Bei der Deutschen Bahn stehen die Zeichen auf Streik. Durch den Arbeitskampf der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) gerät auch der langjährige Konflikt mit der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) wieder in den Fokus der Aufmerksamkeit. Warum der Grundgedanke der Einheit historische Verpflichtung ist und es deshalb aus linker Sicht keine uneingeschränkte Solidarität mit der GDL geben kann, erklärt Ulrike Eifler, Bundessprecherin der BAG Betrieb & Gewerkschaft und Bundestagskandidatin für DIE LINKE in NRW, im Gespräch mit Jan Richter.
Jan Richter: Liebe Ulrike, 95 Prozent der in der GDL organisierten Mitglieder haben in der Urabstimmung für den Streik gestimmt. Wie steht die BAG Betrieb & Gewerkschaft dazu?
Ulrike Eifler: Wir sagen, die Lohnforderung der GDL ist richtig. Sie fordern für die Beschäftigten ein Tarifergebnis, das sich am Abschluss des öffentlichen Dienstes im letzten Herbst orientiert. Das sind 3,2 Prozent mehr Lohn auf 28 Monate. Diese Forderung wird vom Management der Deutschen Bahn (DB) mit dem Verweis auf die Krise und den durch die Pandemie bedingten Einbruch bei den Fahrgastzahlen abgelehnt. Ich persönlich habe eine scharfe Kritik an der GDL, aber einen Tarifabschluss, der nicht hinter das Ergebnis der Kolleginnen und Kollegen im öffentlichen Dienst zurückfällt, finde ich richtig.
Der Abschluss der EVG, die ja auch mit dem DB-Management verhandelt hat, lag bei nur 1,5 Prozent. Verhandelt die GDL besser?
Wir sollten nicht vergessen, dass Tarifabschlüsse in einer Krise immer auch schwierig sind. Viele Kolleginnen und Kollegen haben Angst vor Arbeitsplatzverlust. Deshalb hat sich die EVG neben einer reinen Lohnerhöhung auch auf die Frage der Beschäftigungssicherung konzentriert und den Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen sowie die Zusage von 18.000 zusätzlichen Stellen ausverhandelt. Nach dem beispiellosen Arbeitsplatzabbau der letzten Jahre und der Zunahme der Arbeitsverdichtung schafft das Entlastung. Wir sollten nicht glauben, Tarifabschlüsse seien eine Selbstverständlichkeit. Und wir sollten nicht den Stab über eine Gewerkschaft brechen, nur weil wir von außen glauben, da wäre mehr drin gewesen. Die EVG hatte sich dazu entschieden, den Fokus auf Beschäftigungssicherung zu legen und sie hatte ganz sicher ihre Gründe dafür.
Trotzdem ist die Lohnforderung der GDL richtig?
Aus Sicht der Arbeitgeber gibt es nie den richtigen Zeitpunkt für Lohnerhöhungen: In der Krise verhindert ein guter Abschluss den Aufschwung und im Aufschwung läutet er angeblich den Abschwung ein. Aber für die Beschäftigten sind regelmäßige Lohnerhöhungen wichtig: Steigende Spritpreise, steigende Ticketpreise im Nahverkehr, explodierende Mieten – ohne regelmäßige Lohnerhöhungen bleibt da nicht mehr viel übrig vom Monatsgehalt. Hinzu kommt: Die DB-Beschäftigten konnten sich nicht – wie viele andere Beschäftigte übrigens auch nicht – während der Pandemie ins Homeoffice retten, sondern haben unter hohem Infektionsrisiko weitergearbeitet. Deshalb sagen wir: Auch für die Beschäftigten der Deutschen Bahn gilt, dass sie nicht zum praktischen Lohnverzicht in der Corona-Krise gedrängt werden dürfen.
Du hast eingangs gesagt, du hättest eine scharfe Kritik an der GDL?
Die GDL ist radikal, kämpferisch und sie mobilisiert ihre Mitglieder in den Arbeitskampf. Aber sie hat dabei nicht die gesamte Belegschaft im Blick. Sie vertritt die Lokführer, aber die Kolleginnen und Kollegen, die die Züge reinigen oder die Tickets verkaufen, hat sie nicht im Fokus. Im Gegenteil, sie fordert proaktiv Kürzungen im Verwaltungsbereich. Da sage ich ganz klar: Personalkürzungen sind das Geschäft des Managements, das gehört nicht zu den Forderungen einer Gewerkschaft. Außerdem attestiert sie einem Teil der Beschäftigten, systemrelevant zu sein, einem anderen Teil dagegen nicht.
Und dann ist da auch noch das Konkurrenzverhältnis zwischen der EVG und der GDL. Wenn zwei sich streiten, freut sich bekanntermaßen ja wer Drittes. Das wäre in dieser Konstellation dann das DB-Management, also die Arbeitgeber.
Das ist richtig. Wir haben es bei der Deutschen Bahn mit einer gewerkschaftlichen Spaltung zu tun, die die Durchsetzung der Interessen der abhängig Beschäftigten erschwert. Nach 1945 haben sich die deutschen Gewerkschaften aus gutem Grund zur Einheitsgewerkschaft zusammengeschlossen: Ein Betrieb, eine Gewerkschaft. Die Diffamierung der in der EVG organisierten Kolleginnen und Kollegen durch die GDL-Führung schwächt die Beschäftigten insgesamt und erschwert die gemeinsame Durchsetzung ihrer Interessen. Dass Claus Weselsky die Verdrängung der EVG fordert und diese anstelle des Managements zum Gegner erklärt, spaltet die Belegschaft und sollte von der LINKEN scharf kritisiert werden.
Hier stehen sich das Modell der Einheitsgewerkschaft und das Modell der Spartengewerkschaft konträr gegenüber…
Das ist genau der Punkt. Zum Grundverständnis der Gewerkschaftsbewegung nach 1945 gehörte: Alle Berufsgruppen sind wichtig – im Falle der DB die Lokführer ebenso wie die Kolleginnen und Kollegen in den Werkstätten, in der Instandhaltung, in der Reinigung oder der Verwaltung. Sie alle leiden unter der zunehmenden Arbeitsdichte durch die Privatisierung der Bahn. Einheitsgewerkschaft meint: Eine Gewerkschaft für alle – unabhängig von Beruf, politischer Ausrichtung oder religiöser Präferenz. Eine für alle, weil es die Einheit ist, die stärkt.
Aber ist die Kritik an der EVG nicht berechtigt, schließlich gilt sie im Unterschied zur GDL eher als zurückhaltend?
Schaut man sich die Lohnentwicklung bei der DB genau an, so sind die Löhne und Gehälter seit dem Jahr 2000 um fast 80 Prozent gestiegen – bei einer Preissteigerung von 32 Prozent im selben Zeitraum und einer gesamtwirtschaftlichen Steigerung der Löhne und Gehälter um 60 Prozent. Die Abschlüsse mit dem DB-Management in den letzten 20 Jahren waren also überdurchschnittlich. Das ist nicht allein das Verdienst der GDL. Das Gegenteil ist vielmehr der Fall. Seit 2008 schließt die EVG ihre Tarifverträge immer zuerst ab, die GDL zeichnet sie dann nach. Und die jüngsten Tarifverträge der EVG, in denen die Beschäftigten zwischen Lohnerhöhungen, mehr Urlaub oder Arbeitszeitverkürzungen wählen konnten, waren auch für andere Gewerkschaften wie zum Beispiel die IG Metall wegweisend.
Seit Juli 2015 ist auf Initiative der damaligen Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) das Tarifeinheitsgesetz in Kraft getreten, das die Verhandlungsmacht kleiner Gewerkschaften deutlich einschränkt. Dafür gab es Applaus von den Arbeitgebern.
Dieses Gesetz haben sowohl die EVG als auch die GDL aus gutem Grund seinerzeit abgelehnt, denn es verschärft die Auseinandersetzungen unter den Beschäftigten und vertieft so die Spaltung im Betrieb. Und es stellte insbesondere zu Beginn der öffentlichen Diskussion einen nicht hinnehmbaren Eingriff ins Streikrecht dar. Meine Kritik an der GDL verhindert nicht, dass ich mich dafür stark mache, dass das Streikrecht auch für sie gelten muss. Da gibt es für mich gar keine Diskussion.
DIE LINKE hat das Tarifeinheitsgesetz scharf kritisiert. Laut einem Gutachten der Bundestagsfraktion stellt es aus Sicht des renommierten Arbeitsrechtlers Prof. Dr. Wolfgang Däubler den folgenschwersten Eingriff in das Grundgesetz dar, der nur noch durch ein Gewerkschaftsverbot selbst übertroffen werden würde. Teilt die BAG Betrieb & Gewerkschaft das so auch noch heute?
Selbstverständlich! Wenn nun ausgerechnet diejenigen, die in den letzten Jahren Tarifflucht unterstützt, geduldet oder aktiv betrieben haben, die Tarifeinheit in einem Betrieb von oben regeln wollen, dann ist das ganz sicher nicht im Interesse der Beschäftigten. Die vielen realen Probleme in den Betrieben wurden durch das Tarifeinheitsgesetz nicht einmal ansatzweise gelöst. Outsourcing führt beispielsweise seit Jahren vielerorts zur Zersplitterung der Belegschaften und damit zu unterschiedlichen Standards in ein und demselben Betrieb. Leiharbeit, Werkverträge und der Wechsel von Tarifzugehörigkeiten bei Neugründungen sind für viele Beschäftigten die Regel und bedeuten real, dass es Zwei-Klassen-Systeme in den Belegschaften gibt. Die Deregulierung der Arbeitswelt hat Belegschaften gespalten, und der eigentliche Nutzen von Hartz IV ist seine disziplinierende Wirkung auf diejenigen, die sich noch zur Stammbelegschaft zählen können. Der Zustand der Einheit unter den Beschäftigten ist nicht die Regel, sondern leider die Ausnahme. Einheit kann aber nur von unten hergestellt werden. Nicht, indem die eine Gewerkschaft versucht die andere Gewerkschaft zu verdrängen, sondern nur über den gemeinsamen Arbeitskampf.
Wie sollte sich DIE LINKE im aktuellen Arbeitskampf der GDL positionieren?
Es wäre falsch, in den Chor des Managements einzustimmen und den Lohnkampf der GDL als überzogen zu kritisieren. Das ist er definitiv nicht. Auch hier geht es um die Frage, wer für die Krise zahlt. Aber eine uneingeschränkte Solidarität mit der GDL darf es nicht geben. DIE LINKE hat Mitglieder innerhalb der GDL und innerhalb der EVG. Diese müssen in ihren Gewerkschaften diejenigen sein, die am entschiedensten für die Einheit eintreten. Gleichzeitig muss klar sein, dass die Positionen der GDL-Führung das Herstellen dieser Einheit erschweren.
Was meinst du damit konkret?
In der aktuellen Tarifrunde wurde die Zerschlagung des DB-Konzerns in Netz und Betrieb von der GDL zur Verhandlungsvoraussetzung gemacht. Dafür müssen wir die GDL von links scharf kritisieren, denn wenn wir die Mobilitätswende erfolgreich organisieren wollen, dann geht das nur mit der DB in öffentlicher Hand. Und wenn Claus Weselsky die Offenheit der GDL gegenüber Mitgliedern und Funktionären der AfD ausgerechnet mit der Einheitsgewerkschaft begründet, dann ist das nicht nur zutiefst ahistorisch, sondern wir müssen auch das als politisch falsch zurückweisen. Seine Position stellt das Prinzip der Einheitsgewerkschaft auf den Kopf. Die AfD ist nicht nur rassistisch, sie ist auch neoliberal. Sie spaltet und hat kein Interesse an einer Einheit unter den Beschäftigten. Willi Bleicher, der uns mitgegeben hat, die Einheitsgewerkschaft wie einen Augapfel zu hüten, würde sich im Grabe umdrehen.
Vielen Dank für das Gespräch
Siehe auch:
Auch für die Beschäftigten der Deutschen Bahn gilt: Sie dürfen nicht zum praktischen Lohnverzicht in der Corona-Krise gedrängt werden. Die BAG Betrieb & Gewerkschaft sagt deshalb: Die Lohnforderung der GDL ist richtig – gerade jetzt in der Krise. Wir sind deshalb solidarisch mit dem Lohnkampf der Beschäftigten bei der Bahn. Hier die Erklärung der Bundessprecherinnen und Bundessprecher: Die BAG Betrieb & Gewerkschaft unterstützt den Lohnkampf der Beschäftigten bei der Deutschen Bahn