Nach der Wahl: Die Gewerkschaften dürfen sich nicht einbinden lassen!
Für die Zeitschrift Sozialismus analysieren unsere Bundessprecher Nils Böhlke, Ulrike Eifler und Julia-C. Stange den Koalitionsvertrag als Aufruf zum Klassenangriff und argumentieren, dass sich die Gewerkschaften unabhängig von den Einbindungsversuchen der GroKo positionieren müssen.

Der Koalitionsvertrag von Union und SPD liegt auf dem Tisch. Dabei fällt vor allem eines auf: Die Bereitschaft zu sozialen Zugeständnissen geht merklich zurück. An ihre Stelle tritt eine zunehmende Militarisierung, die mit Angriffen auf den Sozialstaat einhergeht. Insbesondere die Ausweitung der gesetzlichen Höchstarbeitszeit mit bis zu 13-Stunden-Schichten geht an die Grundfeste gewerkschaftlicher Errungenschaften. Trotzdem sind die Reaktionen der Gewerkschaften verhalten. Die Gefahr ist groß, dass die SPD sie in den Regierungskurs aus Kriegsvorbereitungen, Sozialabbau und politischer Spaltung einbindet. Davon müssen sich die Gewerkschaften frei machen. Anderenfalls drohen sie, in genau die gleiche strategische Falle zu tappen, die sie bereits bei der Einführung der Agenda 2010 geschwächt hatte.
Ein unbegrenztes Aufrüstungsprogramm
Auch wenn der Koalitionsvertrag mit dem Titel "Verantwortung für Deutschland" versehen ist: Aus Gewerkschaftssicht ist der Grundcharakter des Papiers von Verantwortungslosigkeit geprägt. Das beginnt bei der Lockerung der Schuldenbremse für Rüstungsausgaben und hört bei dem Investitionsprogramm, das offenbar vorrangig zur militärischen Ertüchtigung der öffentlichen Infrastruktur beitragen soll, noch lange nicht auf. So sollen alle Rüstungsausgaben ab einem Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) von der Schuldenbremse ausgenommen sein. Das entspricht nach gegenwärtiger Wirtschaftsleistung etwa 43 Milliarden Euro. Während die Tarifforderung im öffentlichen Dienst mangels Finanzierbarkeit nach drei Verhandlungsrunden scheiterte und schließlich in die Zwangsschlichtung musste, wurde in der selben Woche im Bundestag beschlossen, dass alle Ausgaben über 43 Milliarden Euro - sofern sie im Zusammenhang mit der Aufrüstung stehen - problemlos finanziert werden können.
Damit bringt die künftige GroKo etwas auf den Weg, an dem die Ampel gescheitert war: Eine grenzenlose Aufrüstung ohne den frontalen Angriff auf den Sozialstaat. Ebenso wie Christian Lindner würde auch Friedrich Merz die Finanzierung der Zeitenwende am liebsten über den Abbau des Sozialstaates sicherstellen. Dass sie dennoch den Umweg über Sondervermögen und kreditfinanzierte Aufrüstung gehen, liegt daran, dass die Zeit für Koalitionen mit größtmöglichen neoliberalen Schnittmengen, wie sie beispielsweise mit der AfD möglich wären, noch nicht gekommen ist. Aktuell brauchen sie die Koalition mit der SPD, um die Gewerkschaften und Teile der politischen Linken in ihre Politik aus Aufrüstung und neoliberaler Wirtschaftswende einzubinden.
Der politische Kitt ist die Verschleierung des Zusammenhangs von Aufrüstung und Sozialabbau.
Spätestens aber bei der Frage der Finanzierung der Zinsen für die Rüstungsmilliarden wird der Freifahrtschein für grenzenlose Rüstungsausgaben Fragen der Gegenfinanzierung aufwerfen. Die Verteilungsfrage wird sich weiter zuspitzen.
Der Klassenangriff im Koalitionsvertrag
So sehr sich Lars Klingbeil und Saskia Esken darum bemühen, den Eindruck zu erwecken, der Koalitionsvertrag komme klassenneutralisiert daher, ist er vor allem eines: Ein Angriff auf die Interessen der lohnabhängigen Klasse. Wieder einmal zeigt sich: Wer sich nicht explizit auf die Seite der Lohnabhängigen stellt, stellt sich gegen sie. Die Abschaffung des Acht-Stunden-Tages und die Reduzierung der gesetzlich verpflichtenden Betriebsbeauftragten werden erhebliche Auswirkungen auf Stressbelastung und Unfallrisiko in den Belegschaften haben. Wenn dann noch Überstunden über die tarifliche Vollzeitarbeitszeit hinaus steuerfrei gestellt werden, wird dies zu erheblichen Mehrbelastungen führen.
Christian Lindner hatte bereits im Frühjahr 2022 angekündigt, dass die Beschäftigten zur Finanzierung der Zeitenwende mehr Überstunden leisten müssten. Mit dem Koalitionsvertrag soll dafür die Grundlage gelegt werden.
Auch der Umbau des Bürgergeldes sowie die Verschärfung von Mitwirkungspflichten und Sanktionen lässt befürchten, dass diese Maßnahme - analog zur Agenda 2010 - die Belegschaften gerade in Zeiten massiven Stellenabbaus in den Industriebetrieben disziplinieren könnte.
Ein echter Paradigmenwechsel aber ist die sogenannte Frühstarterrente, im Rahmen derer der Staat für jeden Bürger zwischen sechs und 18 Jahren zehn Euro pro Monat in ein individuelles, kapitalgedecktes und privatwirtschaftlich organisiertes Altersvorsorgedepot einzahlen will. Eine Regierung, die ansonsten jeden Cent zweimal umdreht, um ihn nicht vielleicht doch lieber in die Hochrüstung zu stecken, muss sich zumindest den Verdacht gefallen lassen, mit einer derartigen Maßnahme vor allem ein Ziel zu verfolgen: Den Ausstieg aus dem Sozialversicherungssystem und den Einstieg in die kapitalgedeckte Rente vorzubereiten. Dies gilt um so mehr, da der Koalitionsvertrag eine Reform des Sozialstaates noch vor Jahresende ankündigt. Dazu sollen für den Bereich Rente, Kranken- und Pflegeversicherung Kommissionen eingesetzt werden, die bereits im vierten Quartal 2025 Reformvorschläge vorlegen sollen. Inzwischen hat der Chefverhandler der Union, Thorsten Frei, die Katze aus dem Sack gelassen und für das kommende Jahr Einschnitte im Sozialsystem angekündigt. Sie unterstreichen, dass die "Reform" zu Lasten der breiten Bevölkerung gehen wird. "Gesundheit, Pflege und Rente, das sind die großen Herausforderungen, da werden auch unangenehme Entscheidungen getroffen werden müssen". Eine Umschichtung der öffentlichen Ausgaben sei seiner Meinung nach notwendig, weil "die Ausgaben für Verteidigung erhöht werden müssen".[1]
Die Stimmen der Arbeitgeber
Noch interessanter als der Koalitionsvertrag selbst sind die Reaktionen der Arbeitgeber, flankiert von den Top-Ökonomen dieses Landes. Ihr Fazit: Im Großen und Ganzen ok, aber bitte mehr Tempo und noch weniger Zugeständnisse an den Sozialstaat. So sagte Ifo-Präsident Clemens Fuest, die Richtung stimme, aber es fehlten Reformen, um die Ausgaben des Sozialstaates zu senken - er schlägt vor, das Renteneintrittsalter heraufzusetzen und die Rentenformel so zu verändern, dass sich der Anstieg der Renten verlangsamt.[2] Bankenpräsident Christian Sewing bläst ins gleiche Horn: Der Koalitionsvertrag enthalte wichtige Impulse für dringend benötigte Strukturreformen, man hätte sich aber an der einen oder anderen Stelle noch mehr gewünscht.[3] Und für Friedrich Heinemann vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) fehlte es schon dem Sondierungspapierpapier an allem, was Deutschland dringend benötige: höheres Renteneintrittsalter, Ausweitung der Wochenarbeitszeit, mehr Eigenverantwortung im Fall von Krankheit und Pflege, Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und ein konsequenter Subventionsabbau.[4] Vor einigen Wochen wurde sogar bekannt, dass Gesamtmetall zwei Wissenschaftler damit beauftragt hat, einen Gesetzentwurf zu verabschieden, der das Streikrecht einschränken soll.[5] Die Reaktionen der Arbeitgeber müssen im Zusammenhang mit der ökonomischen Krise gesehen werden. Sie verschärft den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit nachhaltig. Bereits die Aufkündigung der Tarifverträge zur Beschäftigungssicherung bei Deutschlands Vorzeige-Automobil-Unternehmen Volkswagen im vergangenen Herbst unterstrich, die Zeit der Sozialpartnerschaft scheint zu Ende zu gehen. Der Koalitionsvertrag und die Vorstöße der Arbeitgeber verstärken diesen Eindruck. Insbesondere in der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, aber auch im Acht-Stunden-Tag stecken gewonnene und in Gesetze transformierte Klassenkämpfe. Diese anzugreifen, heißt die Grundfeste gewerkschaftlicher Errungenschaften anzugreifen.
Soziale Spaltung
Nicht zufällig kommen die Klassenangriffe in Begleitung einer Rhetorik der sozialen Spaltung.
Nicht nur der angedrohte Leistungsentzug für Bürgergeldempfänger, auch Maßnahmen zur Verschärfung der Migration lenken den Blick nicht auf die wahren Spaltungslinien, sondern erwecken den Eindruck, weniger Migranten in der Bundesrepublik trügen dazu bei, dass die Daseinsvorsorge weniger desolat, die Kommunen weniger handlungsunfähig und das Leben in der Bundesrepublik etwas mehr lebenswert wäre.
Um von der massiven Umverteilung in die militärischen Töpfe abzulenken, haben Union und SPD ein ganzes Bündel an Maßnahmen zur Begrenzung der Migration auf den Weg gebracht: Zurückweisung an der Grenze, Stopp der Aufnahmeprogramme, Begrenzung von Familiennachzug. Die künftigen Koalitionäre lassen nichts aus.
Dass der Koalitionsvertrag von der größten Menschenrechtsorganisation Amnesty International als „menschenrechtliches Armutszeugnis“ betrachtet wird,[6] ficht sie nicht an. Sie übertragen den Begriff der „Zeitenwende“ auf die innere Sicherheit. Und je stärker sie zur Finanzierung der Kriegsvorbereitungen den Sozialstaat abtragen werden, desto stärker wird vermutlich die Bedienung rassistischer Feindbilder herangezogen werden, um von der eigentlichen Spaltung der Gesellschaft in arm und reich abzulenken. Für diejenigen, die sich nicht ablenken lassen, wird der Überwachungsapparat aufgebläht und die Rechtsstaatlichkeit abgebaut. Die Einführung der Vorratsdatenspeicherung sowie der biometrische Abgleich von Bildern mit öffentlichen Fotos im Internet durch die Sicherheitsbehörden sind kein Zufall. Laut Amnesty International stellen sie tiefgreifende und unverhältnismäßige Eingriffe in die Grundrechte dar.
Die Reaktionen der Gewerkschaften
Dieser Entwicklung zum Trotz fällt die gewerkschaftliche Kritik am Koalitionsvertrag bislang verhalten aus. Die schwarz-rote Vereinbarung enthalte "kluge und vernünftige Pläne, um die Wirtschaft anzukurbeln und Arbeitsplätze zu sichern", lobte etwa DGB-Chefin Yasmin Fahimi den Koalitionsvertrag. Die Reaktionen von ver.di und der IG Metall fielen ähnlich aus, wenn auch weniger überschwänglich aus. Doch eine deutliche Kritik an der Aufrüstung als neuem Treiber für Sozialkürzungen vermisste man auch hier. Das hat Gründe: Die Mindestlohnerhöhung auf 15 Euro und das Tariftreuegesetz senden das Signal in die Gewerkschaften, dass der Koalitionsvertrag auch für sie positive Effekte bereithält. Hinsichtlich des Mindestlohns hatte Friedrich Merz kurz nach Veröffentlichung des Koalitionsvertrags deutlich gemacht, dass eine Erhöhung auf 15 Euro keinesfalls garantiert sei. Auch das Tariftreuegesetz gilt erst ab Vergaben ab 50.000 Euro. Und Kontrollen, durch die ein solches Gesetz überhaupt erst eine Wirkung entfalten könnte, sollen auf ein absolutes Mindestmaß begrenzt werden. In den Verhandlungen hatte Merz zudem erfolgreich die Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen, die Einschränkung von Mitgliedschaften im Arbeitgeberverband ohne Tarifbindung - sogenannte OT-Mitgliedschaften - sowie ein arbeitsrechtliches Verbandsklagerecht für Gewerkschaften abgewehrt.
Wenig verwunderlich also, dass auch das Tariftreuegesetz nicht die Stärkung der Tarifbindung in den Mittelpunkt stellt, sondern diese der Außen- und Sicherheitspolitik unterordnet.
So sind sämtliche Vergaben, die im Zusammenhang mit der Bundeswehr oder anderen Sicherheitskräften oder im Zusammenhang mit der Vorbereitung auf eine Krisensituation stehen, vom Vergabeverfahren ausgenommen.
In einer Zeit massiver Deindustrialisierungserfahrungen und angespannter öffentlicher Haushaltslagen hoffen die Gewerkschaften zudem auf neue Wachstumsimpulse durch das Infrastrukturpaket in Höhe von 500 Milliarden Euro über die nächsten zehn Jahre. Obwohl ein Investitionsoffensive in die öffentliche Infrastruktur seit vielen Jahren eine wichtige und richtige Forderung ist, könnte sich diese Hoffnung nun aber als Infrastrukturfalle erweisen. Denn in der „Zeitenwende“ wird auch die Investitionspolitik dem Primat der Außen- und Sicherheitspolitik untergeordnet. Zu befürchten ist, dass das Sondervermögen nur in geringem Ausmaß in kaputte Schuldächer oder die Entlastung des Pflegepersonals fließen wird, und deutlich häufiger in die Kriegsertüchtigung. Bereits im vergangenen Sommer hatte die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik ein Sondervermögen gefordert, um Brücken und Straßen kriegstüchtig zu machen.[7] In Köln soll eine unterirdische Intensivstation entstehen. Und die Spurweitenanpassung in Osteuropa an die hier gängige Spurweite erfordert ebenfalls milliardenschwere Investitionen. Nicht ohne Grund kündigte das Finanzministerium auf der Kommunikationsplattform X an, die Summe von 500 Milliarden Euro durch das Einwerben von privatem Kapital auf zwei bis drei Billionen Euro zu erweitern.
Regierung auf Kriegskurs
Unterm Strich dient der Koalitionsvertrag dem Ziel, das Land weiter kriegstüchtig zu machen. Die Lohnabhängigen haben dabei nichts zu gewinnen, sondern im Gegenteil, sie könnten alles verlieren. Der diesjährige Ostermarsch-Aufruf des DGB zeigt, wie sehr auch geopolitische Fragen in den Gewerkschaften diskutiert werden müssen, um handlungsfähig zu bleiben. Deutschland solle sich zu seiner friedens- und sicherheitspolitischen Verantwortung bekennen, und die Aufrüstung dürfe nicht zu Lasten der sozialen Sicherheit gehen, heißt es darin. Überschrieben ist er im übrigen mit "Frieden sichern, Verteidigungsfähigkeit erhöhen, Militarisierung stoppen!" Kein Wort zu den sozialen Zumutungen des Koalitionsvertrages. Kein Wort zu der Militarisierungsoffensive, mit der die "Zeitenwende" gegen eine Bevölkerung durchgesetzt wird, die seit 80 Jahren im Frieden lebt. Nicht einmal ein Fragezeichen hinter der Bedrohungslüge, Putin wolle Deutschland, Europa oder gar die NATO angreifen. Dabei zeigt doch gerade die mühsame Kriegsführung in der Ukraine, dass Putin entweder kein Interesse daran hat, die gesamte Ukraine einzunehmen oder dazu schlicht nicht in der Lage ist.
Der bloße Verweis auf die Erhöhung der Verteidigungsfähigkeit führt in die Irre, denn seit der Wahl Trumps zum US-amerikanischen Präsidenten und der Eskalation im Oval Office ist auch die Bundesregierung zu konkreten Kriegsvorbereitungen übergegangen: Die Herstellung der Kriegstüchtigkeit, die Rekrutierungsversuche 17-Jähriger, die Vorbereitung der Bevölkerung auf entbehrungsreiche Zeiten oder die Stationierung von Mittelstreckenraketen, schwer ortbar, mit 17-facher Schallgeschwindigkeit und ausgestattet mit dem Potential, die russische Raketenabwehr zu durchbrechen, haben jeweils nichts mit Verteidigungsfähigkeit zu tun. Auf einer gemeinsamen Tagung von Verfassungsschutz und Wirtschaftsallianz vor einigen Wochen, sagte der Generalinspekteur der Bundeswehr Carsten Breuer: "Abschreckung muss nicht immer reaktiv sein, sie hat auch aktive Komponenten". Und er fragte das Publikum aus Nachrichtendienstlern, Unternehmensvertretern und Wissenschaftlern: "Können Sie Krieg?"[8]
Multiple Krise
Inzwischen ist hinreichend analysiert, dass es im Ukraine-Krieg nicht in erster Linie um die Ukraine und Russland geht, sondern dass dahinter eine Vielfach-, Multi- oder Sechsdimensionalen-Krise des Kapitalismus mit verschiedenen Krisenbestandteilen steht.[9] Der Versuch, die Krise in einer Sphäre zu lösen, führt zwangsläufig zu einer Verschärfung der Krise in einer anderen Sphäre. So habe sich in Deutschland die ökonomische und die politische Krise mit Beginn des Ukraine-Krieges verschärft. Auf Druck der USA hatten die Sanktionen gegenüber Russland eine Gaswende in Europa erzwungen. Dabei wurde der europäische Energiemarkt von der russischen Gasversorgung abgeschnitten und für das doppelt so teure, ökologisch fragwürdige amerikanische Frackinggas geöffnet. Die Folge war ein gravierender Anstieg der Energie- und Nahrungsmittelpreise, unter der sowohl die energieintensive Industrie zu leiden hatte, als auch die breite Bevölkerung. Hinter dieser Entwicklung steht eine Politik der USA, die amerikanische Wirtschaft zu stärken und das chinesische Wirtschaftswachstum auszubremsen. Der Kampf um die Hegemonie zwischen den USA und China, aber auch der EU ist Ausdruck sich verändernder Weltbeziehungen - die hegemoniale Rolle der USA wird zunehmend in Frage gestellt und andere Akteure versuchen bei der Neuaufteilung der Welt eine gewichtigere Rolle zu spielen.[10]
Es ist also nicht ganz zufällig, dass führende Regierungsmitglieder schon seit längerem von einer neuen deutschen Führungsrolle sprechen. Auch Deutschland will eine wichtige Rolle bei dieser Neuaufteilung spielen. So begründete Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Rede an der Prager Karls-Universität im August 2022 die deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine nicht etwa damit, dass Deutschland der Ukraine helfen wolle, sich gegen den Aggressor zu wehren. Vielmehr wies er darauf hin, dass die USA sich auf den Konflikt mit China konzentrieren müssten und Europa daher als eigenständiger politischer Akteur auftreten und Deutschland dabei eine Führungsrolle einnehmen müsse. Und der Vorsitzende der SPD, Lars Klingbeil, sagte in einer Grundsatzrede bei der Friedrich-Ebert-Stiftung sogar, dass Deutschland nach 80 Jahren der Zurückhaltung wieder zu neuer Führungsstärke gelangen müsse.
Die Forderung von Boris Pistorius, dass Deutschland wieder kriegstüchtig werden müsse, war also kein rhetorischer Fauxpas, sondern ist die Konsequenz einer Politik, die darauf abzielt, Deutschland in den aktuellen geopolitischen Konflikten als eigenständigen Akteur zu positionieren.
Hinter Militarisierung und Aufrüstung steht also der Versuch, den Verlust an ökonomischer Stärke durch militärische Stärke zu kompensieren. Dabei werden die Angst vor Deindustrialisierung und dem ökonomischen Abstieg zum Treiber für Militarisierung und Aufrüstung.[11]
Politisches Mandat der Gewerkschaften
"Wer für den Frieden ist, muss gegen den Krieg kämpfen", hat der ehemalige Bezirksleiter der IG Metall Baden-Württemberg, Willi Bleicher, einmal gesagt. Bei genauerer Betrachtung der Eskalationsgefahr und der dahinter stehenden ökonomischen und militaristischen Triebkräfte wird deutlich, dass Frieden kein "Orchideenthema" (mehr) ist. Frieden und Entspannungspolitik sind vielmehr die Voraussetzung dafür, dass das gewerkschaftliche Streiten für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen stattfinden und erfolgreich sein kann.
Die Gewerkschaften sind also gut beraten, ihr gesellschaftspolitisches Mandat nicht an eine Partei abzugeben und schon gar nicht an eine Partei, deren Aufgabe es ist, die Gewerkschaften in den Kriegskurs einzubinden. Sie müssen vielmehr ihr gesellschaftspolitisches Mandat eigenständig wahrnehmen und zwar in der inhaltlichen Breite, wie sich die Krise vor ihnen auffächert. Das heißt, dass sich gewerkschaftliche Themen nicht allein auf Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik beschränken dürfen, sondern auch Fragen von Krieg und Frieden umfassen müssen. Die multiple, vielfältige Krisensituation und die zunehmenden geopolitischen Konflikte erfordern es, dass wir die gesellschaftlichen Entwicklungen in ihrer Gesamtheit betrachten, dass wir die Zusammenhänge sehen und das politische Mandat als ein inhaltlich allumfassendes Mandat definieren.
[1] Welt-Liveticker, 18.04.2025, 6.01 Uhr, https://www.welt.de/politik/deutschland/article255966494/Regierungsbildung-Gruenen-Chef-zum-Umgang-mit-der-AfD-Wir-stehen-wie-das-Kaninchen-vor-der-Schlange-Liveticker.html
[2] Fuest, Clemens: "Die niedrige Gastro-Steuer nutzt vor allem Menschen mit höherem Einkommen", Handelsblatt, 10.04.2025.
[3] „Wirtschaft lobt und mahnt zu Tempo“, tagesschau, 09.04.2025. https://www.tagesschau.de/wirtschaft/koalitionsvertrag-reaktion-wirtschaft-100.html
[4] „Das sagen Ökonomen zum Sondierungspapier“, Tagesspiegel, 09.03.2025. https://www.tagesspiegel.de/politik/das-sagen-okonomen-zum-sondierungspapier-unsinnige-subventionen-und-klientelpolitik-13337368.html
[5] „Gesamtmetall legt Gesetzentwurf zu Schlichtungen im Arbeitskampf vor“, https://www.gesamtmetall.de/gesamtmetall-legt-gesetzentwurf-zu-schlichtungen-im-arbeitskampf-vor/
[6] „Deutschland: Koalitionsvertrag bricht mit zahlreichen Menachenrechten“, 09.04.2025, https://www.amnesty.de/pressemitteilung/deutschland-koalitionsvertrag-cdu-csu-spd-menschenrechte
[7] „Militärische Mobilität. Wie Deutschland seine Verkehrsinfrastruktur für die Zukunft rüstet“, Deutsche Gesellschaft für auswärtige Politik, Policy Brief, Nr. 12, Juli 2024, https://dgap.org/system/files/article_pdfs/DGAP%20Policy%20Brief_Nr-12_Juli-2024_9S_0.pdf
[8] "Bundeswehr-General Breuer: Russland könnte ab 2029 Nato angreifen - 'Wir müssen gewinnen'", Berliner Zeitung, 25.03.2025.
[9] Vgl.: Solty, Ingar: "Die Sechsdimensionen-Krise", in: Eifler, Ulrike (Hrsg): "Den Frieden gewinnen, nicht den Krieg", Westfälisches Dampfboot, Münster 2024.
[10] Vgl.: Mertens, Peter: Meuterei. Wie unsere Weltherrschaft ins Wanken gerät, Brumaire, Oktober 2024.
[11] Vgl.: Brie, Michael/ Crome, Eberhard/ Deppe, Frank: „Friedenspolitik für die Welt des 21. Jahrhunderts“, Ein Diskussionspapier der Initiative Nein zu Kriegen, August 2024, https://nie-wieder-krieg.org/wp-content/uploads/2024/08/Friedenspolitik-im-21-Jhdt.pdf
Artikel wurde am 18. Juni 2025 gedruckt. Die aktuelle Version gibt es unter https://betriebundgewerkschaft.de/gewerkschaft/2025/05/nach-der-wahl-die-gewerkschaften-durfen-sich-nicht-einbinden-lassen/.