Von Gerald Kemski
„Mit vollen Segeln für die Forderungen der IG Metall“ – das war eine der Losungen, unter denen Arbeiterinnen und Arbeiter in einem dreimonatigen Streik im Winter 1956/57 in Schleswig-Holstein die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall erkämpften. Ergebnis eines Klassenkampfes und ohne Gewerkschaften so nicht möglich. Das politische Umfeld war seinerzeit rau: CDU-Alleinregierung und wenige Wochen zuvor das Verbot der KPD. Es entspricht dem Zeitgeist der Herrschenden, dass Jahrestage der Arbeiter/innen- und Gewerkschaftsbewegung nicht über Gebühr in die Medienöffentlichkeit gelangen, dabei ist dieser 114 Tage dauernde Streik ein Meilenstein der bundesdeutschen Gewerkschaftsgeschichte.
Die Metallarbeiter/innen wollten nicht schon wegen einer Grippe in finanzielle Not geraten. Sie verdienten ca. 350 DM im Monat; wer vier Wochen krank wurde, erhielt in dieser Zeit nur 175 DM Krankengeld, für die ersten drei Krankheitstage (Karenztage) jedoch keinen Pfennig. Daher stellte die IG Metall u.a. folgende Forderung zur Urabstimmung: Sechs Wochen Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auch für Arbeiter/innen (Gleichstellung mit Angestellten). Die Unternehmen lehnten diese Forderungen am 28. September 1956 strikt ab, woraufhin die IG Metall am 11./12. Oktober 1956 ihre Mitglieder zur Urabstimmung rief. Für einen Streik entschieden sich 77,5 Prozent.
1. Streiktag (24. Oktober 1956): 18.000 Metaller/innen im Schwerpunktstreik. Die Unternehmer, ihre Politiker und Medien behaupteten: „Die Arbeiter wollen das Blaumachen und Faulenzen tariflich verankern.“ Das Deutsche Industrie Institut drohte, „…es sei anzunehmen, dass die bestreikten Unternehmen streikende Arbeitnehmer aussperren werden“. Zur selben Zeit verschickte Schleswig-Holsteins Innenminister Lemke (CDU) die Dienstanweisung Nr. 4 an alle Polizeidienststellen, in der Streikposten als „Terroristen“ diffamiert werden, „…die vor keinem Gewaltakt zurückschrecken“.
11. Streiktag (3. November 1956): Je größer die Entschlossenheit der Streikenden, um so wilder schlugen die Unternehmer um sich und veröffentlichten in den Tageszeitungen Schleswig-Holsteins Anzeigen: „Der Streik wäre längst zu Ende gewesen, wenn die Arbeiter durch den Terror der zentralen Streikleitung am Betreten ihrer Werke nicht gehindert würden. Vor den Toren herrscht Terror.“
22. Streiktag (14. November 1956): Ministerpräsident von Hassel (CDU) macht sich für die Unternehmer stark. Die Streiknachrichten der IG Metall berichteten: „Die Mehrheit des Landtages entpuppt sich nicht als Vertreter des Volkes (…), sondern als Interessenvertretung einer Handvoll Unternehmer.“ Am 19.11.56 erreichte die Kieler Streikleitung ein Soli-Telegramm aus dem Ruhrgebiet: „Wir Arbeiter der Krupp-Werke haben erkannt, dass Ihr im Interesse aller Metallarbeiter handelt. Wir erklären uns mit Euch solidarisch.“
60. Streiktag (Weihnachten 1956): Springers „Welt“ titelte zynisch: „Trübe Festtage für Hunderttausend“. Doch die Solidarität war größer. Die Essener Jugendgruppen der IG Bergbau schickten einen LKW mit Kinderspielzeug. Ein weiterer LKW, vollgepackt mit Weihnachtsgeschenken, war an den Seitenwänden beschriftet: „Solidarität der Mannheimer Metaller zum Streik in Schleswig-Holstein“. Die Kraft des Streiks und die BRD-weite Solidarität zwangen die Unternehmer am 28. Dezember 56 an den Verhandlungstisch der freiwilligen Schlichtungsstelle. Doch das Ergebnis, gegen die Stimmen der IG Metall angenommen, sah keine Bezahlung der drei Karenztage und nur für Einige einen Zuschuss zum Krankengeld vor.
76. Streiktag (7. Januar 1957): Die Urabstimmung wurde zu einem Bekenntnis gewerkschaftlicher Geschlossenheit – 97,4 Prozent der Organisierten folgten der Empfehlung der Gewerkschaft und wiesen den Einigungsvorschlag zurück. Vier weitere Betriebe wurden in den Streik einbezogen. Damit befanden sich nun rund 30.000 Metaller/innen im Ausstand.
99. Streiktag (22. Januar 1957): Die Unternehmer erklärten sich erneut zu Verhandlungen bereit. Der Mehrheit der Streikenden war der von der großen Tarifkommission empfohlene ausgehandelte Tarifvertrag zu wenig. Danach sollte erst nach sieben Krankheitstagen ein Ausgleich zwischen Krankengeld und 90 Prozent des Nettolohns gezahlt werden und nur für einen Karenztag der volle Lohn. Bei der Urabstimmung am 30. Januar 57 lehnten 76 Prozent diesen Kompromiss ab. Die bürgerliche Presse reagierte hysterisch: „Staatlicher Notstand“, „Maßlosigkeit“ oder „Streikrecht gerät in Krise“. Am 8. Februar 57 willigten die Unternehmer in neue Verhandlungen ein, 36 Stunden später lag das bisher beste Ergebnis vor. Die Unternehmer mussten u.a. den Ausgleich zwischen Krankengeld und 90 Prozent des Nettolohns vom vierten Krankheitstag an und nach einer Krankheit für eineinhalb Tage Karenztage den vollen Lohn zahlen (nach zwei Wochen für alle drei Karenztage).
114. Streiktag (13. Februar 1957): Durchbruch bei Urabstimmung. 39,6 Prozent der 28.697 Streikenden stimmten für das vorliegende Verhandlungsergebnis. Damit galt es als angenommen, wenngleich 57,6 Prozent mit ihrem NEIN deutlich machten, dass ihre ursprünglichen Forderungen noch nicht erfüllt waren. Dennoch war klar, dass sie mit ihrem Kampf eine Bresche für die umfassende Lohnfortzahlung im Krankheitsfall geschlagen hatten. Weitere Tarifverträge folgten, gesetzliche Regelungen allerdings erst 12 Jahre nach diesem Streik. Am 12. Juli 1969 wurde das Lohnfortzahlungsgesetz in der heutigen Form im Deutschen Bundestag beschlossen.
Derzeit gibt es eine gewerkschaftsinterne Debatte darum, ob man bei der Besetzungsregelung in Krankenhäusern lieber auf eine gesetzliche Regelung der Bundesregierung warten oder diese durch erkämpfte tarifliche Regelungen, wie z.B. durch den Tarifvertrag an der Charité, voranbringen soll. Als LINKE sind wir der Meinung, dass der Kampf um weitere tarifliche Regelungen aufgenommen werden muss. Dann zieht vielleicht auch irgendwann der Gesetzgeber nach, wie das Beispiel Lohnfortzahlung zeigt.
Gerald Kemski ist Mitglied im Landesbezirksvorstand von ver.di in Hamburg, Sprecher der LINKEN Hamburg-Eimsbüttel und in der LAG Betrieb & Gewerkschaft in Hamburg