Zur Sache: Moral ersetzt Inhalt

Wohlfühlworte lenken im Wahlkampf von den grotesken Ausmaßen ab, die die soziale und ökonomische Ungleichheit in Deutschland erreicht hat. Nun ausgerechnet die FDP als Steigbügelhalter für Rot-Grün herbeizureden, scheint kein Widerspruch mehr zu sein.

Zur Sache: Moral ersetzt Inhalt
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Zukunft, Mut, Respekt, Anerkennung – so steht es auf den Plakaten in diesem Wahlkampf. Fühlt sich auch gut und richtig an, dieser Respekt und diese Anerkennung. Sowohl wenn sie einem selbst widerfahren, aber auch, wenn man sie anderen zollt. Aber das Beste daran ist: Es kostet und ändert nichts. Das sind Floskeln, die davon ablenken, welch groteske Ausmaße die soziale und ökonomische Ungleichheit in unserem Land mittlerweile erreicht hat.

Neben den Fragen wie die Ausgaben der letzten Jahre refinanziert werden und was die Leute am Monatsende im Portemonnaie haben, brauchen wir auch eine Debatte darüber, welche Kraftanstrengungen unternommen werden müssen, damit in Zeiten des Klimawandels Beschäftigung gesichert und durch die Transformation neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Wenn Haltungsfragen den Wahlkampf dominieren, dann läuft es gut für die Super-Reichen. Respekt und der Anerkennung taugen nicht als politisches Programm.

Erschwerend kommt hinzu, dass das aus Social Media bekannte Phänomen der Shitstorms und Empörungswellen auch von Presse, Funk und Fernsehen übernommen zu werden scheint. Auch hier geht es hauptsächlich um Fragen der Haltung oder der Moral. Wird eine verhaltensbedingte Fehlfunktion ausgemacht, wird die Person direkt niedergebrüllt oder geächtet. Und so wird dreimal die Woche ein Aufreger gejazzt, der das Blut schön in Wallung bringt. Meist geht es darum, wer sich wo wie verhält, wie die Person reagiert hat und im schlimmsten Fall, was sie dabei trägt. Ist das nicht konform, beginnt die Empörungswelle. Wer sich empört, fühlt sich lebendig und beteiligt sich. Je nach Tageslage und persönlichem Fehltritt wird durchbeleidigt, so als ob über diese Art der Auseinandersetzung gesellschaftlicher Konsens bestünde. Wem diese Art des Diskurses nützt, kann man an einer Hand abzählen. Bei Aldi, Lidl oder BMW reibt man sich die Hände und lehnt sich entspannt zurück. Moral ersetzt Inhalt – aber mit Gefühl, bitte sehr.

Bei dieser Bundestagswahl geht es um alles. Entscheidungen, die zu treffen sind, werden Auswirkungen haben, die die Länge der nächsten Legislaturperiode weit überschreiten. Klimawandel, Transformation der Arbeitswelt, Kosten der Corona-Pandemie, kaputtgesparte Infrastruktur oder Daseinsvorsorge – in Summe stellen diese Herausforderungen die Kosten der Wiedervereinigung spielend in den Schatten. Irgendwer wird das alles bezahlen müssen und wir ahnen doch schon heute, wer den Gürtel demnächst wieder enger schnallen soll. Ulrike Eifler schreibt in der Titelstory unserer Ausgabe, dass es bei dieser Bundestagswahl um alles geht. Wenn es um alles geht, dann müssen sich gesellschaftliche Kräfteverhältnisse ändern. Das aber schafft niemand allein, auch wir nicht. Dafür brauchen wir Bündnispartner – in den Parlamenten und in der Gesellschaft, schrieben erst jüngst Susanne Ferschl und Jan Korte in einem gemeinsamen Beitrag. Um es ganz deutlich zu sagen: Für die Veränderung von Kräfteverhältnissen ist das Bündnis mit den Gewerkschaften für uns überlebenswichtig. Richtig ist: Sozialer Fortschritt wird erkämpft und die Gewerkschaften haben dabei eine zentrale Rolle. Erst durch ein gemeinsames Bündnis mit den Gewerkschaften entsteht für linke Politik die notwendige Durchsetzungsperspektive, die für unsere Arbeit existenziell ist – in der Gesellschaft, auf der Straße und in den Parlamenten.

Uns stehen die größten Verteilungskämpfe der Bundesrepublik bevor. Das Kapital hat kein Interesse an einer starken LINKEN im nächsten Bundestag, denn an den Mechanismen neoliberaler Politik soll sich nichts ändern. Vermögen sollen geschützt bleiben und anfallende Kosten auf die Allgemeinheit und vor allem auf die abhängig Beschäftigten verteilt werden. Mittlerweile scheint selbst ein Zweierbündnis für SPD und GRÜNEN greifbar. Nur schreckt das niemanden mehr auf der Kapitalseite oder bei den Arbeitgebern auf, verdanken sie doch den größten Angriff auf den Sozialstaat in diesem Jahrtausend paradoxerweise Rot-Grün. Und so scheint es auch überhaupt keinen Widerspruch mehr darzustellen, die FDP als potentiellen Steigbügelhalter für Rot-Grün herbeizureden. Soll sich aber an den Mechanismen neoliberaler Politik tatsächlich etwas ändern, kann auf eine Partei wie DIE LINKE im Bundestag nicht verzichtet werden. Und ist es SPD und GRÜNEN tatsächlich ernst mit sozialer Gerechtigkeit und Klimaschutz, brauchen sie hierzu DIE LINKE. Ansonsten ist das nur Folklore und führt sozialpolitisch in ein Desaster.

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Jan Richter ist Bundessprecher der BAG Betrieb & Gewerkschaft und im Parteivorstand.