Der Streik der Gewerkschaft der Lokomotivführer (GDL) und das Konkurrenzverhältnis mit der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) bewegt auch in der Partei DIE LINKE die Gemüter. Unsere Bundessprecherin von Betrieb & Gewerkschaft, Ulrike Eifler, hat mit Andreas Müller gesprochen. Andreas ist Tarifsekretär bei der EVG. Er erklärt, warum der Konflikt zwischen den beiden Gewerkschaften ein Problem ist und warum sich die EVG mit ihren Abschlüssen nicht verstecken muss.
BAG Betrieb & Gewerkschaft: Lieber Andreas, die GDL fordert eine Orientierung des Tarifabschlusses am Ergebnis des öffentlichen Dienstes, also 3,2 Prozent bei einer Laufzeit von 28 Monaten. Die EVG unterschrieb im Herbst 2020 ein Tarifabschluss, der für 2021 eine Nullrunde und ab 2022 eine Lohnerhöhung von 1,5 Prozent vorsieht. Wie beurteilst du diesen Abschluss?
Andreas Müller: Wir haben im Juli 2020 an der bereits in der letzten Tarifrunde ausverhandelten Lohnerhöhung von 2,6 Prozent festgehalten. Das war keine Selbstverständlichkeit, denn die Arbeitgeberseite wollte diese aufgrund der Krise verschieben. Die EVG hat zudem einen Grundsatzbeschluss, keine Tarifverträge länger als zwei Jahre abzuschließen. Wir legen in aller Regel für die Aufstellung von Lohnforderungen die klassische Berechnung zugrunde. Das sind Inflation plus Produktivität, also der sogenannte verteilungsneutrale Spielraum, plus Umverteilung.
Das war aber im Pandemiejahr wegen des Einbruchs bei den Fahrgastzahlen vermutlich schwierig, oder?
Ganz genau. Deshalb und weil die Inflation zum Zeitpunkt des Abschlusses bei nur 0,5 Prozent lag, haben wir uns auf andere Bereiche konzentriert und diese Forderungen auch durchgesetzt. Darunter 18.000 Neueinstellungen, um Entlastung für die Kolleginnen und Kollegen zu schaffen. Hinzu kommt ein verbesserter Kündigungsschutz direkt nach der Probezeit, um den Jobwechsel zur DB attraktiver zu machen. Wir haben eine neue Fachvermittlerprämie durchgesetzt und einen Fonds Wohnen und Mobilität an den Start gebracht. Wer den Abschluss nur auf 1,5 Prozent verkürzt, macht schon den ersten Fehler.
Was tut die EVG gegen den Wegfall der Betriebsrenten?
Der bisher gültige Zusatzversorgungstarifvertrag sah für jedes Beschäftigungsjahr eine Betriebsrente von 3,58 Euro für maximal 40 Beschäftigungsjahre vor. In Summe kommt ein Beschäftigter also auf gerade einmal 140 Euro Betriebsrente. Unsere beständige Forderung nach einer Erhöhung in den letzten Jahren hat der Arbeitgeber immer wieder kategorisch abgelehnt.
Wie habt ihr darauf reagiert?
Wir haben mit dem bAV-TV eine weitere Betriebsrente schrittweise eingeführt. Diese liegt inzwischen bei 3,3 Prozent, mindestens 82,50 Euro pro Monat und wird in einen Pensionsfonds eingezahlt. Da der Arbeitgeber von den Rückstellungen weg- und den Zusatzversorgungstarifvertrag ebenfalls in den Pensionsfonds überführen will, hat er diesen gekündigt. Der Tarifvertrag hatte keine Nachwirkung und lief zum 31.12.2020 aus. Im Unterschied zur GDL haben wir eine Fristverlängerung bis Ende 2021 erreicht und verhandeln zur Zeit. Die erworbenen Anwartschaften sind sicher, es geht jedoch um die Fortsetzung des Tarifvertrages. Der Zusatzversorgungstarifvertrag ist nur ein kleiner alter Teil des Gesamtsystems.
Die GDL fordert durch eine offensive Bündnispolitik und in dieser Tarifrunde die Umstrukturierung des Bahnkonzerns, was auf die Trennung von Netz und Schiene hinausläuft. Wie wird das in der EVG diskutiert?
Wir sagen: Die Verkehrswende wird uns nur gelingen, wenn Netz und Betrieb zusammen und in staatlicher Hand bleiben. Eine Zerschlagung des Konzerns würde mehr Wettbewerb mit sich bringen und für die Beschäftigten zu schlechteren Arbeitsbedingungen führen. Das wird heute schon beim Regionalverkehr oder im Gütertransport sichtbar.
In der LINKEN heißt es manchmal, die GDL wäre die kämpferischere Gewerkschaft, weil sie häufiger streiken würde. Stimmt das?
Die EVG geht vorsichtiger mit dem Streikrecht um und ich möchte erklären, warum: Als wir 2018 den Streik einleiteten, um den zweiten Schritt unseres Wahlmodells durchzusetzen – mit deren Hilfe die Kolleginnen und Kollegen die Möglichkeit haben sollten, zwischen mehr Lohn, mehr Urlaub oder Arbeitszeitverkürzung zu wählen -, hat es genau eineinhalb Stunden gedauert, bis der Verkehr bundesweit stand. Nichts bewegte sich. Nicht einmal der Notfallfahrplan funktionierte. So mächtig und so leicht zu treffen ist der Verkehrssektor.
Und mit dieser Macht sollte eine Gewerkschaft verantwortungsvoll umgehen?
Ich meine, ja! Der öffentliche Verkehr ist ein sehr sensibler Bereich: Die Menschen müssen aus beruflichen oder privaten Gründen von A nach B kommen. Wenn sich der Arbeitgeber nicht bewegt, hilft nur Streik. Aber dieses Streikrecht ist sorgsam einzusetzen.
Was sind deine Befürchtungen, wenn dies nicht geschieht?
Der jetzige GDL-Streik lockt alle auf die Bühne, die Einschränkungen des Streikrechtes wollen und dafür ist der Verkehr das Einfallstor. Übrigens hat die EVG am 24. August den Verkehrsminister und alle Parteien, die AfD natürlich ausgenommen, aufgefordert, die Finger aus dem Tarifkonflikt und vom Streikrecht zu lassen.
Mit Susanne Hennig-Wellsow und Dietmar Bartsch haben zwei prominente Spitzenpolitiker der LINKEN gefordert, der Bund müsse den Streik beenden, indem er die Forderungen der GDL erfülle. Können diese Forderungen nicht auch hilfreich sein?
Das war vielleicht als Rückenwind gemeint, konsequent zu Ende gedacht, ist es jedoch ein Problem. Tarifverträge werden zwischen den Tarifpartnern abgeschlossen, der Bund gehört nicht dazu. Auch VW hat eine staatliche Beteiligung. Soll da auch demnächst der Eigentümer eingreifen, weil es unzumutbar ist, dass die Menschen länger auf ihre Autos warten? Außerdem frage ich mich, welche der 58 Forderungen der Bund erfüllen soll, um den Streik zu verhindern? Die Lohnforderung? Die Corona-Prämie? Die Ausweitung der Zeitarbeit auf fünf Jahre? Oder die Zerschlagung des Konzerns? Die Forderung von Partei- und Fraktionsspitze dazu finde ich nicht hilfreich.
Könnte die Forderung, Merkel persönlich solle den Streik beenden, sich mittelfristig auf das Streikverbot im öffentlichen Dienst auswirken?
Dietmar und Susanne sagen, die Streiks seien unzumutbar und müssten deshalb verhindert werden. Die Menschen hätten schließlich ein Recht auf die öffentliche Daseinsvorsorge. Ja, das haben sie in der Tat. Aber wir wissen, die Daseinsvorsorge wird nicht durch Streiks eingeschränkt, sondern durch die finanzielle Unterversorgung. DIE LINKE sollte nicht die Tonlage derjenigen verstärken, die ein Interesse daran haben, Streiks als ein lästiges Problem darzustellen, um sie leichter verbieten zu können. Ich habe ausreichend Kritik an der GDL, aber wann und wie gestreikt wird, entscheidet noch immer die zuständige Gewerkschaft und nicht Angela Merkel.
Wie würdest du die Tarifabschlüsse der letzten Jahre bewerten?
Als überdurchschnittlich! Das Durchschnittsentgelt bei der DB erhöhte sich von 2.071 Euro im Jahr 2000 auf 3.717 Euro im Jahr 2020. Das ist eine Entgeltsteigerung um knapp 80 Prozent in den letzten 20 Jahren. Gleichzeitig betrug die Preissteigerung in diesem Zeitraum nur 32 Prozent, der verteilungsneutrale Spielraum lag bei 50 Prozent und die durchschnittlichen Lohnerhöhungen bei 60 Prozent. Ich finde, diese Abschlüsse können sich sehen lassen. Und was mich besonders stolz macht: Es ist nicht unser Vorsitzender Hommel, der die Tarifverträge abnickt, wenn er den Abschluss für richtig hält, sondern es gibt vor jeder Tarifverhandlung Zukunftswerkstätten und Mitgliederbefragungen. Selbst bei den Verhandlungen sind eine Reihe von ehrenamtlichen Kolleginnen und Kollegen eingebunden. Unsere Abschlüsse sind hochdemokratische Prozesse.
Kann man sagen, welchen Anteil an diesen Steigerungen die EVG hatte und welchen die GDL?
Das kann man. Seit 2008 hat die EVG zuerst ihren Abschluss gemacht. Die Entgeltsteigerungen hat die GDL immer nachgezeichnet, sich aber in Nachverhandlungen oder in Schlichtungen noch Rosinen beispielsweise bei Arbeitszeitregelungen geben lassen.
Ist Tarifpolitik in einem Konzern mit so unterschiedlichen Bereichen nicht auch schwierig?
Die EVG muss die ersten Kompromisse bereits bei der Forderungsaufstellung machen. Wir haben neben den eigentlichen Entgeltforderungen meist einen ganzen Sack weiterer Forderungen dabei. Damit versuchen wir die verschiedenen Bereiche angemessen zu berücksichtigen: Busfahrer, Dienstleister, Kolleginnen und Kollegen bei DBService, die vom Mindestlohn betroffen sind, aber auch bestverdienende Computerspezialisten bei DBSystel, Beschäftigte in der Instandhaltung bis hin zu Fahrdienstleiterinnen, Zugbegleiterinnen sowie Lokführerinnen und Lokführern.
Das klingt, als würdet ihr mehr als eine Forderung pro Tarifrunde aufstellen…
So ist es. In den letzten Tarifrunden waren es immer so um die 50 Punkte. Das bindet natürlich auch Volumen und geht zu Lasten der Prozentforderung. Dennoch gelingt es uns, neben Entgelterhöhungen weitreichende Verbesserungen für die Beschäftigten durchzusetzen. Für Nachwuchskräfte haben wir einen Tarifvertrag mit Mietkostenzuschuss abgeschlossen und für Ältere die besondere Teilzeit im Alter. Wir haben einen verbesserten Kündigungsschutz durchgesetzt und einen speziellen Tarifvertrag Arbeit 4.0 abgeschlossen. Außerdem haben wir Tarifverträge zu Langzeitkonten und JobTickets. Und mit der Wahlmöglichkeit zwischen mehr Geld, mehr Urlaub oder Arbeitszeitverkürzung versuchen wir, die unterschiedlichen Lebensphasen zu berücksichtigen. Die Welt ist bunt und unsere Tarifverträge bilden das in vielen Punkten ab.
War die EVG bzw. ihre Vorgängergewerkschaft, die transnet, zu unkritisch in Bezug auf die Bahnprivatisierung?
Jaein, würde ich da sagen. Die Beschlusslage war immer in Ordnung. Trotzdem gab es starke Kräfte, die in frischem Kapital, öffentlich-privater Partnerschaft oder Börsengang die Lösung gesehen haben. Das war damals auch Zeitgeist. Ich erinnere nur an der Verkauf der Eisenbahnwohnungsgesellschaften, die in der heutigen Vonovia aufgegangen sind. Wir haben uns damals entschieden, keinen klaren Gegenkurs gegen die Privatisierung zu fahren, sondern versucht, ihn im Interesse der Beschäftigten zu gestalten. Vielleicht haben wir dadurch verhindert, dass die DB heute eine Aktienbahn ist. Aber ich gebe zu, dass insbesondere wir Linken in der EVG uns oft einen klareren Gegenkurs gewünscht haben.
Siehst du abschließend mittel- oder langfristig die Chance, dass die Konkurrenzsituation zwischen EVG und GDL aufgelöst wird?
Ich hoffe es immer noch, auch wenn ich skeptisch bin. Mit der GDBA hatten wir das dachverbandsübergreifend ja auch bewältigt und gezeigt, dass es gemeinsam geht. Die Einheit und das einheitliche Vorgehen aller Beschäftigten muss unser Ziel bleiben.
Vielen Dank für das Gespräch, Andreas.
Zum Thema siehe auch:
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Bei der Deutschen Bahn stehen die Zeichen auf Streik. Durch den Arbeitskampf der GDL gerät auch der langjährige Konflikt mit der EVG wieder in den Fokus der Aufmerksamkeit. Warum der Grundgedanke der Einheit historische Verpflichtung ist, erklärt Ulrike Eifler, Bundessprecherin der BAG Betrieb & Gewerkschaft und Bundestagskandidatin für DIE LINKE in NRW: Eine uneingeschränkte Solidarität mit der GDL kann es nicht geben