Sozialstaat muss man sich leisten wollen

Sozialstaat muss man sich leisten wollen

Von Susanne Ferschl

Der Arbeitslosenversicherung geht vermutlich das Geld aus. Die Rücklagen der Bundesagentur für Arbeit (BA) in Höhe von knapp 26 Mrd. Euro schmelzen angesichts millionenfacher Kurzarbeit wie Eis in der Sonne. Rückblickend erweist sich die dreimalige Absenkung des Beitragssatzes al­lein in dieser Legislatur als neoliberale Symbolpolitik. Sie bescherte den Beschäftigten durchschnittlich eine Entlastung von 9 Euro im Monat, wäh­rend sie in den Bilanzen von Großunternehmen ordentlich zu Buche schla­gen dürfte. Die Bundesregierung schätzt die Mindereinnahmen durch diese Senkungen auf deutlich mehr als fünf Mrd. Euro pro Jahr. Im März gab es von der Regierung ein weiteres großzügiges Geschenk an die Unternehmen: Die komplette Erstattung der Sozialbeiträge bei Kurzarbeit – ohne Bedingungen, aber in der Hoffnung, Arbeitsplätze zu retten. Das beschleunigte das Abschmelzen der Rücklagen bei gleichzeitig steigender Arbeitslosigkeit.

Sozialversicherungen geplündert

Lange vor Corona wurden unsere Sicherungssysteme zugunsten privater Profite systematisch geschwächt, etwa durch Niedriglöhne infolge sinken­der Tarifbindung oder unbezahlte Überstunden. Allein der Mindestlohnbe­trug führte nach Schätzung des DGB in den letzten fünf Jahren zu Minder­einnahmen von 8,1 Mrd. Euro. Es zeichnet sich immer deutlicher ab, dass der Staat Steuergeld zuschießen muss. Die BA geht von 4,7 Mrd. Euro für die Arbeitslosenversicherung aus. Exakt die Summe, die durch die Bei­tragssenkungen im letzten Jahr verloren ging. Statt aber die Versicherungs­systeme wirksam zu stärken und deren Schutzfunktion auszubauen, gehen aktuelle Vorschläge in eine andere Richtung, z.B. Unternehmen bei Neu­einstellungen die Sozialbeiträge ganz zu erlassen. Im aktuellen Konjunkturpaket gibt es die »Sozialgarantie 2021«. Sozialbeiträge werden bis 2021 bei maximal 40 Prozent gedeckelt und zusätzliche Finanzbedarfe aus dem Bundeshaushalt gedeckt. Vorschläge im Geiste einer neoliberalen Lohnnebenkosten-Debatte, die so durchschaubar wie falsch sind.

Mehr Brutto für mehr Netto

Versicherungsbeiträge sind keine neben dem Lohn anfallenden Kosten, son­dern Bestandteil des Bruttolohns, der für die solidarische Absicherung von Risiken wie Krankheit oder Arbeitslosigkeit aufgewendet und von den Be­schäftigten selbst erwirtschaftet wird. Als Lohnnebenkosten stehen die Sozi­albeiträge seit Jahrzehnten unter Beschuss der Unternehmenslobby, die diese, wie auch die Löhne selbst, drücken wollen. Der nun vorgesehene Steuerzuschuss in die Sozialversicherungssysteme ist ein haushaltsrelevan­ter Posten. Angesichts einbrechender Steuereinnahmen – allein die Senkung der Mehrwertsteuer reißt ein Loch von 20 Mrd. Euro – wird sich der Spardruck erhöhen und die Verteilungskämpfe werden zunehmen. Zu befürchten ist, dass dann am Leistungsniveau der Versicherungen gespart wird, was deren ohnehin angeschlagene Glaubwürdigkeit und Legitimität weiter schwächt.

Schon heute sind die Leistungen bei Arbeitslosigkeit viel zu niedrig. Im Ge­gensatz zu Beitragssenkungen würden Beschäftigte von einer Ausweitung der Schutzfunktion profitieren. Für die Arbeitslosenversicherung heißt das, dass das Arbeitslosengeld deutlich höher, früher greifen und länger gezahlt werden muss. Um die sozialen Sicherungssysteme gegen Angriffe der Ar­beitgeberlobby zu verteidigen und auszubauen, muss die Finanzierung ge­rechter werden. Heißt konkret: Starke Schultern sind stärker zu beteiligen – die Parität ist schließlich nicht in Stein gemeißelt. Soziale Sicherheit ist auch in Zukunft finanzierbar, es kommt auf den politischen Willen an.

Susanne Ferschl ist stellvertretende Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE im Bundestag

 

Dieser Artikel entstammt der aktuellen Ausgabe unserer Zeitung