EU-Mindestlohnrichtlinie unter Beschuss

Steht die Mindestlohnrichtlinie in Europa vor dem Aus? Dänemark und Schweden klagen vor dem EuGH, darin fordert der Generalanwalt Nicholas Emiliou deren vollständige Annullierung. Worum es geht und was auf dem Spiel steht, hat Özlem Alev Demirel für uns zusammengefasst.

EU-Mindestlohnrichtlinie unter Beschuss
Foto: Die Linke

Die 2022 beschlossene EU-Mindestlohnrichtlinie wurde nicht umsonst von Gewerkschaften als eine der wichtigsten Errungenschaften der letzten Jahrzehnte gesehen. Es ist deshalb auch nicht überraschend, dass sie weiter unter Beschuss steht. So hat Anfang des Jahres der Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof (EuGH), Nicholas Emiliou, im Zuge der Klage von Dänemark und Schweden die vollständige Annullierung der Richtlinie gefordert. Eine Entscheidung des Gerichts ist im Laufe dieses Jahres zu erwarten und könnte uns in unserem Kampf um Arbeitsrechte massiv zurückwerfen.

Um was geht es genau? Der Vorstoß richtet sich gegen die beiden Kernelemente der Mindestlohnrichtlinie. Zunächst gibt sie Schwellenwerte für Untergrenzen für Mindestlöhne vor, die ein Leben in Würde garantieren und vor Armut schützen - nicht als verbindliche Werte, sondern als Orientierungshilfen.

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Özlem Alev Demirel (MdEP) ist Mitglied des Europäischen Parlaments für Die Linke und hat dort im Ausschuss für Beschäftigung und soziale Fragen u.a. an der Mindestlohnrichtlinie mitgewirkt. Die Gewerkschafterin zeichnet zudem ihr unverrückbares Eintreten gegen Krieg und Aufrüstung aus.

Der Generalanwalt führt nun jedoch aus, dass die Richtlinie, obwohl sie nur indirekt wirkt, letztlich in die Festlegung von Löhnen eingreife und somit außerhalb der Handhabe der EU liege. Damit stellt er sich direkt gegen frühere Rechtsgutachten, die im Gesetzgebungsprozess von den juristischen Diensten des Parlamentes, der Kommission und des Rates angefertigt worden waren. Die Auslegung des Generalanwalts kann durchaus als politischer Vorstoß gewertet werden. Man darf schließlich nicht vergessen, dass aus der EU etwa in der Eurokrise Vorgaben gemacht wurden, um Tarifverträge zu zerschlagen und Mindestlöhne zu senken. Die Mindestlohnrichtlinie sagt endlich mal das Umgekehrte und schon wird sie als problematisch betrachtet.

Sollte der EuGH dieser gewagten Interpretation nicht folgen, zielt Emiliou auf eine Teilannullierung der Richtlinie. Denn das zweite Kernelement besteht darin, die Mitgliedstaaten dazu zu bringen, hohe Tarifbindungsraten zu erreichen.

Wenn weniger als 80% der Arbeitnehmer:innen durch Tarifverträge abgedeckt sind, müssen die Mitgliedstaaten in Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern Aktionspläne zur Steigerung der Tarifbindung erstellen. Diese Pläne müssen konkrete Maßnahmen und Zeitrahmen beinhalten. Dänemark und Schweden führen einen Formfehler im Gesetzeverfahren dagegen an, da sie Sorgen haben, dass in ihre Koalitionsfreiheit eingegriffen werden würde. Aber die Richtlinie sagt klipp und klar, dass sie sich lediglich auf Mitgliedstaaten bezieht, wo es gesetzliche Mindestlöhne gibt. Solange es in Dänemark und Schweden diese hohe Tarifbindungsrate gibt, hat die Richtlinie zurecht keine Auswirkungen auf diese Länder, aber sehr wohl für den erdrückenden Teil der Mitgliedstaaten, die gesetzliche Mindestlöhne haben, die nicht mal vor Armut schützen und in denen viel zu viele Menschen ohne Tarifverträge schuften.

Die Stellungnahme von Emiliou hat keine bindende Wirkung, sondern dient lediglich als Entscheidungshilfe für die Richter. Es stimmt zwar, dass sich der EuGH in rund 75 Prozent der Fälle den Empfehlungen des Generalanwaltes folgt. In diesem Fall scheint jedoch der Ausgang offen, da der Gerichtshof ebenso sehr freundlich gegenüber einer stärkeren Integration der EU urteilt. Jetzt wird sich entscheiden, ob diese Integration immer nur im Sinne des Kapitals gedacht wird. Wenn die Europäische Mindestlohnrichtlinie scheitert, würde dies die Idee eines Sozialen Europas auf jeden Fall stark angreifen und das Bild der EU als ein Projekt im Interesse wirtschaftlicher Eliten weiter verstärken.

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Der Beitrag stammt aus der diesjährigen Mai-Ausgabe unserer Zeitung WELT DER ARBEIT, die ihr hier findet: Heraus zum 1. Mai (Mai 2025)