Transformation der Arbeitswelt: Wiebke Köllner aus Bochum
Wiebke hat als Altenpflegefachkraft unterschiedliche Bereiche in der Pflege kennengelernt. Ohne gut ausgebildetes Personal werden die Vorteile der Digitalisierung für die Pflege nicht nutzbar gemacht, sagt sie im INterview mit uns. Zumal manche Einrichtungen die Digitalisierung bislang verschlafen und die Dokumentation noch handschriftlich vollziehen. Digitalisierung kostet aber auch Geld, da spielt die chronische Unterfinanzierung im Gesundheitssektor eine große Rolle.
Betrieb & Gewerkschaft: Kannst du uns sagen, wo genau du beschäftigt bist und welche Funktion (VK, BR, GS) du hast?
Wiebke Köllner: Ich arbeite zurzeit noch als Altenpflegefachkraft in einer stationären Pflegeeinrichtung in Bochum, wobei ich dort für Ende November gekündigt habe und aus persönlichen Gründen zur Leiharbeitsfirma wechsle. Eine besondere Funktion habe ich bei meinem jetzigen Arbeitgeber nicht.
Wie würdest du die Arbeitsbedingungen in der Pflege beschreiben?
In einem Wort? Katastrophal.
Und in mehr als einem Wort?
Ich habe verschiedene Arbeitgeber und unterschiedliche Bereiche in der Pflege kennengelernt. In meiner Zeit im Krankenhaus waren 10-12 Tage am Stück arbeiten die Regel. Darunter auch regelmäßig mit kurzem Schichtwechsel, also an einem Tag Spätdienst, am nächsten Tag Frühdienst. Selbst wenn ich mal früher gehen durfte, wurden die gesetzlich (zurecht) vorgeschriebenen 11 Stunden Ruhezeit, die man unter bestimmten Voraussetzungen ja auf 10 Stunden verkürzen darf, nicht eingehalten. Der Spätdienst geht bis 21:00 Uhr, der Frühdienst beginnt in der Regel zwischen 6:00 und 7:00 Uhr (je nachdem wie ich im Schichtdienst eingeteilt wurde, normal war 6:00 Uhr Dienstbeginn).
Im ambulanten Dienst war das noch schlimmer. Vollzeit arbeiten bedeutet in der Regel 12 Tage am Stück arbeiten, 2 Tage frei – meist in diesem Rhythmus. Spätestens ab Tag 7 war ich eigentlich nur noch körperlich anwesend. Aufgrund des Personalmangels bin ich damals dabei sogar in meiner Ausbildung mit meinem privaten Auto zu dem ein oder anderen Pflegebedürftigen gefahren, weil ich Angst hatte, diese würden sonst nicht versorgt werden. Zumindest entstand diese Angst durch die Worte meines damaligen Vorgesetzten.
In der stationären Altenpflege habe ich ebenfalls keine guten Arbeitsbedingungen erfahren. 5 bis 6 Tage-Woche, je nach Vertrag (wobei die privaten Einrichtungen da erfahrungsgemäß ohne Tarifvertrag immer noch schlechter sind, als die der freigemeinnützigen Träger), fast täglich Überstunden, damit so das Allernotwendigste noch irgendwie erledigt werden konnte. Ständiger Druck von oben „Du musst schneller arbeiten, sonst schaffst du deine übrigen Aufgaben neben Grund- und Behandlungspflege nicht.“ Ja… das heißt bei manchen Trägern, dass neben den pflegerischen Tätigkeiten auch hauswirtschaftliche Arbeiten anfallen wie Mahlzeiten vorbereiten, Wäsche waschen, saubere Wäsche verteilen, usw. Bei einem katholischen Träger mussten wir über drei Jahre kämpfen, ehe wir überhaupt eine Mitarbeitervertretung gründen durften.
Da ich parallel noch studiere bin ich darauf angewiesen, dass man bei der Dienstplangestaltung meine Vorlesungszeiten berücksichtigt, die in der Regel zwischen 18:00 und 21:00 Uhr und immer mal wieder samstags stattfinden. Ich erinnere mich an keinen einzigen Monat in dem ich nicht zu meiner Vorgesetzten gegangen bin und gesagt habe, dass irgendwas so im Dienstplan nicht nach Absprache gelaufen ist. Auch vor meinem Studium wurden private Termine selten bis gar nicht berücksichtigt.
Was ich ebenfalls sehr kritisch finde ist die fehlende psychologische Unterstützung für uns Pflegekräfte. Viele deutsche Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen haben keine psychologischen Versorgungsstrukturen. Die wären für die Kolleginnen und Kollegen aber dringend notwendig gewesen, die damals mitbekommen haben, wie ein Pflegebedürftiger aus dem 8. Stock gesprungen ist.
So viel zu den Arbeitsbedingungen.
Gibt es denn jetzt in der Pandemie ein Umdenken und eine andere Ausstattung der Pflege?
Jein. Also in dem jetzigen Betrieb wo ich tätig bin sind wir personell genauso schlecht aufgestellt wie immer. Wir haben jetzt aber zumindest einen Liegelifter bekommen und seit knapp einer Woche steht ein Gerät im Eingangsbereich, mit dem wir uns registrieren und unsere Temperatur messen können.
Politisch scheint da schon etwas zu passieren. Wobei das nicht viel mehr ist, als ein paar Tropfen auf dem heißen Stein. 13.000 zusätzlich finanzierte Pflegefachkraft Stellen für die stationäre Altenpflege bei über 14.000 Pflegeeinrichtungen in Deutschland, das ist ja nicht mal eine volle Stelle pro Haus, zumal diese bislang nur mit knapp 3.600 Pflegefachkräften besetzt werden konnten.
Eine spürbare Verbesserung kommt also nicht. 20.000 zusätzliche Stellen für Pflegehilfskräfte sollen ja jetzt noch geschaffen werden. Mal abgesehen von den neu geschaffenen Stellen kamen in einem Gutachten der Universität Bremen Wissenschaftler zu dem Schluss, dass alleine für die Altenpflege 120.000 Pflegekräfte mehr benötigt würden.
Welchen Einfluss hat die Digitalisierung im Pflegebereich?
In den stationären Pflegeeinrichtungen habe ich die Digitalisierung schon als Entlastung erfahren. Durch spezielle Programme ist die Pflegedokumentation übersichtlicher und einfacher – vorausgesetzt, dass die Zeit für die korrekte Dokumentationsdurchführung bleibt. Wenn ich allerdings Patientenverfügungen, Vorsorgevollmachten und aktuelle Medikationspläne der Bewohner nicht richtig im System hinterlegt habe, bringt mir diese Form der Unterstützung allerdings reichlich wenig.
Ich denke, Digitalisierung kann in der Pflege für mehr Erleichterung sorgen. Ich persönlich finde da z.B. die Projekte zur Pflegebrille sehr spannend oder Unterstützung durch Pflegeroboter. Wobei das alles noch Zukunftsmusik ist, denn so etwas gibt es meines Wissens nach noch nicht auf den Stationen.
Ohne gut ausgebildetes Fach- und Leitungspersonal, das regelmäßig durch Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen geschult wird, können die Vorteile der Digitalisierung aber nicht nutzbar gemacht werden. Zumal manche Pflegeeinrichtungen, ambulante Pflegedienste und Krankenhäuser die Digitalisierung bislang verschlafen haben. Dort wird die Dokumentation z.B. noch handschriftlich vollzogen.
Wobei es natürlich auch eine finanzielle Rolle spielt, denn Digitalisierung kostet. Durch die chronische Unterfinanzierung im Gesundheitssektor konnte die Digitalisierung bisher nur schwer vorangetrieben werden.
Eine entscheidende Rolle bei der Digitalisierung spielt für mich auch die Verkürzung der Arbeitswege. So nimmt es viel Zeit in Anspruch über die Station zu laufen, wenn das Schnurtelefon klingelt.
Unpraktisch ist es auch, wenn nicht auf jeder Station eine Digitalkamera vorhanden ist und ich z.B. für Wundfotos erst nach und nach die 10 Stationen kontaktieren muss, um zu erfahren auf welcher sich denn gerade eine der zwei vorhandenen Kameras befindet oder ob diese, was vor allem am Wochenende sehr praktisch ist, im Büro der Pflegedienstleitung liegen, da nur diese die Wundfotos in das Dokumentationssystem einpflegen kann.
Dient sie der Arbeitserleichterung?
Teilweise. Wie ich bereits oben erklärt habe, ist die Arbeitserleichterung als eines der Ziele der Digitalisierung auch immer abhängig vom Fachpersonal und wie gut dieses eingearbeitet ist.
Für den Industriebereich wird immer gesagt, die Branche sei im Umbruch, würdest du das auch für den Pflegebereich sagen?
Ja, definitiv. Die politisch gewollte Privatisierung von Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen und Pflegediensten hat den Umbruch vorangetrieben – allerdings nicht auf positive Art und Weise. Die Pflegequalität leidet massiv, seitdem Krankenhäuser Gewinne generieren sollen und dürfen. Private Investoren zielen nicht darauf ab, dass Menschen pflegerisch und medizinisch bestmöglich versorgt werden, deren Ziel ist es möglichst, viel Rendite rauszuschlagen. Doch diese Rechnung kann nur aufgehen, indem u.a. massiv am Personal gespart wird und das vorhandene auch noch unter Druck gesetzt und bewusst klein gehalten wird.
Nur eines von zehn privaten Pflegeheimen hat einen Betriebsrat. Das ist eine Katastrophe! Pflegekräfte sind kaum gewerkschaftlich organisiert, was unterschiedliche Gründe hat, aber den Arbeitgebern natürlich in die Hände spielt.
Ist es schwieriger geworden, Beschäftigteninteressen betrieblich durchzusetzen?
Ich muss gestehen, dass ich dies nur schwer beurteilen kann, da ich es in meiner Tätigkeit als Pflegerin noch kein einziges Mal miterlebt habe, wie Beschäftigteninteressen wirklich durchgesetzt wurden. Außer bei der Gründung der Mitarbeitervertretung natürlich, wobei diese, bzw. ein Betriebsrat meiner Meinung nach in einem Unternehmen selbstverständlich sein sollten.
Aus den Erfahrungsberichten älterer Kolleginnen und Kollegen heraus würde ich aber zustimmen, dass es schwieriger geworden ist, Beschäftigteninteressen durchzusetzen. Das wenige Pflegepersonal, welches chronisch überarbeitet ist, hat einfach weder Zeit noch Energie, um sich ehrenamtlich in der Freizeit noch dem gewerkschaftlichen Kampf mit den Arbeitgebern zu stellen.
Ich habe vor allem den Eindruck, dass meinen Kolleginnen und Kollegen da auch die helfende Hand fehlt. Viele sind noch nie von der Gewerkschaft angesprochen worden oder sind über ihre Rechte und Pflichten, über ihre Möglichkeiten und Chancen durch die Gewerkschaft nicht aufgeklärt worden. Ich selbst habe die Erfahrung gemacht, dass ich auf die Gewerkschaft zugehen muss, wenn ich Informationen haben möchte oder Hilfe beim Kampf im Betrieb brauche.
Ich verstehe nicht, wieso die Gewerkschaft da nicht öfter die Initiative ergreift. Im Moment befinden wir uns da wohl in einem Teufelskreislauf: Die Pflegekräfte sind zu überarbeitet und u.a. deshalb gewerkschaftlich nicht aktiv, die Gewerkschaft hat auf Grund der geringen Mitgliederzahlen nicht die Kapazitäten, regelmäßig bei den Pflegekräften präsent zu sein.
Wie gehen Beschäftigte mit der hohen Arbeitsbelastung um?
Unterschiedlich. Durch die hohe Arbeitsbelastung ist der Krankenstand in der Pflege natürlich sehr hoch. Manche Pflegekräfte sind so überarbeitet, dass sie ihren Frust schrecklicherweise an den Bewohnern auslassen. Andere wiederum, das versuche auch ich so zu machen, schrauben ihre Erwartungen runter. Wenn nur zwei Beschäftigte im Spätdienst sind, darunter nur eine Fachkraft (wenn überhaupt eine Fachkraft da ist), die bei ca. 30 Bewohnern die Behandlungspflege durchführen soll und bei mindestens 15 Bewohnern die Grundpflege übernimmt, dann ist mein Ziel im Dienst eigentlich nur noch, dass keiner meiner Schützlinge auf schreckliche Art und Weise krepiert. In Ruhe und Frieden sollen sie gehen dürfen – und ohne Schmerzen. Aber ich habe es schon oft genug anders erlebt, daher auch meine direkte Wortwahl.
Aber um zurück zur Frage zu kommen, viele Pflegekräfte, egal ob Hilfs- oder Fachkraft, suchen auch nach einem Weg raus aus dem Job. Wenn das nicht möglich ist, reduzieren viele aber auch ihre wöchentliche Arbeitszeit, solange es finanziell passt. Das habe ich jetzt gemacht.
Bedeutet das, dass die Verteilungskämpfe schon längst begonnen haben?
Auf jeden Fall! Wobei viele Arbeitgeber bisherige Verteilungskämpfe allerdings für sich entscheiden konnten und die Mitarbeiter da viel zu kurz gekommen sind. Das Ziel der Pflegekräfte muss es daher jetzt sein, die Politik davon zu überzeugen, dass Maßnahmen wie die Privatisierung des Gesundheitssektors mit dem Ziel diesen zu verbessern, krachend gescheitert sind.
Die Pflegekräfte müssen endlich selbst aktiv werden, damit die Bedingungen im Pflegesektor nicht noch schlechter werden und die Pflegequalität sich wieder verbessert. Das Geld, was jetzt in den Taschen von Aktionären landet und auf Kosten kranker und alter Menschen erwirtschaftet wurde, sollte dafür genutzt werden, dass mehr Personal eingestellt wird und dieses besser entlohnt wird. Das gilt nicht nur für die Pflegekräfte, sondern auch für Rettungssanitäter, Therapeuten, Reinigungs- und Hauswirtschaftskräfte usw..
Ich sehe da aber auch die übrige Gesellschaft in der Pflicht, sich für die Pflegekräfte und für ein besseres Gesundheitswesen stark zu machen, da jeder letztlich irgendwo, irgendwann mal auf Pflegekräfte, Therapeuten, Sanitäter oder Reinigungskräfte angewiesen sein wird. Wer gute pflegerische und medizinische Versorgung will, muss an der Seite des Personals stehen und kämpfen.
Was wären deiner Meinung nach die Stellschrauben, damit sich die Arbeitsbedingungen im Interesse der Beschäftigten verändern?
Bessere Pflege und allgemein ein besseres Gesundheitswesen in Deutschland gelingt nur, wenn Aktiengesellschaften im Gesundheitssektor endlich verboten werden und erwirtschaftete Gewinne zurück ins Unternehmen fließen müssen. Das kommt Personal und Patienten zugute, wenn das Geld in neue Kolleginnen und Kollegen, Fortbildungen, Digitalisierung und anständige Räumlichkeiten investiert wird.
Eine angemessene Pflegepersonalregelung sollte gesetzlich geschaffen werden, so dass immer genügend Personal im Dienst vorhanden ist und dadurch eine Überarbeitung gar nicht erst entsteht. Wenn genügend Personal vorhanden ist, würden die Beschäftigten auch nicht mehr im frei oder in ihrem Urlaub angerufen werden, um sie darum zu bitten einzuspringen. Sie könnten ihre Freizeit dafür nutzen, sich wirklich zu erholen.
Flächendeckende Tarifverträge würden endlich gute Löhne garantieren. So würde auch ein höherer Anreiz für jüngere Menschen bestehen, eine Ausbildung oder ein Studium in der Pflege zu beginnen. Dadurch könnten neu geschaffene Stellen auch besetzt werden und Kolleginnen und Kollegen, die sich beruflich anderweitig umgesehen haben, würden bei besseres Arbeitsbedingungen und höheren Löhnen sicherlich ebenfalls zurückkehren.
Die Pflegeversicherung zur solidarischen Vollversicherung umzuwandeln, schafft mit Sicherheit auch Abhilfe. Dadurch würden dann nicht nur die Pflegekräfte, die ebenfalls pflegende Angehörige sind, entlastet.
Artikel wurde am 23. Dez. 2024 gedruckt. Die aktuelle Version gibt es unter https://betriebundgewerkschaft.de/transformation-arbeit/2020/12/transformation-der-arbeitswelt-wiebke-koellner-aus-bochum/.