Von Christian Christen
Europas Wirtschaft befindet sich offiziell in der schwersten Wirtschaftskrise seit den 1930er Jahren. Wovor einige Beobachter früh warnten, ist mittlerweile Allgemeingut und spiegelt sich in wichtigen Kennzahlen: Die Konjunktur ist eingebrochen, die Arbeitslosigkeit steigt, die Kurzarbeit bleibt hoch (in Deutschland im Juni ca. 7 Millionen Personen), die Zahl der offenen Stellen sinkt und generell bleibt trotz Lockerungen die Aussicht für die Nachfrage nach Produkten und Dienstleistungen trübe.
Ein Minus von bis zu 90 Prozent ist keine Seltenheit in der deutschen wie europäischen Automobil- und Touristikbranche (Flugverkehr, Kreuzfahrten) bei Großveranstaltungen und Messen, der Hotellerie (Übernachtungen) und bei Restaurants bis hin zur Kunst- und Kulturszene und dem stationären Einzelhandel jenseits von Lebensmitteln und Drogeriebedarf.
Die Erzählung von einer V-förmigen Konjunkturentwicklung (harter Einbruch, schnelle Erholung) war schon zu Beginn nur das übliche „Pfeifen im Wald“, diente der Beruhigung oder dokumentierte ein mangelhaftes Verständnis über die Funktion einer international eng getakteten und verflochtenen Wirtschaft. Natürlich gab und gibt es Gewinner, wie in jeder Krise. Die alte Weisheit „Wenn das Blut in den Straßen steht, lassen sich exorbitante Gewinne machen“ gilt auch heute. Beispielsweise stieg der Onlinehandel – vor allem der bekannten Platzhirsche – rasant. Die sprunghafte Vernetzung und die Videokonferenzen bescherten den Anbietern millionenfachen Zulauf und die Nachfrage nach Soft- wie Hardware erlebt einen Höhenflug. Die Schattenseite des Corona-Booms ist die weitere Konzentration der Einkommen und Vermögen am oberen Ende und die Arbeits- und Lebenssituation wurden noch deutlicher: Während die gut situierte Mittel- und Oberschicht schnell ins Homeoffice wechselte, war ein großer Teil der Beschäftigten selbst im Lockdown überall so „systemrelevant“, dass sie weiterarbeiten „durften“. Nicht nur im Gesundheits- und Pflegesektor zu den bekannten schlechten Bedingungen, sondern gleichfalls in der Lebensmittelindustrie, der Logistik und Transportbranche, dem Einzelhandel und den unzähligen Lieferdiensten.
Die Dienstleistungsgesellschaft ist eben oft nicht viel mehr als eine Dienstbotengesellschaft. Statt anständig hoher Bezahlung und guter sozialer Absicherung reicht es im Zweifel nur für Applaus und ein kostenloses Dankeschön. Es wundert also nicht, dass sich am seit Jahrzehnten bestimmenden Trend der Umverteilung von unten nach oben durch die Pandemie nichts änderte. Warum auch? Vermögende und hohe Einkommensbezieher sind bislang die klaren Gewinner, auch und vor allem durch die über die öffentliche Hand ausgereichten Finanzmittel zur Stabilisierung der Einkommen und Konjunktur. Dagegen müssen weite Teile der Beschäftigten den Gürtel enger schnallen und sind einer noch ungewisseren Zukunft ausgesetzt. Auch hier zeigt die Pandemie in der Draufsicht natürlich ihre starken Unterschiede: Volkswirtschaften, die ohnehin schwere Probleme hatten (u.a. in Folge der Krise 2007, De-Industrialisierung oder aufgrund massiver Dominanz der deutschen Exportwirtschaft und den Verdrängungswettbewerb) werden ungleich schwerer getroffen.
Welche neuen Brüche auftreten, welche Unterschiede sich vertiefen und wie sie krisenverschärfend wirken, ist aber noch nicht ausgemacht. Es zeigt sich nur eins: Die Globalisierung steht still. Nicht vollends, aber in industriellen Kernbereichen ist die Dynamik von Produktion und globaler Verteilung der zurückliegenden Jahrzehnte ausgesetzt und sortiert sich neu. Ebenfalls ein Trend vor Ausbruch der Pandemie, der mehr an Fahrt gewinnt. Die deutsche „Wirtschaft“ und deren Politik trifft dies besonders, da die durch flächendeckendes Lohndumping und einen schlanken Staat auf Export getrimmten Leitbranchen (Automobil, Maschinen- und Anlagebau, Chemie) nicht allein durch die technologischen wie ökologischen Notwendigkeiten einer Transformation in die Zange genommen werden. Gleichzeitig stößt in kurzer Zeit pandemiebedingt das „Geschäftsmodell D“ mit seiner Exportfixierung an harte Grenzen. Binnenwirtschaftlich kann dies nicht einfach kompensiert werden, da parallel nach Art prekärer „Flip-Flop Ökonomien“ wie in Entwicklungsländern agiert worden ist: Alles darf möglichst nichts kosten, die Infrastruktur wird bis heute auf Verschleiß gefahren und die hohen Vermögen, Einkommen und über Jahre erzielten gestiegenen Unternehmensgewinne nicht hinreichend produktiv und innovativ genutzt.
Die Corona-Pandemie wirkt letztlich ökonomisch wie eine Neutronenbombe: Fabriken, Geschäfte und die materielle Infrastruktur sind unbeschädigt, aber nun zeigen sich wie im Brennglas in sehr kurzer Zeit die Probleme des so konstruierten „normalen“ Wirtschaftskreislaufs und des darum angesiedelten sozialen Lebens. Die einfache Rückkehr zum Zustand vor der Pandemie wird es deshalb auch bei uns kaum geben, denn letztlich sind alle maßgeblichen Volkswirtschaften einem so schweren Schock mit ganz eigener Dynamik ausgesetzt. Es herrscht ein hohes Maß an fundamentaler Unsicherheit, was Gift ist für jede positive ökonomische Entwicklung die immer auch Planbarkeit, Übersichtlichkeit und Stabilität braucht. In dieser Hinsicht ist es nicht endgültig klar, wer als Subjekt, als Branche oder Unternehmen oder gar als Volkswirtschaft am Ende zu den Gewinnern und wer zu den Verlierern der Pandemie gehören wird, zumal dessen „Ende“ noch nicht ausgemacht ist. Nur eins ist ziemlich gewiss: Von alleine oder automatisch wird sich auch durch diese Krise gar nichts zum Besseren wenden – weder sozial noch ökologisch.
Christian Christen ist Referent für Wirtschaftspolitik in der Bundestagsfraktion DIE LINKE