Studie zur Automobilindustrie: Grundlage für eine linke Transformationsstrategie
Eine Besprechung von Ulrike Eifler
Auf die Suche nach einer linken Transformationsstrategie begeben sich die beiden Politologen Jörn Boewe und Johannes Schulten in ihrer aktuellen Studie „Die Transformation der globalen Automobilindustrie“. Die Analyse, die Ende 2022 im Publikationsformat der Rosa Luxemburg Stiftung erschienen ist, nimmt die lokalen Zentren globaler Automobilproduktion ebenso ins Blickfeld wie die Treiber der Transformation. Sie analysiert globale Wertschöpfungsketten ebenso wie sie nach den Auswirkungen auf die gewerkschaftlichen Machtressourcen fragt. Sie betrachtet die ökologischen Folgen der Antriebswende ebenso wie sie auf veränderte geopolitische Sicherheitsstrategien verweist.
Diese umfassende, man möchte fast sagen ganzheitliche Betrachtung komplexer Transformationszusammenhänge macht die Studie zu einer fulminanten Analyse des gegenwärtigen Umbruchs. Sie erlaubt es Gewerkschaften, Klimaschützern und Friedensbewegung, das strategische Ineinandergreifen ihrer jeweiligen Kämpfe zu erkennen. Denn mit der Antriebswende, schreiben Boewe und Schulten, verändere sich nicht nur die stoffliche Seite der Automobilproduktion. Die Auswirkungen seien viel gravierender: Auf komplexe Weise wandele sich auch der Charakter der Arbeit, die industriellen Beziehungen und letztlich gar das globale Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit.
Analytischer Ausgangspunkt
Analytischer Ausgangspunkt ihrer Betrachtung ist die „doppelte Transformation“. Dekarbonisierung und Digitalisierung werden gleichermaßen zum Treiber für die Veränderungen in der Automobilindustrie. Boewe und Schulten arbeiten heraus: Nicht nur der Umstieg auf den elektrischen Antriebsstrang verändert die industrielle Struktur der Automobilproduktion. Es ist auch die Einführung digitaler Fahrassistenzsysteme, die Einbindung in digitale Datennetzwerke und nicht zuletzt der Trend zum autonomen Fahren. In der Folge ordnen sich globale Wertschöpfungsketten neu – nicht zuletzt, weil neue Global Player wie Tesla und Geely den Markt betreten. Gleichzeitig steigt die Nachfrage nach Konfliktrohstoffen wie Lithium, Kobalt und Seltene Erden.
Ausgehend von diesen Beobachtungen legen Boewe und Schulten ein Mapping des Umbruchs an. Dabei wird deutlich: Die industriellen Fertigungsprozesse der Automobilindustrie verschieben sich mehr und mehr in die Asien-Ozeanien-Region und haben dort einen starken Schwerpunkt in China. Diese regionale Verschiebung ist die Folge des technologischen Umbruchs, der die mit hohen Marktschranken versehene Branche gewaltig in Bewegung gebracht hat. Wurde Elektromobilität in den Zentren der Automobilproduktion zu einem gigantischen kapitalistischen Modernisierungsprojekt, bot es aufstrebenden Unternehmen in Asien die Chance, die technologischen Rückstände gegenüber den großen Automobil-Unternehmen zu kompensieren.
Regionaler Umbruch
Die chinesische Regierung beförderte diesen Umbruch, indem sie 2016 einen grundlegenden Strategiewechsel in der chinesischen Industriepolitik einleitete: Die Abkehr vom exportorientierten hin zu einem innovationsgetriebenen, nachhaltigen und stärker binnenmarktorientierten Wirtschaftswachstum. Die neuen chinesischen Unternehmen nutzten den Umbruch proaktiv. Sie „sind agiler, weil sie nicht in überkommenen Strukturen gefangen sind, können neue Anforderungen wie Kommunikativität und Batterietechnologie oft schneller und besser meistern als die ‚alte‘ Automobilindustrie“, analysieren Boewe und Schulten. Auch Japans Regierung investiert mehrere Milliarden Euro in wettbewerbsfähige und CO2-reduzierende Technologien sowie in die entsprechende Infrastruktur. Allerdings gehört hier zu den großen Gefahren der Transformation das demografiebedingte Fehlen von Fachkräften vor allem im IT-Bereich und die weitgehende Abwesenheit von Gewerkschaften sowohl im industriellen als auch im gesellschaftlichen Transformationsdiskurs.
Anders dagegen die Entwicklung in Europa. Hier dauerte die Umstellung auf einen Antriebswechsel sehr lange. Erst nach dem Scheitern der Dieselstrategie und vor dem Hintergrund der neuen chinesischen Schwerpunktsetzung hat die europäische Automobilindustrie die elektrische Antriebswende eingeleitet. Ähnlich verhält es sich in Nordamerika. Erst mit dem Regierungswechsel zu Joe Biden werden US-amerikanische Autounternehmen in die Lage versetzt, das Rennen um die Zukunft der Automobilindustrie mitzulaufen. Die neue US-Regierung ist entschlossen, die Umrüstung industrieller Fertigungsprozesse mit einem 1,75 Billionen US-Dollar umfassenden öffentlichen Investitionsprogramm zu unterstützen. Im südamerikanischen Raum dagegen sind die beiden wichtigsten Produktionsländer Brasilien und Argentinien. Hier zeigt die Entscheidung von Ford, sich nach 100 Jahren vollständig aus Brasilien zurückzuziehen, dass sich die seit mehreren Jahren anhaltende Krise der Automobilindustrie im Zuge der Dekarbonisierung verschärfen könnte – nicht zuletzt durch das Fehlen einer aktiven industriepolitischen Strategie der Regierung. Auf der anderen Seite aber verfügen Argentinien, Chile und Bolivien über bedeutende Lithium-Vorkommen, was die Hoffnung auf ein eigenständiges Industrialisierungsprojekt im südamerikanischen Raum nährt.
Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit
Die Veränderungen spiegeln einen Trend wider, im Verlaufe dessen die traditionellen Automobil-Zentren leicht ins Hintertreffen geraten könnten, weil das für die Batteriefertigung notwendige Fertigungs-Know-how nicht zu den Kernkompetenzen der traditionellen Automobilkonzerne gehört. Im Unterschied zu den asiatischen Herstellern der Unterhaltungselektronik können sie nicht auf jahrzehntelange Erfahrungen mit der Massenproduktion von Lithium-Ionen-Akkus zurückgreifen. Ähnlich verhält es sich bei der Softwareentwicklung, die im Zuge der Digitalisierung des Autos immer wichtiger wird. Während die traditionell einbauten Elektronikprogramme 10-15 Jahre laufen konnten, muss die Software heute laufend angepasst werden. Dekarbonisierung und Digitalisierung erfordern also eine erhebliche Umstrukturierung industrieller Fertigungsprozesse.
Mit der Veränderung der Produktionsstandorte verändert sich aber auch das globale Kräftegleichgewicht zwischen Kapital und Arbeit. Während die Produktion vor allem in Länder mit schwachen Gewerkschaften wandert, wirkt sich die Transformation in den traditionellen Automobilnationen nachteilig auf die Beschäftigten aus. Nicht zuletzt, weil sich – wie in den USA oder Japan – die Gewerkschaften schwertun, im Transformationsprozess eine eigene offensive Rolle als gesellschaftlicher Akteur einzunehmen.
Klimabilanz und Geopolitik
Auch die Klimabilanz der Elektroautos wird von Boewe und Schulten untersucht. Sie kommen zu dem Schluss: Elektroautos können zu einer Verringerung des Verbrauchs an fossilen Energieträgern beitragen. So gehen verschiedene Studien davon aus, dass sich der jährliche Diesel- und Benzinverbrauch mit dem Ausbau einer globalen Elektroauto-Flotte ganz erheblich reduzieren würde. Dem Einsparpotenzial bei fossilen Kraftstoffen steht allerdings ein höherer Ressourcenbedarf insbesondere bei mineralischen Rohstoffen gegenüber: Kobalt, Aluminium, Eisen, Kupfer, Mangan, Lithium, Nickel, Titan, Silizium und Graphit. Etwa sechsmal so viel dieser Rohstoffe benötigt ein Elektroauto im Vergleich zu einem vergleichbaren Fahrzeug mit Verbrennungsmotor.
Diese Entwicklung zieht eine deutliche Verschiebung bei den Produktionskapazitäten nach sich: Eine Analyse der Schweizer Großbank UBS kommt zu dem Schluss, dass bei einer kompletten Umstellung des aktuellen globalen Fahrzeugbestands auf Elektroantrieb die Weltproduktion von Kobalt um 1.928 Prozent, von Lithium um 2.898 Prozent und von Seltenen Erden um 655 Prozent gesteigert werden müsste. Mit dramatischen ökologischen und sozialen Folgen für die betroffenen Regionen in Asien, Lateinamerika und Afrika. Eine Entwicklung, die auch sicherheitspolitisch aufschlagen dürfte. Denn schon jetzt zeichnet sich ab, dass die Verschärfung der Konkurrenz um die globalen Rohstoffe geopolitische Konflikte um den Zugang zu den Ressourcen verschärfen könnten. Die Abkehr von der Nutzung fossiler Energieträger wird zu größeren Umbrüchen in der internationalen Politik und wachsenden Rivalitäten zwischen den USA und China, aber auch zu Spannungen im transnationalen Verhältnis führen, schreiben Boewe und Schulten. Unterm Strich bleibt: Die Umstellung auf das Elektroauto muss in ein neues gesellschaftliches Mobilitätsmodell eingebunden werden, das sich alternativ zum Individualverkehr verhält.
Conclusion
Boewe und Schulten gelingt ein umfassender Blick auf globale Transformationsprozesse, der es Gewerkschaftern, Klimaschützern und Friedensbewegten erlaubt, nach Gemeinsamkeiten zu fragen und das Verbindende in den Vordergrund zu stellen. Insbesondere die abschließenden Thesen bieten die Möglichkeit, den strategischen Diskussionsfaden aufzunehmen und eine gemeinsame Handlungsfähigkeit zu entwickeln. Dies gelingt ihnen vor allem deshalb, weil sie den zuweilen eher technokratisch wirkenden Begriff der Transformation aufbrechen und in den Kontext einer Betrachtung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse stellen. Ihre Studie „Transformation der globalen Automobilindustrie“ wird damit zu einem unschätzbaren Beitrag für die dringend benötigte Strategiedebatte zwischen Gewerkschaften, Klimaschützern und Friedensbewegung.
Ulrike Eifler ist Bundessprecherin der BAG Betrieb & Gewerkschaft
Das Autorenteam Johannes Schulten und Jörn Boewe beschäftigt sich in der Studie vor allem mit Arbeitskampfstrategien und Fragen gewerkschaftlicher Organisierung. Sie betreiben gemeinsam das Journalistenbüro work in progress in Berlin.
Mit einem Vorwort von Jan Leidecker, Büroleiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung Genf und dort verantwortlich für den Bereich Internationale Gewerkschaftspolitik.
Transformation der globalen Automobilindustrie
Trends, Deutungen, sozialökologische Handlungs-strategien – Ein Handbuch für die gewerkschaft-liche und politische Praxis
Erschienen: März 2023
Online verfügbar: Rosa Luxemburg Stiftung
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Artikel wurde am 22. Dez. 2024 gedruckt. Die aktuelle Version gibt es unter https://betriebundgewerkschaft.de/transformation-arbeit/2023/05/studie-zur-automobilindustrie-grundlage-fuer-eine-linke-transformationsstrategie/.