie war in vielerlei Hinsicht eine Zäsur. Sie sollte es auch im Umgang mit der öffentlichen Daseinsvorsorge und der Ausstattung der Sozial- und Erziehungsdienste sein. Die aktuelle Tarifrunde ist daher auch ein Kampf darum, ob uns ein gesellschaftlicher Paradigmenwechsel um den Stellenwert der Daseinsvorsorge gelingt. Ein Kampf auch darum, ob wir zulassen, dass die physischen und psychischen Krisenkosten auf die Sozialpädagogen und die Menschen abgewälzt werden.
In der Vergangenheit wurde wiederholt viel Geld in die Hand genommen, um Banken oder große Unternehmen wie die Lufthansa zu retten. Einige von ihnen haben die staatliche Unterstützung kassiert und dann ungeniert Dividenden in Milliardenhöhe an ihre Aktionäre ausgeschüttet. Jetzt muss es darum gehen, den Paradigmenwechsel in der Daseinsvorsorge einzuführen. Die Sozial- und Erziehungsdienste brauchen mehr Zeit, mehr Geld und mehr Personal, damit auch diejenigen nicht gesellschaftlich zurückgelassen werden, die es allein nicht schaffen. Wenn diese Tarifrunde also mehr ist als eine reine Lohnrunde und diese Auseinandersetzung tatsächlich eine gesellschaftliche Bedeutung hat, dann braucht es dafür jetzt auch gesellschaftlichen Rückenwind. Der Kampf der Sozialpädagogen ist der Kampf all derjenigen, die ein Interesse am Ausbau staatlicher Fürsorge haben.
Ulrike Eifler ist Bundessprecherin der BAG Betrieb & Gewerkschaft und stv. Landessprecherin der Partei DIE LINKE in NRW
Artikel wurde am 22. Dez. 2024 gedruckt. Die aktuelle Version gibt es unter https://betriebundgewerkschaft.de/tarifrunden/2022/02/endlich-entlastung-schaffen/.