In den Gewerkschaften die Debatte zu Krieg und Frieden führen

Von Ulrike Eifler, Thomas Händel und Robert Weißenbrunner  

Seit über einem Jahr tobt der Krieg in der Ukraine. Und obwohl er gravierende Auswirkungen auf die abhängig Beschäftigten hat, spielt er in der gewerkschaftlichen Diskussion allenfalls eine marginale Rolle. Doch die globale Krisensituation ist zu tief und die Zerstörung des Planeten zu sehr in greifbarer Nähe, als dass sich die Gewerkschaftsbewegung auf ein stillschweigendes Tolerieren zurückziehen darf. In einem Beitrag für die Juni-Ausgabe des Sozialismus argumentieren Ulrike Eifler, Thomas Händel und Robert Weißenbrunner, warum die Gewerkschaften sich in die politische Debatte einmischen müssen und verweisen auf die Friedenskonferenz am 23./24. Juni im Gewerkschaftshaus in Hanau.

Seit über einem Jahr tobt der Krieg in der Ukraine. Und obwohl er gravierende Auswirkungen auf die abhängig Beschäftigten hat, spielt er in der gewerkschaftlichen Diskussion allenfalls eine marginale Rolle. Dabei zeigt gerade der Blick in unsere Geschichte: Kriege drängen Gewerkschaften in Widerspruchskonstellationen. Um dennoch handlungsfähig zu bleiben, braucht es einen klaren Blick und ein Bewusstsein für die eigene Rolle. Die globale Krisensituation ist zu tief, die atomare Eskalationsgefahr zu groß, die Zerstörung des Planeten zu sehr in greifbarer Nähe, als dass sich die Gewerkschaftsbewegung auf einen Burgfrieden verpflichten lassen darf, wie sie es in der Vergangenheit mitunter getan hatte.

Mit der Konzertierten Aktion, aber auch mit der Debatte um die Einschränkung des Streikrechtes zeigen die Arbeitgeberverbände ein ausgeprägtes Interesse an einer gewerkschaftlichen Stillhaltepolitik. Dies steht in deutlichem Widerspruch zum wachsenden Erwartungsdruck in der Klasse der Lohnabhängigen hinsichtlich einer Einkommenssicherung. Gewerkschaftlich aufgelöst werden kann dieser Widerspruch nur durch eine offensive Wahrnehmung des politischen Mandats. Die Voraussetzung dafür sind allerdings ein Verständnis von der aktuellen Krisendynamik und die selbstbewusste Einreihung in die Friedensbewegung.

Multiple Krisensituation

Die Friedensbewegung ist geschwächt. Sie ist einerseits einem enormen Druck – dem bellizistischen Kurs der Bundesregierung ebenso wie der damit verbundenen medialen Berichterstattung – ausgesetzt. Andererseits ist sie in zentralen Fragen wie die Einordnung des Krieges und selbst dessen materialistische Hintergründe, die Rolle Russlands oder dem Für und Wider von Waffenlieferungen uneinig. Solange dies so bleibt, wird sie keinerlei Handlungsfähigkeit entwickeln können. Wir meinen: In diese Situation kommt es in besonderer Weise auf die Gewerkschaften an. Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter sind natürliche Experten für Bündnisfähigkeit. Der betriebliche Alltag, der die Beschäftigten in Konkurrenz zueinander setzt, zwingt sie zugleich zu Kooperation. Gewerkschaftliches Handeln erfordert das Ringen um Klarheit und Einigkeit in den zentralen Konflikten einerseits und Gelassenheit und Toleranz in den weniger zentralen Konflikten andererseits. Die Erfahrung, dass Betriebsräte oder Vertrauenskörper handlungsunfähig bleiben, solange sie nicht gemeinsam und mit klarem Gegnerbezug agieren, könnte für die Friedensbewegung konsolidierend sein.

Eine Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die Einordnung des Ukraine-Krieges über den bloßen Verweis auf seine Vorgeschichte hinsichtlich der völkerrechtswidrigen Krim-Annexion auf der einen Seite und der verfehlten Politik der NATO-Osterweiterung auf der anderen Seite hinauskommt. So wichtig der Verweis auf diese Vorgeschichte für das Verständnis des russischen Angriffskrieges ist, reicht er doch nicht, um die geostrategischen Interessen in der sich abzeichnenden neuen Blockkonfrontation zu verstehen. Denn dahinter steht das Ringen der USA um den Erhalt ihrer geopolitischen Hegemonie ebenso wie der Versuch Russlands, aus der geopolitischen Defensive herauszutreten. Treiber für diese Entwicklung ist die multiple Krise des Kapitalismus, der sich zu einem neuen Krisen-, Katastrophen- und Kriegskapitalismus entwickelt hat und für die einzelnen Kapitalfraktionen fundamentale Weichenstellungen erforderlich macht. Dabei verschränkt sich das Projekt, den Kapitalismus ökologisch umzubauen, mit der Forderung nach umfassenden staatlichen Subventionen und einem ungehinderten Zugang zu Märkten, Rohstoffen und Energie.

Geopolitische Einordnung

Diese multiple Krisensituation fällt mit den geopolitischen Veränderungen der letzten dreißig Jahre zusammen und schürt die geostrategische Konkurrenz zwischen den Staaten. Während Russland nach dem Zusammenbruch des Ostblocks an ökonomischen und geopolitischen Einfluss verlor, aber militärisch stark blieb, war diese Entwicklung für die USA ein Glücksfall. Sie blieb als einzige Hegemonialmacht übrig und füllte diese Rolle mit einer Fortsetzung ihrer Regime-Change-Politik weltweit auch aus.

Gleichzeitig fordert der rasante ökonomische und militärische Aufstieg Chinas die USA als Hegemonialmacht heraus. Das Land ist längst nicht mehr die verlängerte Werkbank der Welt, sondern führend in Bereichen der E-Mobilität oder der Kommunikationstechnologie. Die wachsende Konkurrenz zwischen den beiden Staaten im Kampf um die Hegemonie führt bereits seit Jahren zu einer Art Kaltem Krieg. Er wird nicht militärisch, aber auf der Ebene von Zollkonflikten und Exportkontrollen ausgetragen. Die Taiwan-Frage kann hier zum Kristallisationspunkt für einen militärischen Konflikt zwischen China und der USA werden.

Erfahrungen der Klasse

Diese allgemein anerkannte geopolitische Einordnung muss  mit den realen Erfahrungen der Lohnabhängigen verbunden werden, um eine Klassenperspektive auf die globalen Entwicklungen zu bekommen. Im Zentrum steht die Frage, wer profitiert in diesem Krieg und wer tut es nicht. Weder in Russland noch in der Ukraine sind es die Söhne der Oligarchen, die auf den Schlachtfeldern den Blutzoll zahlen. Es sind vielmehr die Söhne der arbeitenden und armen Bevölkerung. Sie sind auch die Leidtragenden der starken Verrohung, zu der dieser Krieg führt: Während in Russland eine weitere Verhärtung des Regimes und eine verschärfte Verfolgung von Oppositionellen und Kriegsdienstverweigerern zu beobachten ist, wurden in der Ukraine im Windschatten des Krieges massive Antigewerkschaftsgesetze durchgesetzt, Freiheitsrechte stark eingeschränkt und mehr als ein Dutzend Parteien verboten.

Und auch in der Bundesrepublik sind es „die da unten“ , die die Auswirkungen des Krieges am stärksten treffen. So waren die Energiepreiskrise und eine Inflation wie seit 1951 nicht mehr die bestimmenden sozialen Themen im Jahr 2022. Nicht ohne Grund lag die Teuerungsrate im Durchschnitt des Jahres 2022 bei fast acht Prozent, was aufs Jahr verteilt den Verlust eines gesamten Monatsgehaltes bedeutet.[1] Nach Angaben der Verbraucherzentrale sind die Lebensmittel im April 2023 im Vergleich zum Vorjahresmonat um über 17 Prozent teurer geworden.[2]  Der Strompreis lag zwischenzeitlich bei 70 Cent je Kilowattstunde. Für eine fünfköpfige Familie stieg damit im Falle eines Neukundenvertrages die monatliche Abschlagszahlung von 116 auf 160 Euro an.[3] Auch die Mieten erhöhten sich im Durchschnitt um rund vier  Prozent.[4] Diese Entwicklung trifft auf eine verwundbare Bevölkerung: Laut den jährlich europaweit durchgeführten statistischen Erhebungen der ING-Bank haben knapp ein Drittel der Menschen keinerlei Ersparnisse, um auf die Krise zu reagieren.[5] Und die Daten der Sparkassen- und Giroverbände verraten, dass etwa 60 Prozent der Bevölkerung ihr gesamtes Monatseinkommen oder mehr zur Deckung der laufenden Kosten aufwendet.[6]

Schwächung der Tarifverhandlungsmacht

Diese Entwicklung geht mit einer geschwächten Verhandlungsmacht der Gewerkschaften einher. Selbst in den Branchen mit den mächtigsten Beschäftigtengruppen gelingt es kaum, auf tarifpolitischem Weg die Tendenz zur relativen Verarmung breiter Teile der Bevölkerung aufzuhalten, geschweige denn Anteile am Produktivitätszuwachs und eine Umverteilungskomponente durchzusetzen. Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut der Hans-Böckler-Stiftung spricht von einem „tarifvertraglich vereinbarten Reallohnverlust von 4,7 Prozent“.[7] In den beiden Jahren 2021 und 2022 ging fast die Hälfte des Reallohnzuwachses der letzten Dekade wieder verloren.

Gleichzeitig zeigen die Tarifrunden eine neue Zuspitzung im Konflikt zwischen Kapital und Arbeit. Bei der Post legten die Arbeitgeber trotz hoher Gewinne erst nach drei gescheiterten Tarifrunden und der bereits eingeleiteten Urabstimmung ein einigermaßen akzeptables Tarifangebot vor. Im öffentlichen Dienst versuchten sie über einen Zusatztarifvertrag Gehaltsabsenkungen für das Pflegepersonal durchzusetzen, und für die Beschäftigten der Sparkassen sollte es Änderungen bei der Regelung der Jahressonderzahlungen geben. Beides konnte abgewehrt werden. Dennoch zeigte sich: Trotz neuer, offensiver Arbeitskampfinstrumente wie dem Megastreik zwischen ver.di und der EVG oder dem Global Climate Strike gemeinsam mit der Klimabewegung: Der Erwartungsdruck unter den Beschäftigten ist höher als die Fähigkeiten der Gewerkschaften, diesen durchzusetzen.

Sozial-ökologische Transformation

Gleichzeitig wird deutlich: Der Krieg in der Ukraine wird eine neue Konkurrenz zwischen Rüstungsausgaben und den notwendigen Ausgaben für Armutsbekämpfung, den Ausbau der Bildung oder die öffentliche Daseinsvorsorge schaffen. Das gilt auch für den klimaneutralen Industrieumbau. Wenn aber notwendige Investitionen für den Klimaschutz anderweitig gebunden werden, dann wächst das Risiko, dass die Klimawende in Deutschland verschleppt wird. Das ist vor allem deshalb ein Problem, weil der Globale Risikobericht des Weltwirtschaftsforums für das Jahr 2023 ein Scheitern der weltweiten Klimaschutzpolitik in den nächsten zehn Jahren prognostiziert, wenn für die neue Krisendynamik kein kooperativer Bearbeitungsmodus gefunden wird.[8]

Hinzu kommt: Die durch den Krieg mitverursachte Energiekrise setzt die Industrieregionen in Deutschland zunehmend unter Druck. Allein der Chemiestandort Ludwigshafen mit seiner starken und für die Düngemittelindustrie wichtigen Ammoniakproduktion verbraucht doppelt so viel Energie wie ganz Baden-Württemberg. Vor dem Hintergrund anhaltend hoher Energiekosten droht die Abwanderung der energieintensiven Industrie, was den Verlust von Arbeitsplätzen ebenso nach sich ziehen könnte wie eine Einschränkung von Organisations- und Produktionsmacht in den gewerkschaftlich gut organisierten Bereichen der Industrie. Das Beispiel zeigt die strukturelle Verschränkung von Friedensfrage, sozialer Gerechtigkeit und Klimaschutz.

Historische Fehler nicht wiederholen

Aus der Geschichte wissen wir, dass die Gewerkschaften häufig mit einem wirtschaftsfriedlichen Kurs auf Kriegszeiten reagiert haben. Dazu ließen sie sich auf eine Kooperation von Kapital und Arbeit verpflichten, was zur Aufgabe des Acht-Stunden-Tages, der Einführung von Lohnstopps und der Bereitschaft, über die Dauer des Krieges keine Streiks zu organisieren, führte. Der Rückblick zeigt: Kriege führen zu einer Zuspitzung der Arbeitsbeziehungen. Wenn diese nicht zu Lasten der Welt der Arbeit gehen soll, dann dürfen sich Gewerkschaften in diesen Widersprüchen nicht bequem einrichten, sondern müssen ebenso zugespitzt darauf reagieren.

Auch heute stehen die Gewerkschaften vor der Herausforderung, im Spannungsverhältnis von betrieblicher und  institutioneller Interessenvertretung einerseits und sozialer Bewegung andererseits ihre Rolle als „Anti-Kriegs-Partei“ auszufüllen. Wenn Krise und Krieg nicht zusammengedacht und bearbeitet werden, kann diese Situation schnell in eine politische Überforderung münden, die verhindert, dass die Gewerkschaften sich der drohenden Eskalationsspirale entgegenstellen. In einem Antrag zum Krieg in der Ukraine auf dem DGB-Bundeskongress 2022 sprachen sich die Delegierten klar gegen das Zwei-Prozent-Ziel der NATO aus. Daran gilt es anzuknüpfen und die friedenspolitische Position der Gewerkschaften zu schärfen.

Gewerkschaften und Friedensbewegung: Ein schwieriges Verhältnis

Insbesondere der Blick in die Nachkriegsgeschichte zeigt: Die Frage von Krieg und Frieden und ein antimilitaristisches Profil gehören zum Kern der deutschen Gewerkschaftsbewegung. Dennoch hat dies in verschiedenen Perioden in und zwischen den Gewerkschaften zu teils mächtigen Konflikten geführt. Remilitarisierung und Wiederbewaffnung, die Ostermarsch-Bewegung und nicht zuletzt der Kampf gegen die Notstandsgesetze sind nur wenige Stichworte.

Die wohl heftigste Auseinandersetzung der letzten Jahrzehnte wurde gegen den NATO-Doppelbeschluss geführt. Am 12. Dezember 1979 hatten die NATO-Staaten in Brüssel die Stationierung neuer atomarer Mittelstreckenwaffen beschlossen. Die Begründung lautete: Die SS-20, der Backfire-Bomber und die modernisierten Kurzstreckenraketen hätten die sowjetische Überlegenheit in Europa vergrößert. Der von Bundeskanzler Helmut Schmidt vorangetriebene NATO-Doppelbeschluss sollte das vorgebliche Gleichgewicht wiederherstellen. Doch ein großer Teil der Menschen in Deutschland wollte das atomare Wettrüsten nicht länger hinnehmen und wehrte sich gegen den massiven Aufrüstungskurs bei fortschreitendem Sozialabbau.

Krefelder Appell

Gegen diesen Nato-Beschluss formierte sich 1980 der „Krefelder Appell“. Er wurde über mehrere Jahre zum wirkungsvollsten Manifest der westdeutschen Friedensbewegung. Er artikulierte die Ängste vieler Bundesbürger und wurde von mehreren Millionen Menschen unterzeichnet. Der Appell wandte sich an die Bundesregierung mit der Forderung, auf eine Nachrüstung gemäß NATO-Doppelbeschluss zu verzichten und stattdessen eine allgemeine Abrüstung zur Maxime ihrer Sicherheitspolitik zu erheben.

Auch in den Gewerkschaften löste der Krefelder Appell heftige Debatten aus. Sie verliefen wie so häufig an der Bruchlinie eher regierungsnaher – sprich SPD-treuer – Kreise einerseits und regierungskritischer – eher sozialistischer – Kräfte andererseits. Besonders in der Gewerkschaftsjugend wurde diese Debatte sehr engagiert geführt. In der deutlichen Mehrheit überwog die Gegnerschaft gegen den Doppelbeschluss und die Orientierung auf die Friedensbewegung. Um die Proteste zu bündeln und bundesweit zum Ausdruck zu bringen, gründeten rund 30 Friedensorganisationen und politische Gruppierungen 1981 den Koordinierungsausschuss der Friedensbewegung. Das Spektrum reichte von kirchlichen Gruppen und Unabhängigen, über Grüne bis hin zu den Jusos. Letztere wurden im Übrigen von einem gewissen Olaf Scholz dort vertreten. An den Tagungen nahm von Beginn an auch ein hauptamtlicher Jugendsekretär des IGM-Vorstandes teil. Die Debatten waren häufig  von politischen und strategischen Streitigkeiten geprägt, brachten aber immer wieder belastbare Kompromisse und Verabredungen zustande. Der Koordinierungsauschuss organisierte als erstes wichtiges Projekt die legendäre Großdemonstration im Bonner Hofgarten am 10. Oktober 1981 mit 300.000 Teilnehmern.

Kontroverse Debatten in den Gewerkschaften

Dieser Demonstration vorausgegangen waren heftige und intensive Debatten in den Gewerkschaften. Der DGB startete nicht nur eine eigene Unterschriftenkampagne, die dem Krefelder Appell das Wasser abgraben sollte, sondern organisierte auch eine Großdemonstration in Dortmund als Konkurrenz zur Bonner Großdemo. Beides blieb aber erheblich hinter den Erwartungen zurück. Der Marburger Hochschullehrer Wolfgang Abendroth beschrieb diese Phase sehr treffend: „ …die gewerkschaftlichen Spitzen haben (…) zunächst durchaus an der Verketzerung der Friedensbewegung mitwirken wollen. Der Beschluss, mit dem der Gewerkschaftsjugend die Eingliederung in die Friedensbewegung verboten werden sollte, ist nur eine Spiegelung dieses Tatbestandes. Leider dreht es sich dabei nicht nur um Probleme des Verhaltens der gewerkschaftlichen Spitzen. Zwar wäre es falsch, von einer promilitaristischen Wandlung des Bewusstseins der Massen der gewerkschaftlichen Betriebsfunktionäre auszugehen. Gleichwohl wird das Verhalten der Spitzengruppen in dieser Frage doch von einer gewissen politischen Apathie gewerkschaftlicher Betriebsfunktionäre in solchen Fragen mitgetragen.“[9]

Der widersprüchlichen Debatte in den Gewerkschaften zum Trotz nahmen an der Bonner Großdemonstration zehntausende Gewerkschaftsmitglieder jeden Alters teil. Einer der Hauptredner war Georg Benz, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall. Bezogen auf die Debatte in den Gewerkschaften formulierte er: „Die jungen Gewerkschafter haben mit ihren Forderungen zu dieser Friedenskundgebung erneut Glaubhaftigkeit und politisches Verantwortungsbewusstsein unter Beweis gestellt. Sie lassen sich ihr Recht, selbst mitzugestalten und selbst mitzuverantworten, wenn es um ihre Zukunft und um ihr Schicksal geht, von niemandem streitig machen.“[10] Für diesen Aufritt wurde er vom damaligen IG Metall-Vorsitzenden Eugen Loderer gemaßregelt. Die Friedensbewegten in den Gewerkschaften wurden durch diese Auseinandersetzung allerdings deutlich gestärkt.

Konferenz in Hanau

Wäre so eine Periode in den Gewerkschaften heute wieder möglich? An der von Abendroth konstatierten Apathie der Betriebsfunktionäre in Friedensfragen hat sich wenig geändert. Eingeräumt werden muß aber auch, daß im betrieblichen Alltag gewerkschaftlicher Interessenvertretung andere Themen im Vordergrund stehen, was allerdings ihre Mobilisierungsfähigkeit im Konfliktfall nicht in Zweifel zieht. In einigen Punkten läßt sich jedoch ein Wandel in der gewerkschaftlichen Positionierung feststellen. Bei der IG Metall werden klar diplomatischen Lösungen gefordert, Waffenlieferungen abgelehnt und die Schaffung einer dauerhaft stabilen, gesamteuropäischen Architektur für Frieden und Sicherheit erhoben.

Hinzu kommt: Schon jetzt gibt es eine Vielzahl von gewerkschaftlichen Aktivitäten, die sich um Klarheit in der Frage von Krieg und Frieden bemühen. So hat die IG Metall Geschäftsstelle Hanau-Fulda eine große Delegiertenversammlung zu dem Thema „Wirtschaftliche Auswirkungen von Krieg und Sanktionen“ organisiert und im Rahmen der Tarifrunde Metall/ Elektro Warnstreikaktionen gemeinsam mit den regionalen Friedensinitiativen durchgeführt. Auch beim IG Metall Neujahrsforum in Sprockhövel sowie in anderen Gewerkschaften, in Workshops der „AG Perspektiven“ der GEW und ver.di ist die Debatte über den Ukrainekrieg intensiv geführt worden. Diese Aktivitäten sollten aufgegriffen und verallgemeinert werden, um die gewerkschaftliche Debatte über den Krieg zu befördern.

Aus diesem Grund organisiert die IG Metall Hanau-Fulda in Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung am 23/ 24. Juni eine gewerkschaftspolitische Friedenskonferenz. Das Anliegen: Die massiven geopolitischen Verschiebungen haben Auswirkungen auf das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit und machen eine strategische Diskussion über die Rolle der Gewerkschaften in der aktuellen gesellschaftlichen Krisensituation notwendig. Dieser Faden soll mit der Konferenz aufgenommen und weitergesponnen werden. Viele Kolleginnen und Kollegen haben ihre Mitarbeit bereits angekündigt, darunter der Arbeitsrechtler Wolfgang Däubler, der Bundesvorsitzende der NaturFreunde Michael Müller und der ehemalige Vorsitzende der IG Metall Jürgen Peters. Hinzu kommen ehrenamtliche Kolleginnen wie der Personalratsvorsitzende der Stadt Frankfurt Christian Barthelmes oder der Betriebsratsvorsitzende des Automobilzulieferers Norma Germany Klaus Ditzel. Gewerkschaften sind Demokratieträger – sie sind dies im Betrieb ebenso wie in der Gesellschaft. Sie waren wesentlich daran beteiligt, dass der heutige, gesellschaftlich weitestgehend anerkannte Blick auf die Rolle Deutschlands in zwei Weltkriegen erfolgreich von unten erkämpft werden konnte. Gerade jetzt, wo mit dem Krieg der öffentliche Diskurs aus der Mitte des politischen Parteienspektrums nach rechts verschoben wird, kommt den Gewerkschaften eine bedeutende Rolle in den aktuellen Auseinandersetzungen zu.

Thomas Händel ist ehemaliger 1. Bevollmächtigter der IG Metall in Fürth und langjähriger stellvertretender Vorsitzender der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Robert Weissenbrunner ist 1. Bevollmächtigter der IG Metall Hanau-Fulda. Ulrike Eifler ist Bundessprecherin der BAG Betrieb & Gewerkschaft in der Partei DIE LINKE. Gemeinsam organisieren sie die Friedenspolitische Gewerkschaftskonferenz „Den Frieden gewinnen, nicht den Krieg“, die vom 23.-24. Juni im Gewerkschaftshaus in Hanau stattfindet.

[1] https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2023/01/PD23_022_611.html#:~:text=022%20vom%2017.,Januar%202023&text=WIESBADEN%20–%20Die%20Verbraucherpreise%20in%20Deutschland,als%20in%20den%20vorangegangenen%20Jahren.

[2] https://www.verbraucherzentrale.de/wissen/lebensmittel/lebensmittelproduktion/steigende-lebensmittelpreise-fakten-ursachen-tipps-71788

[3] https://www.handelsblatt.com/unternehmen/energie/strompreisentwicklung-bleibt-strom-2023-teuer/28741584.html

[4] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/609521/umfrage/monatlicher-mietindex-fuer-deutschland/

[5] https://www.tagesschau.de/wirtschaft/ing-studie-drittel-ohne-ersparnisse-101.html

[6] https://www.zeit.de/news/2022-09/13/sparkassen-viele-haushalte-verbrauchen-ihr-ganzes-einkommen?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.de%2F

[7] https://www.boeckler.de/de/pressemitteilungen-2675-tariflohne-steigen-2022-durchschnittlich-um-2-7-prozent-45523.htm

[8] https://www.weforum.org/reports/global-risks-report-2023/

[9] Abendroth, Wolfgang: Gewerkschaften und Friedensbewegung, Schriftenreihe für Sozialgeschichte und Arbeiterbewegung, S.89.

[10] Georg Benz zum 70. Geburtstag, Verlag Schüren, S. 63.

Auf unserer Seite zum Thema:

Die Titel-Story unserer Mai-Ausgabe: Tarifpolitik verschärft sich unter den Bedingungen von Krise und Krieg. Die anhaltende Krisendynamik, die hohe Inflation und die steigenden Energiepreise machen gute Tarifabschlüsse notwendig. Gleichzeitig greift der Staat ein (Konzertierte Aktion). Der Kampf um gute Tarifabschlüsse ist also nicht allein auf der betrieblichen Ebene zu lösen und ruft das politische Mandat der Gewerkschaften auf die Tagesordnung: Tarifpolitik im Kontext von Krise und Krieg

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