Gutachten zur Stärkung der Tarifbindung

15. November 2022  AUS DEM BUNDESTAG, TARIFRUNDEN

Arbeitgeberverbände erlauben ihren Unternehmen eine Mitgliedschaft ohne die Verpflichtung, sich an vereinbarte Tarifverträge zu halten (kurz: OT-Mitgliedschaften). Das hat die Machtverhältnisse zwischen den Tarifparteien verzerrt. In einem von der Fraktion DIE LINKE im Bundestag in Auftrag gegebenen Gutachten kommt der Arbeitsrechtler Prof. Dr. Wolfgang Däubler zu dem Schluss, es wäre für eine Stärkung der Tarifbindung förderlich, in Arbeitgeberverbänden die »Mitgliedschaften ohne Tarifvertrag« auszuschließen. Etwaige rechtliche Bedenken zur gesetzlichen Einschränkung von OT-Mitgliedschaften macht er in seinem Gutachten nicht geltend. Susanne Ferschl und Pascal Meiser haben sich das näher angeschaut.

Die Ergebnisse des Gutachtens im Einzelnen

  • Rechtlichen Ausschluss von OT-Mitgliedern klarstellen! Angesichts der ständigen Rechtsprechung des BAG, die die OT-Mitgliedschaften auf Grundlage der aktuellen Gesetzeslage anerkennt, bedarf es einer klarstellenden gesetzlichen Regelung in Bezug auf die Tarifgebundenheit nach dem Tarifvertragsgesetz. Dazu ist § 3 Abs. 1 TVG in der Weise zu ergänzen, dass er in Zukunft bestimmt: „Tarifgebunden sind alle Mitglieder der Tarifvertragsparteien und der Arbeitgeber, der selbst Partei des Tarifvertrages ist.“
  • Tariffähigkeit von Arbeitgeberverbänden sicherstellen! Es ist eine Regelung zu treffen, die sicherstellt, dass jeder Arbeitgeberverband auch Tarifverträge abschließen kann, so dass ein Verzicht auf die Tariffähigkeit ausscheidet und Tarifverhandlungen nicht im Vorfeld verunmöglicht werden. Dafür soll in Abs. 1a in § 2 TVG eingefügt werden: „Ein Zusammenschluss von Arbeitgebern, der sich die Wahrnehmung von Arbeitgeberinteressen gegenüber den Arbeitnehmern und ihren Vertretern zur Aufgabe macht, gilt automatisch als tariffähig. Ein Verzicht auf die Tariffähigkeit ist ausgeschlossen.“
  • Transparenz als wichtige Funktionsvoraussetzung der Tarifautonomie! Der Arbeitgeberverband soll verpflichtet werden, der tarifzuständigen Gewerkschaft mitzuteilen, welche Unternehmen bei ihm Mitglied sind. Für die Konzipierung von Forderungen und die Einschätzung von Durchsetzungsmöglichkeiten ist es für die Gewerkschaft von elementarer Bedeutung, den möglichen Anwendungsbereich eines künftigen Verbandstarifs zu kennen. Deshalb soll in § 2 TVG als Abs. 1b folgende Einfügung vorgenommen werden: „Der Arbeitgeberverband ist verpflichtet, jeder in seinem Tätigkeitsbereich tarifzuständigen Gewerkschaft auf Verlangen Auskunft über seinen Mitgliederbestand einschließlich der sogenannten Gastmitgliedschaften zu geben. Nach der Erteilung einer solchen Auskunft sind Veränderungen unverzüglich mitzuteilen, ohne dass es einer besonderen Aufforderung bedarf.“

Dazu erklärt Susanne Ferschl, Vize-Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE im Bundestag:

„Die Ursachen für schlechte Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt und den großen Niedriglohnbereich sind komplex, ein wichtiger Aspekt ist die sinkende Tarifbindung. Arbeitgeberverbände, die Unternehmen eine Mitgliedschaft erlauben ohne die Verpflichtung sich an vereinbarte Tarifverträge zu halten, haben die Machtverhältnisse zwischen den Tarifparteien verzerrt und zur Erosion der Sozialpartnerschaft beigetragen. Immer mehr Unternehmen machen davon Gebrauch. DIE LINKE will diese sogenannten OT-Mitgliedschaften gesetzlich verbieten und im Tarifvertragsgesetz klarstellen, dass Mitglieder eines Arbeitgeberverbandes immer auch von der Tarifbindung erfasst sind. Als Zwischenlösung müssen zumindest Blitzaustritte während laufender Tarifverhandlung untersagt werden. Die rechtliche Zulässigkeit wird in diesem Gutachten bestätigt.“

Der gewerkschaftspolitische Sprecher der Fraktion, Pascal Meiser, ergänzt:

„Unternehmen entziehen sich durch Tarifflucht ihrer sozialen Verantwortung und verschaffen sich so schmutzige Wettbewerbsvorteile gegenüber denjenigen Konkurrenten, die nach Tarif zahlen. Das ist eine gefährliche Entwicklung, die den sozialen Frieden in unserem Land ernsthaft gefährdet. Die Bundesregierung darf dieser Entwicklung nicht länger tatenlos zusehen. Die Stärkung der Gewerkschaften und die Erhöhung der Tarifbindung sind daher von zentraler Bedeutung. Die Bundesregierung muss jetzt endlich ein umfassendes Maßnahmenpaket zur Stärkung der Tarifbindung vorlegen. Ein wichtiger Baustein muss dabei das Verbot von OT-Mitgliedschaften sein.”

 

Relevanz

Tarifverträge regeln deutlich mehr als Lohn und Gehalt: Sie bieten den Beschäftigten etwa bei Urlaub und Arbeitszeit deutlich bessere als die gesetzlichen Regelungen und können auch bei Altersversorgung, Zahlung von Zulagen und Zuschlägen, bei der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall oder bei den Details zur Einführung von Kurzarbeit wichtige Verbesserungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer festschreiben. Tarifverträge sorgen also für gute Arbeitsbedingungen und Sicherheit.

Aber: Die Tarifbindung, also der Anteil der Beschäftigten, für die die Regelungen eines Tarifvertrags gelten, geht seit Jahren drastisch zurück (siehe Abbildung 1 vom IAB).

Ein wesentlicher Grund für die sinkende Tarifbindung ist, dass viele Arbeitgeber ihrer Verantwortung nicht mehr nachkommen, mit den Gewerkschaften ordentliche Tarifverträge auszuhandeln. Es kommt auch zu einer Verschiebung der Machtverhältnisse zwischen den Tarifpartnern: Arbeitgeber versuchen beispielsweise in Tarifverhandlungen die Gewerkschaften zu Zugeständnissen zu bewegen, indem sie mit dem Übertritt vieler Unternehmen in eine OT-Mitgliedschaft drohen.

Als Reaktion auf diese Entwicklung ist die Bundesregierung in der Verantwortung die Lücken zu füllen, die die erodierende Tarifautonomie in einzelnen Branchen hinterlassen hat. Zugleich sind die Mitgliedsstaaten mit einer Tarifabdeckung von weniger als 80 Prozent nach Artikel 4 der Richtlinie über angemessene Mindestlöhne in Europa (Mindestlohnrichtlinie) dazu verpflichtet, in Zusammenarbeit mit Arbeitgebern und Gewerkschaften jeweils einen nationalen Aktionsplan aufzustellen, um die Tarifabdeckung kontinuierlich zu steigern. Deshalb hat die Fraktion DIE LINKE. im Bundestag ein Gutachten bei Prof. Dr. Wolfgang Däubler in Auftrag gegeben, um rechtlich zu klären, ob und welche Möglichkeiten bestehen, die OT-Praxis der Unternehmen und damit die Flucht aus der Tarifbindung zu beenden.

Beispiel: OT-Mitgliedschaften in der Metall- und Elektroindustrie

Seit 2005 besteht bei Arbeitgeberverbänden der Metall- und Elektroindustrie die Möglichkeit zur OT-Mitgliedschaft. Bereits seit 2016 sind mehr Firmen ohne einen Tarifvertrag (3.585) als mit einem Tarifvertrag (3.525) im Verband organisiert. Der Trend ist steigend, Ende 2021 waren es 3.239 Firmen mit und 3.864 ohne einen Tarifvertrag (siehe Zahlenheft 2022 von Gesamtmetall, Seiten 8 und 9).

Am 30. September 2022 startete die zweite Verhandlungsrunde in der Metall- und Elektroindustrie. Den Anfang machte der IG-Metall-Bezirk Nordrhein-Westfalen. Weiter ging es dann in den Bezirken Küste, Sachsen-Anhalt und Thüringen, sowie Bayern, Berlin und Brandenburg. Aber auch die zweite Runde endete bisher jeweils ohne Arbeitgeberangebot. Noch bis zum 17. Oktober läuft die zweite Runde in den ausstehenden Bezirken. Ab 28. Oktober geht es dann in die dritte Verhandlungsrunde – ab dem 29. Oktober kommt es zu Warnstreiks (siehe hierzu: An die Streikenden der Metall- und Elektroindustrie).

Ausschnitte und Argumente des Gutachtens

Grundsätzlich wird in § 3 Abs. 1 TVG umschrieben, wer an einen abgeschlossenen Tarifvertrag gebunden ist. Die Wirkungen des Tarifs beschränken sich auf die Mitglieder der tarifschließenden Parteien, während in anderen Ländern häufig bereits die Mitgliedschaft des Arbeitgebers in seinem Verband genügt, um den Tarifvertrag für alle Betriebsangehörigen verbindlich zu machen.

Die Rechtsprechung des BAG und der sie unterstützende Teil des Schrifttums argumentiert jedoch, dass § 3 Abs. 1 TVG nicht bestimme, wer im Einzelnen als „Mitglied“ zu betrachten sei. Es sei deshalb geboten, solche Unternehmen auszunehmen, die darauf verzichten, im Bereich „Tarifpolitik“ aktiv zu werden und über das Verhalten des Verbandes mitzubestimmen. Insoweit müsse § 3 Abs. 1 von seinem Zweck her eine restriktive Auslegung erfahren; OT-Mitglieder seien deshalb nicht erfasst.

Nach herrschender Rechtsprechung dürfen OT-Mitglieder nicht an tarifpolitischen Entscheidungen beteiligt werden. In der Praxis ist jedoch zweifelhaft, in wie fern dies tatsächlich ausgeschlossen werden kann. Beispielsweise fließen ein Teil der Beiträge von OT-Mitgliedern in den Arbeitskampffonds, des jeweiligen Arbeitgeberverbandes, und es ist davon auszugehen, dass auf die Interessen von wichtigen OT-Mitgliedern Rücksicht genommen wird. Dies führt auch dazu, dass bei tarifpolitischen Fragen Rücksicht genommen wird. Der Ausschluss von OT-Mitgliedern von Entscheidungsbefugnissen reicht unter diesen Umständen nicht aus, um eine Funktionsstörung der Tarifautonomie auszuschließen. Es wäre daher konsequent, auch aus diesem Grund die OT-Mitgliedschaft auszuschließen.

Der OT-Mitgliedschaft wird weiter entgegengehalten, dass Anwendungsbereich und Tragweite des Tarifvertrags nicht mehr einzuschätzen seien. Für die Gewerkschaft ist nicht erkennbar, welche Unternehmen im Ergebnis tatsächlich tarifgebunden sind und bei welchen der Tarifvertrag ins Leere geht. Ein allgemeiner Anspruch der Gewerkschaft gegen den Arbeitgeberverband auf Offenlegung seines Mitgliederbestandes ist bisher nicht anerkannt. Dazu kommt zum zweiten, dass ein Statuswechsel von einem Tag auf den andern möglich ist – selbst wenn die Satzung Fristen vorsieht, bleibt immer noch die Möglichkeit, im Einvernehmen einen „Blitzwechsel“ zu bewirken.

Lediglich während laufenden Tarifverhandlungen besteht, durch Rechtsprechung, die Obliegenheit, einen Statuswechsel von der Tarif- in die OT-Mitgliedschaft nicht geheim zu halten. Die Gewerkschaft muss in diesem Fall bereits jetzt in die Lage versetzt werden, adäquat auf das Ausscheiden eines Unternehmens aus dem Geltungsbereich des Tarifvertrags reagieren zu können.

Zum Hintergrund der OT-Mitgliedschaften

Geht man in die Zeit vor 1990 zurück, so wird man vergeblich nach dem Stichwort „OT-Mitgliedschaft“ suchen. Wer Mitglied im Arbeitgeberverband war, wurde automatisch auch von den Tarifverträgen erfasst, die der Verband mit Gewerkschaften abschloss – vorausgesetzt, das Unternehmen fiel in den betrieblich-fachlichen und den örtlichen Geltungsbereich.

Im Laufe der 1990er Jahre entwickelte sich in der Praxis von Arbeitgeberverbänden die Figur einer OT-Mitgliedschaft. Mehrheitlich wird seitdem das sogenannte Stufenmodell angewandt, dieses belässt es bei einer einheitlichen Verbandsorganisation. Diese kennt jedoch zwei Arten von Mitgliedschaften: Mitglieder, die eine Tarifbindung akzeptieren (auch T-Mitglieder genannt), und solche, die dies als „OT-Mitglieder“ nicht tun. Daneben kann es „Gastmitglieder“ geben, die über keinerlei Mitgliedschaftsrechte verfügen und die deshalb von vorne herein nicht von Verbandstarifen erfasst werden. Es gibt also „gestufte“ Mitgliedschaften.

Zum Hintergrund der Metall- und Elektroindustrie

Der Gesamtverband der Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektro-Industrie e. V. (kurz: Gesamtmetall), ist der Zusammenschluss der Landesarbeitgeberverbände der deutschen Metall- und Elektroindustrie (M+E). Der Dachverband vertritt die gemeinsamen und übergreifenden Interessen der M+E-Unternehmen auf Bundesebene. Gesamtmetall ist Mitglied bei der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) in Berlin. Die Aufgaben eines Arbeitgeberverbandes liegen vor allem auf den Feldern der Tarif-, Sozial- und Bildungspolitik. Als Dachverband schließt Gesamtmetall gewöhnlich selbst keine Tarifverträge mit den Gewerkschaften ab. Diese Aufgabe haben Kraft ihrer Tarifhoheit die sechzehn regionalen Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektro-Industrie, die sich dafür zum Teil zu Verhandlungsgemeinschaften zusammengeschlossen haben. Bei den regionalen Arbeitgeberverbänden sind die Mitgliedsunternehmen organisiert.

Das vollständige Gutachten findet ihr hier:

Gutachten von Wolfgang Daeubler zur OT-Mitgliedschaft

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