Schicksalswahl 2021: Im Gespräch mit Janine Wissler und Dietmar Bartsch. Unsere Arbeitswelt ändert sich rasant. Die Umbrüche sind nicht mehr nur auf eine Branche beschränkt und für die meisten schwer greifbar. Unwetter-Katastrophen und Hitze-Wellen zeigen, dass der Klimawandel längst in den reichen Industrieländern angekommen ist. Jeder spürt, dass unsere Art zu leben sich ändern muss. Das schürt Unsicherheit, Wut oder auch Ängste. DIE LINKE will das Land gerecht machen. Wie, darüber sprechen wir mit dem Spitzen-Duo der Partei für die Bundestagswahl.
BAG Betrieb & Gewerkschaft: Die Arbeitswelt ändert sich rasant. Unter der Vorgabe, nachhaltiger und digitaler zu produzieren, geraten Branchen und Arbeitsplätze zunehmend unter Druck. Für die Beschäftigten bedeuten diese Prozesse Veränderungen, die mit Ängsten von Arbeitsplatzverlust, Berufswechsel und Entqualifizierung einhergehen. Nimmt DIE LINKE diese Sorgen ernst?
Dietmar Bartsch (DB): Niedriglohn und Dauerstress sind für viele Beschäftigten bereits Alltag. Ohne einen politischen Richtungswechsel, droht die Digitalisierung die soziale Spaltung zu vertiefen. Wir dürfen nicht einfach zusehen, wie Arbeitsplätze wegrationalisiert oder Standorte verlagert werden. Oft werden Digitalisierung oder Klimaschutz schlicht als Ausreden des Managements benutzt. Die Konzerne wollen die Kosten des ökologischen Umbaus auf die Beschäftigten abwälzen. Sorgen sind also mehr als berechtigt. Es reicht nicht, die Folgen von Digitalisierung und Klimawandel nur „abzufedern“. Wir wollen gute Arbeit für alle. Löhne, die für ein gutes Leben reichen. Sichere Arbeit statt Befristungen und Leiharbeit, kürzere Arbeitszeiten statt Dauerstress. Die industrielle Basis muss erhalten und erneuert werden.
Die Gewerkschaften setzen in der Transformation richtigerweise ebenfalls auf Beschäftigungssicherung. In der letzten Tarifrunde der IG Metall spielte zudem die Vier-Tage-Woche eine Rolle. Arbeitszeitverkürzung als wichtiges Element, um den Strukturwandel abzustützen?
Janine Wissler (JW): Auf jeden Fall. Durch die 30-Stunden-Woche in der Industrie könnten in den nächsten Jahren Hunderttausende Arbeitsplätze gesichert werden. In anderen Branchen machen den Beschäftigten eher Minijobs und prekäre Teilzeit zu schaffen. Die Beschäftigten sind in den letzten Jahrzehnten immer produktiver geworden. Wenn Arbeit und Reichtum gerecht verteilt wären, wären längst Arbeitszeiten um die 30 Stunden für alle normal, mit Lohnausgleich und ausreichend Personal versteht sich. Das ist das Ziel. Aber da sind wir noch nicht. Das ist auch eine Frage der Stärke der Gewerkschaften, der Durchsetzungsmacht. Aufgabe der Politik ist es, die Rahmenbedingungen zu verbessern. Wir wollen Tarifverträge stärken, Überstunden gesetzlich begrenzen, Arbeitszeitverkürzung für Weiterbildung und Kinderbetreuung fördern.
In der Pandemie hat der Staat die Lufthansa mit Steuermilliarden gerettet, diese setzt zum Dank nun auf Massenentlassungen und Lohndumping. Andere Konzerne haben in der Pandemie gar Dividenden ausgeschüttet, obwohl ihnen mit öffentlichem Geld geholfen wurde. Was wurde da versäumt?
DB: Kurzarbeit konnte viele Arbeitsplätze in der Pandemie retten. Aber es gab auch Schattenseiten. Allein dadurch, dass Konzerne Kurzarbeitergeld beantragt und gleichzeitig Dividenden ausgeschüttet haben, sind den öffentlichen Kassen 13,7 Mrd. Euro Schaden entstanden. Das hätte durch strengere Auflagen wie in anderen Ländern verhindert werden müssen. Es ist auch skandalös, dass Unternehmen wie Lufthansa, Subventionen abgreifen und dann Arbeitsplätze vernichten. Als LINKE sehen wir den Staat in der Verantwortung: Keine Steuergelder ohne Gegenleistung. Hilfen müssen an langfristige Garantien von Arbeitsplätzen, Tarifverträgen und an verbindliche Investitionspläne gebunden werden, bei denen die Betriebsräte mitentscheiden. Wir setzen uns für Veto-Rechte der Betriebsräte bei Standortschließungen und Massenentlassungen ein. Wir wollen den Einfluss der Belegschaft stärken statt Blanko-Schecks fürs Management zu vergeben.
Der Lebensmittel- und Onlinehandel hat die Pandemie nicht nur unbeschadet überstanden, sondern sich 2020 auch eine goldene Nase verdient. Dafür gab es Applaus und warme Worte, das ist nicht akzeptabel. Was muss sich hier eurer Ansicht nach ändern?
JW: Dem Lebensmitteleinzelhandel geht es gut. Nicht aber der Kassiererin, die häufig mit befristeter Beschäftigung und Niedriglohn abgespeist wird. Warme Worte bezahlen keine Miete. Anerkennung heißt: gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit. Die Löhne im Handel und sozialen Dienstleistungen müssen deutlich steigen. Die Rente muss den Lebensstandard sichern und endlich auch Frauen und Menschen mit niedrigen Löhnen vor Altersarmut schützen. Ein Mindestlohn von 13 Euro ist das Mindeste, darunter droht Altersarmut. Im Handel ist klar, dass die Tarifbindung gestärkt werden muss. Einige Handelskonzerne betreiben Tarifflucht. Wir wollen erleichtern, dass Tarifverträge auf Antrag der Gewerkschaft für allgemeinverbindlich erklärt werden. Das würde sich schnell auf dem Lohnzettel bemerkbar machen. Anstelle von Minijobs und prekärer Teilzeit wollen wir sozial abgesicherte Arbeitsplätze mit vernünftigen Arbeitszeiten und guten Löhnen.
In der Kranken- und Altenpflege gehen die Beschäftigten auf dem Zahnfleisch. Wie kann unser Gesundheitssystem gerechter werden?
DB: Um den Pflegenotstand zu überwinden braucht es SOFORT ein klares Signal. Wir fordern als ersten Schritt 500 Euro mehr pro Monat für alle Beschäftigten in der Pflege und gesetzliche Regelungen, die für mehr Personal sorgen. Beides gehört zusammen. Wettbewerbsfähigkeit und Profit haben in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen nichts zu suchen. Die Fallpauschalen führen zu schlechterer Versorgung und Personalmangel. Wir wollen sie ersetzen durch eine Finanzierung, die sich am wirklichen Bedarf orientiert. Auch in ländlichen Regionen, wo derzeit viele Krankenhäuser oder Geburtsstationen geschlossen werden, muss eine gute Versorgung gesichert werden. Mit einem Rekommunalisierungsfonds wollen wir Kliniken und Pflegeheime zurück in die Hände der Kommunen und gemeinnützlichen Träger holen.
Durch Corona wissen wir: Nicht der Markt hat uns durch die Krise geholfen, sondern der Sozialstaat. Wie will DIE LINKE ihn ausbauen, damit er allen Menschen Schutz bietet und könnt ihr konkret ein Beispiel nennen?
DB: Die Pandemie hat zu hohen Kosten bei den Krankenkassen geführt. Für uns ist klar: Einseitige Beitragserhöhungen oder Kürzungen bei den Leistungen kommen nicht in Frage! Wir wollen stattdessen eine Gesundheitsversicherung für alle, in die auch Beamte, Politiker, Unternehmer und Spitzenverdienende einzahlen. Nur so können wir die Beiträge stabil halten, die Arbeitsbedingungen und die Versorgung verbessern. Bei der Rente erleben wir bereits, wie Unternehmerverbände und Unions-Politiker die Messer wetzen, um die Krisenkosten auf die Beschäftigten abzuwälzen. Rente mit 69 oder 70? Das ist nichts anderes als Enteignung von Lebensleistungen. Wir wollen eine gesetzliche Rente, die den Lebensstandard wieder sichert und vor Armut schützt. Es muss möglich sein, nach 65 Jahren abschlagsfrei in Rente zu gehen. Das ist möglich und finanzierbar, wenn alle in die gesetzliche Rente einzahlen. Wie in Österreich. Die durchschnittliche Rente in Österreich ist dort rund 800 Euro höher als in Deutschland und es gibt eine Mindestrente von aktuell 1.114 Euro. Daran wollen wir anknüpfen.
Gute Arbeit, Vollbeschäftigung und angemessene Löhne sind der Schlüssel zur sozialen Sicherung. Die Ursachen für die schlechten Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt sind komplex, ein wichtiger Aspekt ist aber sicherlich die abnehmende Organisationsmacht der Gewerkschaften. Wie will DIE LINKE die Kampfkraft der Gewerkschaften wieder stärken?
JW: Zum einen, in dem wir die Rahmenbedingungen verbessern. Prekäre Arbeit zurückdrängen, Tarifflucht stoppen, wirksame Tariftreue- und Vergabegesetze durchsetzen, Leiharbeit verbieten. Wir wollen die Mitbestimmung in den Betrieben ausweiten, Betriebsräte stärken und Betriebsratsgründungen erleichtern. Gewerkschaften müssen das Recht haben, gegen unsoziale Gesetze zu klagen, als Organisation, und auch politisch zu streiken. Viele LINKE-Mitglieder engagieren sich aktiv gewerkschaftlich. Wir unterstützen Streiks und schaffen Räume für Austausch.
Der Staat hat in der Pandemie gigantische Summen mobilisiert, Schätzungen zufolge ca. 1,9 Billionen Euro (1.900.000.000.000 Euro) – so viel wie die Wiedervereinigung oder mehr als fünfmal so viel wie der gesamte Bundeshalt. Das wird irgendwer bezahlen müssen. Droht uns nach der Bundestagswahl ein Kürzungshammer?
DB: Darüber entscheidet auch das Ergebnis der Bundestagswahl. Die LINKE ist die einzige Partei, die da klare Kante zeigt und auch den Mut hat, sich mit den Reichen anzulegen. Für diese Krise müssen die Milliardäre und Multimillionäre zahlen – nicht die Beschäftigten mit ihren Steuergeldern. Mit einer einmaligen Vermögensabgabe, die die reichsten 0,7 Prozent der Bevölkerung trifft. Dieses Land braucht einen Kurswechsel in der Steuer- und Finanzpolitik, um Zukunftsinvestitionen gerecht zu finanzieren und gleichzeitig die Beschäftigten zu entlasten. Durchschnittsverdiener haben nach unserem Steuerkonzept 100 Euro netto im Monat mehr im Portemonnaie.
Unser Wahlprogramm zeigt deutlich: DIE LINKE steht für einen konsequenten Kurswechsel. Dieser wird sich aber weder vom Seitenrand noch aus der Meckerecke heraus umsetzen lassen. Soll die CDU raus aus der Regierung, muss DIE LINKE Farbe bekennen und sagen, ob und wie sie bereit ist, Verantwortung für eine bessere und gerechtere Gesellschaft zu übernehmen. Wie seht ihr das?
JW: Es muss Schluss sein mit der Politik der verlorenen Zeit. Wir wollen soziale Absicherung für alle durch den Ausbau des Sozialstaats. Wir wollen Menschenwürde in der Pflege, sichere Arbeit und bezahlbares Wohnen durch einen Mietenstopp. Wir wollen den Kohleausstieg spätestens 2030 und eine Mobilitätswende mit bezahlbarem Fern- und kostenfreiem Nahverkehr. Das ist in einer Regierung mit Union oder FDP sicher nicht zu machen. SPD und Grüne müssen sich entscheiden, ob sie es ernst meinen mit sozialer Gerechtigkeit und Klimaschutz. Wir treten ein für einen Politikwechsel. Hoffnung auf soziale Veränderungen braucht Menschen, die bereit sind, sich für eine bessere Zukunft zu engagieren. Wir stehen an der Seite der Gewerkschaften und der sozialen Bewegungen wie Fridays for Future oder der Seebrücke. Vor und nach der Wahl. Gemeinsam können wir viel bewegen!
In unserer Rubrik „Keine Kultur ohne Klasse“ präsentieren wir Kurz-Rezensionen zu Büchern oder Filmen, die uns bewegt oder einen Klassenbezug haben. Deshalb abschließend noch zwei letzte Fragen an euch. Habt ihr überhaupt Zeit für Literatur und welches Buch habt ihr zuletzt gelesen?
JW: Das Buch, das mich in letzter Zeit am meisten beeindruckt hat, war die Autobiographie der Sozialistin, Gewerkschafterin und Frauenrechtlerin Tony Sender „Autobiographie einer deutschen Rebellin“. Momentan bleibt leider wenig Zeit zum Lesen.
DB: Zuletzt gelesen habe ich „1913“ von Florian Illies, jetzt jedoch lese ich bis zum 27. September keine Bücher mehr.
Welches Buch hat euch so berührt, dass ihr es unseren Leserinnen und Lesern empfehlen könnt und beschreibt bitte in einem Satz, warum?
JW: „Germinal“ von Emile Zola. Es geht um einen Bergarbeiterstreik, die soziale Situation der Bergleute und ihrer Familien und die Notwendigkeit sich zu organisieren.
DB: Berührt hat mich das Buch von Michael J. Sandel „Vom Ende des Gemeinwohls“, weil es einiges von meinem Blick auf eine Leistungsgesellschaft zumindest deutlich in Frage gestellt hat.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Gespräch führte Jan Richter, Bundessprecher der AG Betrieb & Gewerkschaft
Das Interview ist aus unserer Zeitung: Es geht um alles (September 2021)