Interview: Arbeitswelt befindet sich im epochalen Umbruch

Interview: Arbeitswelt befindet sich im epochalen Umbruch

Unsere Arbeitswelt verändert sich: Sie ist geprägt von Digitalisierung, Globalisierung, Deregulierung und der Notwendigkeit eines ökologischen Umbaus. Bei den Kolleginnen und Kollegen steigt die Verunsicherung über diese Prozesse. Mit unseren Bundessprechern Stephan Marquardt und Ulrike Eifler reden wir darüber und fragen auch, welche Antworten die Gewerkschaften haben und welche Rolle die Partei DIE LINKE dabei hat. Das Gespräch führt Jan Richter.

BAG Betrieb & Gewerkschaft: Wir erleben zur Zeit deutliche Veränderungen in der Arbeitswelt. Wie ist eure Sicht auf diesen Wandel?

Ulrike Eifler: Die Arbeitswelt befindet sich in einem epochalen Umbruch, der sich mit großer Geschwindigkeit vollzieht und bis weit in den Dienstleistungsbereich hineinreicht. Dabei verändern sich Berufsbilder: Lehrer werden beim E-Learning vor neue Herausforderungen gestellt, weil allein zuhause vorm Monitor das Aufmerksamkeitsdefizit der Schüler ein anderes als gemeinsam im Klassenraum. Krankenschwestern haben plötzlich Umgang mit der digitalen Gesundheitsakte, Altenpflegerinnen mit Pflegerobotern. Im Einzelhandel sind bereits digitale Anproben und Selbstzahlerkassen im Einsatz, in der Logistik die digitale Bestellung an der Tagesordnung und im ÖPNV die fahrerlose Beförderung. Im Unterschied zu früheren Strukturveränderungen betrifft es heute nicht nur eine Branche, nicht nur Stahl, Kohle oder Textil, sondern alle Branchen gleichzeitig. Die Pandemie beschleunigt diesen Prozess, weil unter den Produktionsausfällen auch die Profitraten unter Druck geraten und weil der Einsatz digitaler Technik Infektionsschutz bedeutet. 

Was sind die Treiber für dieser Veränderungen?

Stephan Marquardt: Ulrike hat ja gerade beschrieben, dass die Digitalisierung ein wichtiger Treiber ist, weil sie dazu beitragen kann, Arbeitsabläufe effizienter zu machen und die Arbeitsbelastung für die Beschäftigten zu erleichtern. Ein weiterer wichtiger Treiber ist natürlich die Energiewende. Die aufgrund von Klimaschutzabkommen getätigten politischen Vorgaben an die Industrie, nachhaltiger zu produzieren verändern Produktionsprozesse. Im Organisationsbereich meiner Verwaltungsstelle befinden sich eine Reihe von Betrieben aus der Automobilindustrie. Es ist deutlich wahrnehmbar, wie allein die Umstellung aufs E-Auto zu einer Veränderung von Produktionsprozessen und Tätigkeitsprofilen führt. Bleibt noch die Globalisierung. Solange Stahl aus China oder der Türkei importiert wird, weil er günstiger ist, werden hier die heimischen Arbeitsplätze in der Stahlindustrie verloren gehen. In der Gesamtheit erzwingen Digitalisierung, Energiewende und Globalisierung Produktumstellungen und jenen epochalen Wandel in der Arbeitswelt, den wir gerade erleben.

Die Verunsicherung unter den Beschäftigten ist vermutlich groß. Welche Antworten haben die Gewerkschaften auf diese Veränderungen und wie sieht DIE LINKE ihre Rolle in diesem Prozess?

Stephan: Unter den Beschäftigten sorgen diese Veränderungen in der Tat für große Verunsicherung. Die Angst vor Entqualifizierung, Arbeitsplatzverlust oder Berufswechsel wächst und das alles auch noch unter den Bedingungen eines Sozialstaates, der fordert statt fördert. Die Gewerkschaften setzen richtigerweise auf Beschäftigungssicherung. Dafür müssen wir an einigen Standorten richtig kämpfen. In der letzten Tarifrunde spielten zudem die Vier-Tage-Woche eine Rolle. Arbeitszeitverkürzung kann ein wichtiges Element sein, um den Strukturwandel abzustützen. Denn einerseits steigt die Produktivität, andererseits haben die Kollegen zeitlichen Spielraum, um sich über zusätzliche Qualifizierungsangebote für die neuen Herausforderungen im Job fit zu machen. Entscheidend ist aber, dass Arbeitszeitverkürzungen bei vollem Lohnausgleich stattfinden.

Ulrike: DIE LINKE unterstützt die Forderungen der Gewerkschaften nach Arbeitszeitverkürzung und Qualifizierung. Und Stephan hat absolut recht: Der Lohnausgleich ist dabei entscheidend. Denn wir sehen bereits jetzt, dass 60 Prozent Kurzarbeitergeld vielleicht in den Industrieberufen zu verkraften sind. Aber die Forderung von ver.di und der NGG nach einem Mindestkurzarbeitergeld von 1.200 Euro zeigt, dass Köche, Reinigungskräfte oder Verkäuferinnen in Kurzarbeit mit 60 Prozent schnell unter die Armutsgrenze rutschen können. Hinzu kommt, dass Unternehmen, die für ihre Beschäftigten Kurzarbeitergeld bekommen und zugleich die Sozialbeiträge vollständig erstattet bekommen, darauf verpflichtet werden müssen, Arbeitsplatzabbau und Dividendenausschüttungen zu stoppen.

Ihr habt von einem epochalen Umbruch gesprochen. Bedeutet das nicht auch, dass DIE LINKE und Gewerkschaften bei den Antworten größer denken müsste?

Ulrike: Absolut. Der aktuelle Strukturumbruch muss als gesellschaftlicher Prozess organisiert und gesteuert werden. Letztlich geht es um den gesellschaftlichen Umbau. Statt anders zu konsumieren, müssen wir anders produzieren. Wer will, dass die Menschen das Auto stehen lassen und den ÖPNV benutzen, muss letzteren attraktiv ausbauen. Auf industrielle Produktion kann dabei nicht verzichtet werden, aber sie muss an gesellschaftliche Bedarfe angepasst werden. Ein Transformationsrat auf nationaler Ebene, der Expertise bündelt sowie technologische Möglichkeiten ebenso in den Blick nimmt wie die Interessen der Beschäftigten und den Nutzen für die gesamte Gesellschaft wäre angebrachter als individuelle betriebliche Modernisierungsstrategien.

Stephan: Damit wären wir dann auch beim Herzstück linker Politik. Denn was Ulrike beschreibt ist die Herstellung des Primats der Politik. Was hat Vorrang: Der Profit Einzelner oder der Nutzen für die gesamte Gesellschaft? Und das bedeutet eben auch, dass wir ran müssen an die Eigentumsfrage. Wer will, dass Unternehmen nicht für den privaten Profit produzieren, sondern zum Wohle der Gesellschaft, der muss diese Betriebe vergesellschaften. Und das wird nicht eine Frage von Beschlusslagen sein, sondern eine Frage von Kräfteverhältnissen. Ich prophezeie: Um den Wandel der Arbeitswelt im Interesse der Beschäftigten zu gestalten, werden wir uns auf harte Auseinandersetzungen mit der Kapitalseite einstellen müssen. Wenn wir diese gewinnen wollen, braucht es ein strategisches Bündnis von LINKEN und Gewerkschaften.

Herzlichen Dank euch Beiden für das Gespräch.

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