Die systematische Entwertung der Tarifbindung

Schlechter mit Tarifvertrag? Wie die Bundesregierung die Tarifpolitik auf den Kopf stellt und Gewerkschaften systematisch schwächt, hat sich Jan Richter genauer angeschaut.

Die systematische Entwertung der Tarifbindung
Foto von Markus Spiske / Unsplash

Tarifdispositive Regelungen – also vom Gesetz abweichende Regelungen durch Tarifvertrag – gibt es schon länger. Sie sind das Fundament, auf dem unser Tarifsystem fußt. Weniger Wochenarbeitszeit, mehr Urlaubsanspruch oder Zuschläge für besondere Tageszeiten und Wochenendarbeit: »Besser mit Tarifvertrag« lautet die Devise und dient als zentrales Argument für Gewerkschaftsmitgliedschaften und die Interessenvertretung von Beschäftigten.

Neu hingegen ist, dass die SPD, allen voran Arbeitsministerin Nahles, und jetzt auch die CDU diese als Strategie im Gesetzgebungsverfahren nutzen, um die Tarifbindung stattdessen für Arbeitgeber attraktiv zu machen. Die sind unter aktiver Förderung des Gesetzgebers in den vergangenen 20 Jahren massenweise aus der Tarifbindung geflüchtet, so dass heute nur noch die Hälfte der Beschäftigten in Deutschland unter einen Tarifvertrag fällt und gerade einmal 15 Prozent der Betriebe tarifiert sind. Anstatt sich aber langjährige Gewerkschaftsforderungen in puncto Stärkung der Tarifbindung, wie die Erleichterung der Allgemeinverbindlichkeit, anzueignen, verfolgen SPD und CDU einen anderen Weg: Sie wollen die Arbeitgeber mit gesetzlichen Bonbons zurück in die Tarifbindung locken.

Dabei wird auf zwei Ebenen agiert. Einerseits durch die Lockerung bestehender Gesetze: Durch tarifliche Öffnungsklauseln werden beispielsweise tariflich vereinbarte Abweichungen von bestehenden Schutzgesetzen erlaubt. Aktuell ist das bei der Verkürzung bzw. Unterbrechung von Ruhezeiten im Arbeitszeitgesetz geplant. Dies wird in der Öffentlichkeit heftig diskutiert und wird bei jeder Gelegenheit von CDU und SPD ideologisch sowohl mit den Anforderungen des digitalen Wandels verknüpft als auch mit den angeblichen Eigeninteressen der Beschäftigten, was Flexibilität, Zeitsouveränität, Vereinbarkeit von Familie und Beruf angeht. Und auf der zweiten Ebene gibt es Ausnahmeklauseln für tarifgebundene Unternehmen bei gesetzlichen Regulierungen: Durch gesetzliche Bestimmungen werden tarifgebundene Unternehmen von gesetzlichen Mindeststandards ausgenommen. So kann in der Arbeitnehmerüberlassung die Verweildauer von Leiharbeitsbeschäftigten so über die gesetzlich zulässige Höchstgrenze von 18 Monaten hinaus verlängert werden. Dieses Vorgehen wird in der Öffentlichkeit kaum diskutiert und ist daher relativ geräuschlos in mehrere Gesetzgebungsverfahren, u.a. auch beim gesetzlichen Mindestlohn, eingeflossen.

Die Bundesregierung kann hierbei beide Tarifpartner ideologisch einbinden. Tarifierte Arbeitgeber kriegen sie begünstigende Ausnahmen vom Gesetz und den Gewerkschaften zeigt man so die gesetzgeberische Entschlossenheit bei der Erhöhung der Tarifbindung. Die Folge dieser Strategie ist in ihrer Vielfalt und Gefährlichkeit kaum abzuschätzen. Fest steht, dass mit den Lockerungen bestehender Schutzgesetze durch tarifdispositive Regelungen immer mehr Arbeitsbedingungen in Tarifverträgen thematisiert werden. Das bedeutet für die Gewerkschaftsseite, dass vormals gesetzlich geregelte Schutzstandards in Tarifverträgen aufgenommen werden und somit dann auch in Tarifauseinandersetzungen zur Verhandlung stehen. Die Gefahr des gegeneinander Ausspielens und letztendlich des Verlustes einzelner Schutzrechte besteht. Das bedeutet einen weiteren strategischen Vorteil für die Arbeitgeber. Ihnen wird durch tarifpositive Regelungen die Tarifbindung selbst als Hebel geboten, um ihre Kapitalinteressen in Tarifkämpfen stärker durchzusetzen.

Als BAG Betrieb & Gewerkschaft beobachten wir die zunehmende Nutzung tarifdispositiver Spielräume mit Sorge, denn die systematische Nutzung dieser Spielräume seitens der Arbeitgeber zur Umgehung von Schutzrechten ist hinlänglich bekannt. Sie wird nur jetzt noch durch den Gesetzgeber, vor allem in der Großen Koalition, aktiv gefördert. Der Staat greift auf diese Art aktiv in die Tarifpolitik ein; zum Nachteil für die abhängig Beschäftigten und ihre Gewerkschaften. Die langfristigen Folgen dieser systematischen Entwertung sind zugleich dramatisch: Sie schaden nicht nur auf Dauer dem Ansehen von Tarifverträgen und der gesamten Tarifautonomie. In ihrer Endkonsequenz können sie in eine Tarifflucht seitens der Beschäftigten kippen.

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Jan Richter ist Bundessprecher BAG Betrieb & Gewerkschaft.