Im November stellt DIE LINKE ihre Liste zur Europawahl auf. Ines Schwerdtner will für die Partei kandidieren. Wir haben mit Ines über ihre Beweggründe gesprochen und darüber, welche Themen sie in Europa setzen will. Das Gespräch führte unsere Bundessprecherin Ulrike Eifler.
BAG Betrieb & Gewerkschaft: Ines, du bewirbst dich für einen ausreichenden Listenplatz zur Europawahl. Als gewerkschaftlicher Zusammenschluss interessiert uns natürlich die Frage, bist du gewerkschaftlich organisiert und was war der Grund für deine Mitgliedschaft?
Ines Schwerdtner: Seit dem Studium bin ich in der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft organisiert und war in Berlin auch Sprecherin der jungen GEW und in vielen Gliederungen der Gewerkschaft aktiv. Die prägende Erfahrung war eine Befragung unter jungen Leuten im Referendariat – von denen kaum jemand wusste, was eine Mitgliedschaft in der Gewerkschaft jenseits der Schlüsselversicherung bringen könnte. Wir waren als Studierende von den Arbeitsbedingungen an Berliner Schulen so erschüttert, dass wir in die Gewerkschaft schock-eingetreten sind und uns sofort engagiert haben.
Der GEW bin ich treu geblieben, auch wenn ich mittlerweile der Sache nach zu ver.di gehöre. Und in den letzten Jahren hat sich durch meine Arbeit als Journalistin ein größeres gewerkschaftliches Netzwerk gebildet, weil wir über Streiks und gewerkschaftliche Debatten berichtet haben. Diese Breite an Themen und Sektoren in der Gewerkschaftsbewegung habe ich für meine Arbeit immer als großen Schatz wahrgenommen.
Du hast viele Jahre als Journalistin gearbeitet und die Diskussionen in der LINKEN publizistisch begleitet. Jetzt hast du die Leitung von Jacobin abgegeben und bist in die Partei eingetreten. Warum hast du die komfortable Seitenlinie verlassen und dich dafür entschieden, dich stärker in die innerparteilichen Konflikte und Strategiedebatten einzumischen?
Gerade weil ich die LINKE immer begleitet habe, wurde mir immer klarer, dass sie sich in einer existenziellen Krise befindet und dass wir alle, die sich als Sozialistinnen und Sozialisten verstehen, eine Verantwortung tragen. Ein Land ohne linke Partei wäre katastrophal. Außerdem habe ich während der Kampagne „Genug ist Genug“ im letzten Herbst immer mehr gespürt, wie gern ich mit Beschäftigten und Betroffenen Kundgebungen organisiere oder versuche etwas wie die Gaspreisbremse politisch durchzusetzen. Ich glaube diese Arbeit lohnt sich und alle Strategiedebatten sind nichts wert, wenn die Erkenntnisse nicht auch in politische Praxis münden. Dafür muss man eben auch anpacken.
Man sagt dem Europaparlament nach, dasjenige Parlament mit der geringsten Einflussmöglichkeit zu sein. Welche Akzente möchtest du setzen?
Es stimmt ja, dass das Europaparlament kein Initiativrecht besitzt und nicht so funktioniert wie der Deutsche Bundestag. Dennoch sind die Spielräume seit den letzten Krisen enorm gewachsen – einfach, weil die objektiven Bedingungen sich geändert haben. Größere Maßnahmenpakete während der Inflation oder auch die Mindestlohnrichtlinie zeigen, dass politischer Druck auch gerade von den Gewerkschaften einen ganz konkreten Unterschied für die Menschen in den Mitgliedstaaten machen. An diese Zusammenarbeit möchte ich anknüpfen und auch für das ganz große Thema der Transformation nutzen. Die EU muss sich hier bewegen und je stärker wir als linke und sozialistische Parteien und als Gewerkschaften den Druck erhöhen, desto mehr Spielraum haben wir. Dass im EU-Parlament mit wechselnden Mehrheiten abgestimmt wird, bedeutet, dass auch eine kleine Gruppe oder Fraktion von Abgeordneten einflussreich sein können, wenn sie strategisch klug vorgehen.
Gleichzeitig ist es wichtig zu zeigen, welche politische Macht die Kommission im Verhältnis zum Parlament besitzt. Wir haben das während der Pandemie und bei der Impfstoffbeschaffung gesehen. Ursula von der Leyen konnte da machen, was sie wollte, und die politische Kontrolle der Lobbyisten und großen Finanzakteure ist schwierig. Ich glaube wir müssen ganz konkret an diesen Beispielen zeigen, wo genau das Demokratiedefizit in der EU liegt und welche Interessen vertreten werden.
Zuletzt hat gerade die deutsche Linke die Verantwortung, die hegemoniale Stellung der deutschen Wirtschaft in Europa zu thematisieren, die sich ja auch in politischer Macht ummünzt. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt etwa wird ja von Christian Lindner geblockt, daran hängen ganze Wirtschaften in Europa. Deutschlands Rüstungsindustrie profitiert vom Krieg und so weiter. Je stärker wir hierzulande sind und den Einfluss der Bundesregierung auf europäische Entscheidungen prägen, desto eher kommen wir dem Ziel näher, Europa zu demokratisieren.
Die Menschen in Europa erleben im Kontext von Pandemie, Inflation und steigenden Energiepreisen aktuell eine handfeste Lebenshaltungskrise. Reagiert die Europäische Kommission angemessen darauf?
Nein, die Initiativen zur europäischen Gaspreisbremse oder der Übergewinnsteuer waren viel zu zaghaft und kamen zu spät. Das lag auch an Deutschland. Andere Länder wie Spanien haben viel mutiger eingegriffen und Preise gedeckelt, Übergewinne besteuert, in den ÖPNV investiert, den Mindestlohn erhöht und vieles mehr. So ein Paket wäre natürlich auch in ganz Europa denkbar gewesen.
Die Energiekrise hat auch gezeigt, dass der gemeinsame Strommarkt dringend reformiert werden muss. Es geht ja nicht nur um die Abhängigkeit vom russischen Gas, sondern von den fossilen Energieträgern im Allgemeinen und darüber hinaus, wie wir die Energieversorgung sicherstellen und die Preise günstig halten. Dafür braucht es staatliche und gesamteuropäische Planung, den Ausbau der Erneuerbaren und der Netze, demokratische Kontrolle der großen Energiekonzerne und die Zerschlagung der Monopole auf dem Energiesektor.
In Belgien existiert seit 1920 ein sogenannter Inflationsindex. Er stellt sicher, dass die Löhne automatisch an die Inflationsentwicklung angepasst werden. Wie findest du den Vorschlag, das Modell auch auf Deutschland zu übertragen?
Eine Indexierung der Löhne kann durchaus sinnvoll sein und zur sozialen Absicherung der Beschäftigten beitragen. Allerdings kommt es hier auf die genaue Ausgestaltung an. Die Inflationsrate liegt in Belgien derzeit unter dem Niveau in Deutschland. Auch über längere Zeiträume berechnet lag die Inflation dort unter dem europäischen Durchschnittsniveau. Das zeigt einmal mehr, dass wir von einer Lohn-Preis-Spirale weit entfernt sind, sondern dass Unternehmen Lieferengpässe und ihre Marktmacht ausnutzen, um zusätzliche Profite einzustreichen. Nicht die Löhne der Menschen, sondern die Profite der Unternehmen treiben die Preise in die Höhe.
Das belgische Modell eines Inflationsindex kann ein Mittel sein, hier gegenzusteuern. Allerdings müssen zwei Punkte beachtet werden. Zum einen muss sichergestellt werden, dass der Inflationsausgleich eine Mindesterhöhung darstellt und die Gewerkschaften mehr verlangen können und sollen, wenn die Situation in ihrer Branche dies zulässt: Dies muss sowohl gesetzlich festgelegt als auch öffentlich klar kommuniziert werden. Jeder Arbeitskampf würde somit zur Auseinandersetzung um die potentielle Erhöhung der Lohnquote, die Gewerkschaften müssten sich keine Gedanken um die Sicherung des Status quo machen, was ihre Verhandlungsposition stärken würde.
Des Weiteren muss sichergestellt sein, dass es durch die Neuregelung nicht zu Eingriffen in die Tarifautonomie und in das Streikrecht kommt. Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland war überfällig. Gleichzeitig zeigt das Beispiel der Mindestlohnkommission aber, dass korporatistische Verfahren zur Lohnfestsetzung, die den Beschäftigen das strukturelle Druckmittel des Streiks nicht in die Hand geben, langfristig auch nicht in ihrem Sinn sind. Durch eine Lohnindexierung, die durchaus sinnvoll sein kann, darf keinesfalls am Primat der Tarifautonomie gerüttelt werden, sondern diese stellt bestenfalls eine ergänzende Absicherungsmaßnahme dar.
Die Arbeitswelt befindet sich in einem epochalen Umbruch. Insbesondere die europäischen Leitindustrien stecken in handfesten Transformationsprozessen. Ist der European Green Deal eine angemessene Antwort auf diese Entwicklung?
Nein, der Green Deal ist wirklich eine Mogelpackung: er reicht vorn und hinten nicht und stellt zudem keine sozialen Garantien her. Wenn man das mit den staatlichen Anstrengungen Chinas oder mit dem Inflation Reduction Act (IRA) in den USA vergleicht, ist er ein Witz. Insbesondere der IRA wird in Europa immer wieder kleingeredet. Es wird behauptet, dass wie Gesamtsumme der Förderungen in Europa ähnlich hoch ist und man sich deshalb keine Sorgen um die US-Industriepolitik machen müsste. Das ist aus zwei Gründen irreführend:
Erstens ist wichtig zu verstehen, dass die Förderinstrumente des IRA zum Großteil die Form von Steuervergünstigungen annehmen. Die Gesamtsummen, die hierfür deutlich genannt werden, stellen Schätzungen der US-Behörden dar. Doch es gibt gute Gründe, anzunehmen, dass sie deutlich übertroffen werden. Das Gesetz selbst legt keine Obergrenze fest, jede Verbraucherin und jedes Unternehmen kann von den Steuervergünstigungen Gebrauch machen, wenn die entsprechenden Bedingungen erfüllt sind.
Zweitens fördert der IRA in erheblichem Umfang die Produktion und nicht nur Investitionen. So erhalten Erzeuger etwa für jedes Kilogramm grünem Wasserstoff eine feste Steuervergünstigung. Dies reduziert das Investitionsrisiko für die Unternehmen erheblich.
Nicht alle dieser Regelungen können – oder sollten – auf Europa übertragen werden. Einiges könnten wir uns aber zum Vorbild nehmen. Subventionen für E-Autos sind in den USA etwa daran gebunden, dass ein Teil der Wertschöpfung im Inland stattfindet. Die industriepolitische Herausforderung durch den IRA ist insgesamt größer als die europäische Presse, aber leider auch viele europäische und insbesondere deutsche Wirtschaftswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, zu glauben scheinen. Wir brauchen dringend eigene Antworten im gebotenen Maßstab.
Europa könnte die modernsten Technologien mit starken Arbeitsrechten verbinden – aber die Investitionen sind zu gering, zu wenig geplant und vor allem knüpfen sie Subventionen nicht an Bedingungen, sodass die einzelnen Staaten den Entscheidungen von Unternehmen ausgeliefert sind. Sowohl der EU als auch Deutschland fehlt es an einer planvollen industriepolitischen Gesamtstrategie.
Voraussetzung für eine erfolgreiche Mobilitätswende ebenso wie für eine erfolgreiche Energiewende ist der nachhaltige Industrieumbau. Wo siehst du die größten Herausforderungen für eine linke Industriepolitik?
Deutschland wie die EU betreiben eine Industriepolitik, die die Ökonomin Daniela Gabor als den „kleinen grünen Staat“ charakterisiert. Kurz: die Politik liefert sich den Unternehmen aus, subventioniert sie etwas und die Gewinne landen bei sehr Wenigen. Diesen Ansatz umzukehren wird in allen Bereichen der entscheidende Punkt sein. Der Grundsatz sollte sein: öffentliche Gelder führen zu öffentlichem Eigentum. Das sollte für die Bahn gelten genauso wie für die Energieversorgung. Wenn wir also vom Grundrecht ausgehen, dass jeder EU-Bürger sich frei bewegen kann und das Recht auf Wohnen und Energie hat, dann müssen wir diese Güter auch bezahlbar machen und wieder in die öffentliche Daseinsvorsorge überführen. Dafür gibt es ja politische Mehrheiten europaweit, aber eben nicht die Macht, das umzusetzen, weil die Konzerninteressen zu groß sind und nationale Regierungen wie die Kommission diese Interessen verteidigen.
Überhaupt ist wichtig, Industriepolitik im Sinne der Menschen wieder zu einem linken Thema zu machen. Das ist der Knackpunkt für die ganze Klimawende, hier müssen wir besonders stark sein, wenn wir es ernst meinen.
Du bist gebürtige Ostdeutsche und kandidierst auch für einen ostdeutschen Landesverband. Wo siehst du konkrete Stellschrauben zur Verbesserung der Arbeits- und Lebenssituation der Menschen in Ostdeutschland, die du als zukünftige Europaabgeordnete angehen würdest?
In den letzten Monaten konnten wir vielfach sehen, dass gerade der Energiesektor in Ostdeutschland stark von den Entscheidungen im Bund und auf europäischer Ebene betroffen ist. Die Förderung der Chipfabrik in Magdeburg in Höhe von 12 Milliarden Euro etwa, die von der Kommission abgesegnet werden muss. Oder Europas größter Solarhersteller Meyer Burger, der die Produktion von Maschinen, die für das Werk in Thalheim notwendig wären, nach Colorado in den USA verlegt. Das sind ganz aktuelle Beispiele aber die ganze Geschichte seit der Wende ist durchzogen von Abwanderung der Industrie und damit Angst vor Arbeitsplatzverlust. Hier geht es also um Aufarbeitung der Geschichte der Treuhand aber auch der neoliberalen Verbrechen der letzten Jahrzehnte.
Ganz konkret geht es also um Investitionen und Beschäftigungsschutz bei jeder Entscheidung. Das muss verbunden werden mit kommunaler Finanzierung und einer guten Anbindung, wie sie auch im Europawahlprogramm der LINKEN schon eingeplant sind. Vor allem aber müssen auch die Gewerkschaften IG BCE, IG Metall und ver.di als Bündnispartner gewonnen werden, denn ohne Tarifbindung und gewerkschaftlicher Organisierung im Osten werden wir noch Jahre von der Angleichung West reden statt von eigenständiger Politik für die Menschen im Osten.
Ich weiß, du denkst bereits über eine Tour durch Ostdeutschland nach. Welche Regionen und welche Gesprächspartner schweben dir dabei besonders vor?
Nach der Ankündigung meiner Kandidatur und der Ost-Tour haben sich erfreulicherweise sehr viele Kreisverbände und Basisgruppen gemeldet – auch im Westen. Ich möchte also in den kommenden Monaten so viele Orte wie möglich besuchen und mit den Genossinnen und Genossen ins Gespräch kommen. Dabei sollte es um EU-politische Themen gehen, aber eben auch um die Zukunft der Partei und welche Ansätze vielversprechend sind. Mein Ziel ist auch, Aktionen direkt vor Ort gemeinsam zu starten: also Flyer verteilen vor dem Edeka, über den Sparhaushalt informieren. Und ich glaube wir brauchen auch Leuchttürme, also Veranstaltungen, bei denen Menschen von Streiks berichten, vom Widerstand gegen teure Mieten und so weiter. Wir brauchen diese Geschichten und die gemeinsamen Orte, damit alle immer wieder spüren, sie sind nicht allein mit ihren Sorgen und in der LINKEN stehen wir für diese gemeinsamen Interessen ein.
Liebe Ines, vielen Dank für das Gespräch!