Klaus Dörre: Wahlkämpfe für die Zukunft des Ostens führen!
Interview mit Klaus Dörre, Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Das Gespräch führte Jana Seppelt für die BAG Betrieb & Gewerkschaft.
BAG Betrieb & Gewerkschaft: Ihr habt im Lausitzer Braunkohlerevier den „O-Ton“ derjenigen eingefangen, die im Bergbau und bei der Energieerzeugung aus Braunkohle beschäftigt sind, weil der Eindruck bestand, dass die Sichtweisen der 8.000 Beschäftigten bisher ungenügend Berücksichtigung finden in der Gesamtpolitik.
Klaus Dörre: Dieser Eindruck hat sich bestätigt. Wenn man es kurz zusammengefasst, es gibt so etwas wie eine Erzählung, die sich anfühlt, als sei sie die eigentliche Wahrheit, für diejenigen, die sie erzählen – also was Arlie Hochschildt „deep story“ („Tiefengeschichte“) nennt. Und die geht ungefähr so: Die LEAG ist das beste Unternehmen der Region, mit den höchsten Löhnen, den besten Tarifen, den besten Arbeitsbedingungen, den besten Aufstiegsmöglichkeiten, und es sponsert die wichtigsten Vereine in der Region, und steht für den kulturellen Zusammenhalt. Und dieses Unternehmen ist jetzt bedroht, obwohl es gemessen an den Kyoto-Vereinbarungen eigentlich die Klimaziele erfüllt hat, während der Verkehrssektor überhaupt nichts beigesteuert hat. Aber für die Politiker ist es opportun, lieber zwei Blöcke in Jänschwalde abzuschalten, weil das einen schnellen Effekt verspricht, als tatsächlich beim Verkehrssektor durchzugreifen. Und das Ganze wird aus einer Perspektive formuliert: In der alten DDR waren wir die Helden der Nation, jetzt sind wir die „Fußabtreter“ der Nation.
Es gibt zwei Aspekte, die für besonderen Ärger sorgen. Der Eine ist die symbolische Abwertung, die aus der Politik erfahren wird. Das Grundbewusstsein der Leute ist: Wir haben einen großen Umbruch hinter uns, jetzt droht schon wieder ein neuer, das wollen wir nicht. Dann gibt es eine abgestufte politische Verarbeitung. Man glaubt nicht so richtig, dass aus dem Kohlekompromiss wirklich was hervorgeht, was wir als Entwicklung bezeichnen. Die Betriebsräte haben explizit gesagt, wir wollen nicht Strukturwandel, wir wollen Entwicklung. Das ist ein bemerkenswerter Satz.
Der zweite Punkt ist, dass es die verbreitete Wahrnehmung gibt, dass die Politiker von der Sache nichts verstehen. Frau Baerbrock gilt immer als Beispiel, weil die das Erdgas aus Russland empfohlen hat als Alternative zur Braunkohle, und die Beschäftigten sehr schnell vorrechnen konnten, wenn sie die Erzeugungs- und Transportkosten mit einbeziehen, dass das Erdgas aus Russland schmutziger ist was die Emissionswerte angeht als die Braunkohle. Und solche Sachen führen dazu, dass erhebliche Teile der Belegschaft denken, wenn die schon von solchen Fakten nicht Bescheid wissen, warum sollen wir ihnen dann beim Klimawandel vertrauen. Ist das nicht alles Hysterie?
Und da fängt es an problematisch zu werden, das geht dann bei Teilen der Belegschaft bis zur Klimawandelleugnung. Teilweise sind das nicht Positionen, die spontan kommen, sondern die informiert sind aus den einschlägigen AfD-nahen bis zu rechtsextremen Quellen.
Aus Deiner Erfahrung: Was wären Formen der Diskussion und des Zusammentreffens von ökologischer Bewegung und LEAG Beschäftigten?
Ich kann mir ein Zusammentreffen vorstellen, wenn man ihnen das Gefühl nimmt, dass es eine rein symbolische Geschichte ist. Der entscheidende Punkt ist, dass hierzulande seitens der ökologischen Bewegung, anders als bei den Democratic Socialists in den USA, die soziale Frage missachtet wird. Gleichzeitig müssen die deutschen Gewerkschaften ernsthaft für einen Green New Deal eintreten. Beispielhaft ist hier Alexandria Ocasio Cortez, die bei der Argumentation für einen Green New Deal nicht vergisst: Alle, die in den Karbonbranchen ihre Arbeit verlieren, müssen einen Job bekommen. Und zwar einen, der gut bezahlt ist und von dem auch die Familie leben kann. Selbst die Linken in der IG Metall sagen – jetzt in anderen Branchen, nicht in der Lausitz – sie können solche Forderungen nicht entwickeln, weil sie die nicht einlösen können, es ist ja Kapitalismus. Das verstehe ich nicht.
Das meinst Du damit, wenn Du schreibst, dass sich Gewerkschaften entscheiden müssen zwischen einer konservierenden und einer transformativen Interessenpolitik?
Genau. Der entscheidende Punkt dabei scheint zu sein, dass man die, die die Arbeit machen, nicht weiter abwertet. Sie empfinden sich als dramatisch abgewertet. Die beste Voraussetzung wäre, sie fühlten, dass ihre Leistung wertgeschätzt wird. Man muss Formen finden, wo sie erst mal sagen können, was sie denken, mit allem Kruden. Dem Risiko müsste man sich aussetzen.
Die Forschung in der Lausitz hatte eher die gut situierten Beschäftigten im Fokus, andere Umfragen Eurer Forschungsgruppe fokussieren sich auf schlecht abgesicherten, prekären Beschäftigten. Du hast die Deep Story des Teils der prekären Beschäftigten, die sich nach rechts wenden, so beschrieben: Ich stand jetzt an der Schlange am Berg der Gerechtigkeit ewig an, es geht nicht vorwärts, der Aufstieg ist blockiert. Dann kommen die Flüchtlinge nach all den Krisen und dem Warten und denen wird alles gegeben. Zumindest der Teil mit dem blockierten Aufstieg hat einen harten reellen Kern.
Es ist so, dass die Deep Story in den Köpfen variiert. Bei einem Prekären ist das eher ein rebellischer Rechtspopulismus mit Protest mit PEGIDA und bei der AfD, bei den einigermaßen abgesicherten, also leicht über dem Mindestlohn, oder bei einigen LEAG Beschäftigten ist es eher ein konservierender Rechtspopulismus. Man findet den auch bei Ingenieuren, die weit über Tarif und damit überdurchschnittlich verdienen, aber nach 20 / 30 Jahren noch nicht das Gleiche verdienen wie im Westen. Das Abwertungsgefühl ist ausgeprägt. Das sind sehr komplexe Einstellungen, weil es nicht nur um Einkommen oder Arbeitsverhältnisse geht, sondern auch um die Regionen, aus denen man kommt. Der Stadt-Land Gegensatz spielt eine große Rolle. Vieles was wir für die Stadt diskutieren mit hohen Mieten gibt es so nicht auf dem Land, dafür aber Probleme, weil man zwei Autos braucht, um die Jobs zu erreichen. Solche Erfahrungen spielen da alle eine Rolle.
Für die Wahlkämpfe, die noch bevorstehen unmittelbar, ist für mich der entscheidende Punkt: Man könnte die AfD noch besiegen, da bin ich völlig sicher. Man kann sie nur besiegen, wenn man Wahlkämpfe für die Zukunft des Ostens führt und nicht vordergründig gegen die AfD mit dem Hinweis, die könnten mitregieren. Das hält ja keinen ab, AfD zu wählen, ganz im Gegenteil. Der entscheidende Punkt ist simpel: Die Zukunft des Ostens kann man in drei Szenarien aufteilen: Es läuft weiter wie bisher und die Abstände werden größer; es gibt gar keine Problemlösungen also Desaster und es gibt Aufwärtsentwicklung. Die Voraussetzungen für Letztere sind: Migration ist nicht die Lösung aller Arbeitsmarktprobleme, aber ohne Migration ist im Osten kein einziges Arbeitsmarktproblem zu lösen. Man bekommt keine Fachkräfte, wenn nicht die Niedriglohnpolitik aufhört. Man braucht Löhne zum Leben und das ist nicht Mindestlohn. Dafür braucht man Institutionen. Das können nicht mehr nur Gewerkschaften machen. Der Ökonom Anthony Atkinson forderte Wirtschafts- und Sozialräte, die nicht mehr nur mit Gewerkschaften und Wirtschaftsvertreter*innen besetzt sind, sondern auch mit gesellschaftlichen Initiativen, Umweltverbänden und so weiter, um das Kräftegleichgewicht wiederherzustellen.
Will man ein Prosperitätsszenario für den Osten, kann man bei jeder Weichenstellung sagen, die AfD stellt die Weiche genau in die andere Richtung. Wenn man es schaffen würde, die unter 20% zu bringen, dann nehmen die inneren Zerfleischungsprozesse bei denen enorm zu. Eine Wahlniederlage wird zu einer Radikalisierung des Höcke-Flügels führen, das wird diese Partei möglicherweise gar nicht aushalten. Insofern sind die Ostwahlkämpfe ziemlich entscheidend. Aus meiner Sicht müsste man diese Stoßrichtung konsequent verfolgen. Meine Wahrnehmung ist allerdings, dass die linken Parteien eher mit der Drohkulisse, die AfD könnte in den Landtag ziehen, Wahlkampf machen.
Das Interview führte Jana Seppelt, Bundessprecherin der AG Betrieb & Gewerkschaft im Juli 2019. Diese Kurzfassung erschien in: betrieb & gewerkschaft. Zeitung der AG Betrieb & Gewerkschaft der Partei DIE LINKE, Ausgabe 2/2019. Die ungekürzte Fassung kann hier nachgelesen bzw. runtergeladen werden:
Artikel wurde am 22. Dez. 2024 gedruckt. Die aktuelle Version gibt es unter https://betriebundgewerkschaft.de/afd/2019/08/es-muessen-wahlkaempfe-fuer-die-zukunft-des-ostens-gefuehrt-werden/.