In Gottes Namen: Pflege-Tarifvertrag scheitert an Caritas

In Gottes Namen: Pflege-Tarifvertrag scheitert an Caritas

Von Sonja Kemnitz

„Nach dem Klatschen kommt die Klatsche!“ So reagierte die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di am 25. Februar 2021, als die Arbeitsrechtliche Kommission der Caritas beschloss, dem ausgehandelten Tarifvertrag zwischen der Bundesvereinigung Arbeitgeber Pflege und ver.di nicht zuzustimmen. Erstmals lag ein Tarifwerk für die Altenpflege auf dem Tisch, welches alle Pflegekräfte einbezog und bundesweit für allgemeinverbindlich erklärt werden konnte. Und sollte! Arbeitsminister Heil hatte öffentlich nahezu versprochen, genau das zu tun. Denn die Altenpflege ist ein Knochenjob – zwar systemrelevant, aber mies bezahlt bei noch mieseren Arbeitsbedingungen und in vielen Regionen tariffreie Zone.

Die Empörung wächst und Proteste reißen nicht ab. 180.000 Unterschriften erreicht aktuell eine Petition, die die Caritas-Kommission auffordert, neu zu entscheiden. Erschüttert sind nicht nur Pflegekräfte, nicht nur viele Christen. Selbst kirchliche Sozialethiker protestieren. Zwar ist die Glaubwürdigkeit der Institution Kirche nach Missbrauch und Vertuschung, durch Bankskandale und Bereicherung schon lange ramponiert. Doch diese Entscheidung der Caritas-Dienstgeber ist mehr als eine Ohrfeige für alle Pflegekräfte. Sie ist eine Kartätsche gegen die Tarifautonomie und ein mieser Ablasshandel. Mitten in der Pandemie ist das ein konservativer Schlachtruf der Arbeitgeber – die auf katholisch „Dienstgeber“ heißen – und hier für tariffeindliche private Arbeitgeber in der Altenpflege die Drecksarbeit machen.

Meinungsmache und Lobbyflüsterei

Vor allem große private Pflegeanbieter haben den Tarifvertrag über zwei Jahre mit allen Mitteln politischer Meinungsmache und Lobbyflüsterei zu verhindern versucht: Die Verfassungswidrigkeit wurde oft beschworen, aber nie belegt. Die Gewerkschaft wurde diskreditiert, ver.di sei nicht verhandlungsberechtigt, weil sie nur 10 Prozent der Altenpflegekräfte vertreten. Der Tarifpartner „Bundesvereinigung Arbeitgeber Pflege“, ein Zusammenschluss freigemeinnütziger Leistungserbringer AWO, Arbeitersamariterbund, Paritätischer Gesamtverband und Volksolidarität, ja selbst der Diakonische Dienstgeber in Niedersachsen wurde lächerlich gemacht.

Dennoch gelang ein Tarifvertrag, der sich trotz Mängeln sehen lassen kann. Alle 1,2 Millionen Beschäftigte in der Altenpflege hätten durch diesen eine verbindliche Mindestregelung gewonnen: Fachkräfte hätten ab August 2021 von 16,10 Euro und Hilfskräfte einen Brutto-Stundenlohn von 12,40 Euro – mit Steigerungen bis 2023 auf bis 18,75 Euro. Alle Pflegekräfte hätten Anspruch auf 28 Urlaubstage und 500 Euro Urlaubsgeld. Das hieße vor allem für Hilfskräfte, Beschäftigte im Berufseinstieg und ostdeutsche Pflegekräfte mehr Geld, mehr Sicherheit, mehr Anerkennung und mehr Equal Pay für die 85 Prozent weiblichen Beschäftigten in der Altenpflege.

Schützenhilfe aus der Politik?

Die Allgemeinverbindlicherklärung war nach bissigem Ringen möglich gemacht über ein Gesetz, beschlossen im Oktober 2019 im Bundestag. Das Arbeitnehmerentsendegesetz wurde auf die Altenpflege ausgeweitet. Wenn ein Tarifvertrag vorliegt, kann dieser per Rechtsverordnung für allgemein-verbindlich erklärt werden. Übrigens auch für alle bei privaten Betreibern beschäftigte Pflegekräfte, was heute schon fast die Hälfte aller Heime ausmacht. Der Tarif sollte die Mindestlohnregelungen der Pflegekommission, die bisher nur für Pflegehilfskräfte entschied, ablösen. In dieser Kommission war ver.di oft machtlos, weil immer in der Minderheit und nie auf gleicher Augenhöhe, eben kein Tarifpartner.

Doch der Gesetzeserfolg war nicht nur heiß umkämpft, sondern auch teuer erkauft. Gegen den Widerstand der privaten Tarifgegner half nur eine Mehrheit aller nichtprivaten Anbieter: also der öffentlichen und der freigemeinnützigen. Caritas und Diakonie – 30 Prozent der Altenpflegekräfte arbeiten dort – sind die beiden größten Leistungserbringer der Freien Wohlfahrtspflege. Sie mussten also ins Boot. Aber Tarifverhandlungen sind ihnen nach kirchlichem Sonderarbeitsrecht untersagt. Deshalb werden Caritas und Diakonie nach Pflegelohngesetz gesondert angehört und müssen dem Tarifvertrag separat zustimmen. Vor dieser kirchlichen Veto-Macht hatten nicht Wenige gewarnt. Eine mitgliederstarke Gewerkschaft in der Altenpflege hätte diesen muffigen Gesetzes-Kompromiss vielleicht entschärfen können. Durch Kampfbereitschaft und Gemeinsamkeit. Doch in der Altenpflege fehlen ver.di-Mitglieder. Auch diese Schwäche hat Anteil an der Niederlage.

Steht die Kirche über dem Gesetz?

Doch der Verrat der kirchlichen Arbeitgeber steht auf einem anderen Blatt. Sie hatten lange signalisiert, das Tarifergebnis mitzutragen. Änderungswünsche wurden berücksichtigt. Die eigene, bessere Bezahlung, vor allem in der Caritas, war nie gefährdet, weil das Tarifergebnis eine Mindestregelung ist. Woher also der Sinneswandel und dieses unchristliche Verhalten?

Der letztliche Nährboden ist die Ökonomisierung und Privatisierung der Altenpflege seit 25 Jahren. Seit Einführung der Pflegeversicherung sind private Anbieter freigemeinnützigen Anbietern gleichgestellt. Eine nette Beschreibung für die gesetzliche Einführung der Konkurrenz, die in der personalintensiven Altenpflege vor allem über die Lohnkosten ausgetragen wird. Die Dienstgeber haben gehandelt, wie gewinnorientierte Unternehmer eben handeln. Sie haben ihren Marktvorteil verteidigt: höhere Gehälter gegenüber Konkurrenten. Denn wenn andere Leistungserbringer in den Gehältern nachgezogen hätten, wäre der Vorsprung dahin. Ein kapitaler Nachteil in Zeiten des Personal-notstands, der selbst ein Ergebnis dieser Konkurrenz ist, weil viele Pflegekräfte ihren Beruf verlassen haben. Und in einigen diakonischen Bereichen hätten mit dem Tarifvertrag auch kirchliche Einrichtungen ihre Niedriglöhne anheben müssen. Darauf können Dienstgeber jetzt verzichten, wie die privaten Arbeitgeber auch. Diese begrüßten dann auch als erste und einzige die Entscheidung der Caritas.

Für diesen Vorteil hat man gnadenlos die politische Sonderstellung des kirchlichen Arbeitsrechtes benutzt. Dieselbe Kirche, die seit Jahrhunderten über Staatsverträge Steuermittel erhält und damit ihre Pfarrer bezahlt, verweigert Altenpflegekräften – die per se caritativ wirken – eine angemessene Bezahlung. Das ist nicht nur dreist, sondern heuchlerisch! Und es provoziert die Frage, wie weit Staat und Kirche in diesem Land wirklich getrennt sind. Kirchliche Verfahrensregelungen stehen über keinem Bundesgesetz. Historisch ist zu erinnern: Die Kirchen wurden Anfang der 1950er-Jahre vom Betriebsverfassungsgesetz ausgenommen. Dies war damals schon umstritten und wurde mit dem Argument durchgesetzt, man könne und solle die Kirchen in Westdeutschland von staatlichen Normen und Gesetzen freihalten, um die Stellung der bedrängten Kirchen in der sowjetischen Besatzungszone bzw. der DDR gegenüber dem Staat zu stärken.

Schwächung der Tarifautonomie

Für alle ist jetzt sichtbar: Kirchliche Arbeitgeber werden – wissend, dass die eigenen Beschäftigten nicht streiken dürfen – ihre Macht nicht für alle Pflegekräfte und nicht für eine Branche einsetzen, sondern für Sonderrechte, für Marktvorteile und immer gegen die Gewerkschaften. Deshalb gehört der §7a des Arbeitnehmerentsendegesetzes auf den Prüfstand. Dort ist die Zustimmungspflicht der kirchlichen Arbeitgeber zum Tarifvertrag festgeschrieben. Zur Wahrheit gehört auch, dass höhere Gehälter unter den jetzigen Bedingungen von den Menschen mit Pflegebedarf bezahlt werden müssen – über höhere Eigenanteile in den Heimen oder verteuerte Leistungen ambulant. Das rechtfertigt jedoch nicht die Entscheidung der Caritas. Wenn es den Dienstgebern wirklich darum ginge, hätten sie dem Tarifvertrag zugestimmt und zugleich ihre Macht für eine Bürgerversicherung eingesetzt, die endlich Besserverdienende nicht mehr schont und die Leistung Pflege, die irgendwann jeder Mensch einmal braucht, durch alle finanziert. Das wäre christlich „und den Menschen ein Wohlgefallen“, wie es in der Bibel heißt (Lukas 2:14).

Der Markt hat die Interessen der Pflegekräfte und der Menschen mit Pflegebedarf hingerichtet durch das unverhohlene Bündnis von privaten und kirchlichen Arbeitgebern. Noch mehr Pflegekräfte werden die Altenpflege verlassen. Die Arbeit wird so für die Verbleibenden noch anstrengender. Und für die Menschen mit Pflegebedarf sinkt möglicherweise die Versorgungsqualität, weil nicht genug Personal vorhanden oder dieses erschöpft am Ende ist. Die verheerenden Konsequenzen des 25. Februar sind schon jetzt spürbar. Die Bundesregierung will in einem Pflegereformgesetz nun die tarifliche Bezahlung stärken. Die Zulassung eines Anbieters wird an tarifliche Bezahlung gebunden. An welche Tarife wird allerdings nicht gesagt. Kann kein Tarifvertrag herangezogen werden, soll auf ortsübliche Entlohnung zurückgegriffen werden. Der Maßstab bleibt also der jetzt schon existierende Pflegemindestlohn der Pflegekommission. Und wer legt noch mal fest, wie die ortsübliche Vergütung ermittelt wird: der Kostenträger Pflegekasse. Welch eine Schwächung der Tarifautonomie!

Der Versuch, die Arbeitsbedingungen in der Altenpflege über eine Art staatliche Stellvertreterpolitik zu verbessern, ist gescheitert. Und das in einer Zeit zunehmender gesellschaftlicher Polarisierung, auf die Gewerkschaften wenig vorbereitet scheinen. Beschäftigte in der Pflege insgesamt – und nicht nur in der Altenpflege – sollten jetzt zusammenrücken: In und mit der Gewerkschaft ver.di sowie in Bündnissen vor Ort. Die zu pflegenden Menschen und ihre Familien – dass sind 4,2 Millionen Menschen und nochmal 4 Millionen pflegende Angehörige – gehören in solche örtlichen Bündnisse mit hinein. So werden Tarifkommissionen zu Schwergewichten, mit denen sich auch Dienstgeber lieber nicht anlegen. Und schon gar nicht in Gottes Namen.

Sonja Kemnitz ist Referentin für Pflegepolitik in der Fraktion DIE LINKE im Bundestag, ver.di-Mitglied und pflegende Angehörige.

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