von Thomas Goes
Wieso brauchen wir Gewerkschaften? Zum einen natürlich, weil unsere Lohn-, Arbeits- und Lebensbedingungen ohne Gewerkschaften weitaus schlechter wären. Sozialer Fortschritt entsteht nicht von selbst, er muss (auch) im Betrieb durchgesetzt werden. Aber das ist nicht der einzige Grund. Der zweite ist strategischer Natur: Denn ohne, dass sich Millionen von Menschen ganz unmittelbar für ihre eigenen Interessen einsetzen, Konflikte mit Unternehmen und Staat als ihren Arbeitgebern ausfechten und dabei anfangen sich als bewusster Teil einer gesellschaftlichen Gruppe mit gemeinsamen Interessen zu begreifen, wird es wohl kaum ein sozialistisches Projekt geben, das sich in der buntscheckigen Arbeiterinnenklasse verankern, durchsetzungsfähig und hegemonial werden kann. Für eine verbindende LINKE, die am Aufbau einer neuen Klassenbewegung mitwirken will, die verschiedene Teilen der Klasse – vom Zeitarbeiter beim Automobilzulieferer über die Krankenschwester im privatisierten Krankenhaus bis zur qualifizierten Facharbeiterin im Maschinenbau – einen kann, sollte die Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit daher ganz oben auf der Agenda stehen.
Von Stolpersteinen und Hoffnungsschimmern
Wenn die Gewerkschaften die Schulen des Klassenkampfes sind, wie es der sozialistische Volksmund weiß, dann steht es um den Unterricht nicht gut. Seit spätestens Anfang der 1990er Jahre befinden sich die DGB-Gewerkschaften in der Defensive: Prekäre Beschäftigung hat seit Anfang der 2000er Jahre rasant an Bedeutung gewonnen und die Mitgliederzahlen der DGB-Gewerkschaften sind deutlich zurückgegangen, während immer mehr Berichte über gewerkschafts- und mitbestimmungsfeindliches Handeln die Öffentlichkeit erreichen. Zwei besonders wichtige Reaktionen in den Gewerkschaften: Rat- und Hoffnungslosigkeit auf der einen, ein noch stärkeres Setzen auf Co-Management, Sozialpartnerschaften und arbeitsplatzerhaltende Kapital-Arbeit-Bündnisse auf der anderen Seite. Beide stehen einer Erneuerung der Gewerkschaften ebenso im Weg, wie der Herausbildung einer lebendigen Bewegung der arbeitenden Klasse.
Glücklicherweise hat die deutsche Gewerkschaftsbewegung auch andere Gesichter. Zum Beispiel die Beschäftigten an den deutschen Standorten des Konzerngiganten Amazon, die sich seit Jahren organisieren, um einen Tarifvertrag durchzusetzen. Aktive arbeiten dabei mit langem Atem, wohl wissend, dass der Konzern sich jeden Millimeter Fortschritt hart abkämpfen lässt. Oder: In einem ostdeutschen Automobilzulieferer bringt eine Kollegin die Idee vor, endlich einen Betriebsrat zu gründen. Sie weiß, dass eine solche Initiative vor wenigen Jahren zum Eklat führte, u.a. aufgrund von anti-gewerkschaftlicher Mobilisierung aus der Belegschaft, im Rahmen derer die zuständige Gewerkschaftssekretärin als „rote Fotze“ beschimpft wurde. Die Arbeiterin sucht sich Vertraute, baut eine Gruppe auf, mit der sie die nächsten Schritte geht. Sie erringen nicht nur einen besseren Haustarifvertrag – in der Belegschaft entsteht auch das Bewusstsein, dass die eigenen Interessen gegen die Geschäftsleitung nur durch konfliktbereite Selbstermächtigung gemeinsam mit Kolleginnen durchgesetzt werden können.
Was tun?
Als LINKE sollten wir möglichst Teil dieser betrieblichen und gewerkschaftlichen Lernbewegungen sein – und/oder vor Ort uns dazu befähigen sie zu unterstützen. Dazu gehört auch darüber nachzudenken, ob man selbst als “Organizer” aktiv werden kann. Würden heute 5-10 Menschen im Logistiksektor beginnen, sich in ihren Betrieben mit ihren Kolleginnen gemeinsam zu organisieren und sich zu vernetzen, wären kampagnenfähige Strukturen in fünf Jahren eine greifbare Möglichkeit. Damit wäre die Grundlage für Kampagnen für bessere Lohn- und Arbeitsbedingungen geschaffen, die weit in die Gesellschaft ausstrahlen könnten.
Wo wir Teil betrieblicher Organisierungen und gewerkschaftlicher Kampagnen sind, sollten wir unsere eigene politische Arbeit darauf ausrichten, Selbsttätigkeit und Selbstorganisation zu stärken; in der betrieblichen und überbetrieblichen Gewerkschaftsarbeit Gegenmacht aufzubauen, nicht zu binden; Interessenwidersprüche nicht zu verwischen, sondern über sie aufzuklären und zuzuspitzen; aktiv daran mitzuwirken, eine umfassende Arbeiterinnensolidarität zu schaffen, die nicht am eigenen Betrieb, in der eigenen Branche und im Nationalstaat Halt macht; konkrete Forderungen zu stärken, aber mit einer antikapitalistischen Stoßrichtung zu verbinden – nicht als Propagandaformel („nur der Sozialismus ist unsere Rettung“), sondern als konsequentes Verfolgen und Weitertreiben von Interessen und Forderungen, die in den wirklichen Auseinandersetzungen entstehen.
Thomas E. Goes ist Sozialwissenschaftler am SOFI Göttingen und Autor mehrerer Bücher, u.a. „Klassen im Kampf“ oder „Ein unanständiges Angebot – mit linkem Populismus gegen Eliten und Rechte“