Einschätzung zum Ausgang der Landtagswahl von Ulrike Eifler
Die Landtagswahl 2022 war die dritte Wahl in Folge, die für den Landesverband NRW mit schlechten Ergebnissen ausgegangen ist. Innerhalb von nur zwei Jahren haben wir zunächst mit der Kommunalwahl, dann mit der Bundestagswahl und schließlich mit der Landtagswahl drei Wahlkämpfe auf die Beine gestellt. Alle drei Wahlkämpfe mündeten in einen gemeinsamen Kraftakt, doch sie waren im Ergebnis ernüchternd und haben zur politischen Erschöpfung vieler Genossinnen und Genossen beigetragen. Die Strömungskämpfe und eine mit Pandemie, Krieg und Inflation komplexer werdende politische Situation haben ihr übrigens getan.
Nach den desaströsen Ergebnissen sollte sich nicht nur der Landesverband NRW Zeit nehmen, die Ergebnisse, die Ursachen und die politischen Rahmenbedingungen dieser Wahl zu analysieren, um daraus die notwendigen Schlüsse zu ziehen. Vielmehr stellt sich diese Aufgabe für die gesamte Partei. Ein Blick auf die tiefen Umbrüche in der Welt der Arbeit und die wachsende Unsicherheit der abhängig Beschäftigten kann hilfreich sein, um Antworten und den Weg aus der Krise der Partei zu finden.
Sinkende Wahlbeteiligung
Das interessanteste am Wahlergebnis in NRW ist sicherlich die gesunkene Wahlbeteiligung. Sie befindet sich mit 55 Prozent auf einem historischen Tiefststand. In insgesamt siebzehn Wahlkreisen lag sie sogar unter 50 Prozent. Doch das ist kein neuer Trend, sondern eine Entwicklung, die sich seit wenigstens 15 Jahren abzeichnet. Dieser Beteiligungsrückgang zeigt, wie sehr sich die Bedürfnisse der Menschen und Regierungshandeln auseinanderentwickelt haben. Der Mindestlohn kam erst nach zehn Jahren und nur auf Druck zustande, die Rente mit 67 gegen den Mehrheitswillen der Bevölkerung. Nach monatelangen Beteuerungen, keine Waffen in Krisengebiete liefern zu wollen, sind sich CDU, FDP, SPD und Grüne auf einmal einig, schwere Waffen ausgerechnet in ein Kriegsgebiet zu exportieren, dessen Kampfhandlungen die Welt schnell an die Schwelle eines dritten Weltkrieges bringen könnte. Seit Jahren tuen die Regierungen vielfach das Gegenteil von dem, was sie vor der Wahl versprochen haben – dieser Zustand hat sich, das zeigt das Wahlergebnis deutlich, nun verfestigt.
Hinzu kommt: Es sind die am meisten prekarisierten Bevölkerungsteile, die nicht mehr zur Wahl gehen, während die urbanen Mittelschichten ihre Interessen selbstbewusst an die Wahlurne tragen. Der stärkste Beteiligungsrückgang ist für das Ruhrgebiet festzustellen. Während Köln, Münster und der reiche Essener Süden zu den Wahlkreisen mit der höchsten Wahlbeteiligung zählen, liegt der Wahlkreis mit der niedrigsten Wahlbeteiligung von unter 40 Prozent in Duisburg. Das Ruhrgebiet ist jene Region in NRW, in der die Menschen in den letzten vier Jahrzehnten tiefe Strukturwandelprozesse durchlebt haben. Stahl- und Kohlekrise haben zu erheblichen Veränderungen in der Wirtschaftsstruktur geführt, zum Anstieg der Arbeitslosigkeit beigetragen, Arbeits- und Ausbildungsschwerpunkte regional verschoben und die Verarmung der Region ausgelöst. In den wesentlichen armutspolitischen Parametern halten Städte wie Gelsenkirchen oder Duisburg die rote Laterne hoch. Dieser Strukturbruch, der die Menschen der Region weitestgehend zurückgelassen hat, drückt sich im Beteiligungsrückgang der Landtagswahl aus. Warum sich also am Wahlsonntag an einer Wahl beteiligen, wenn man an allen anderen Tagen im Jahr von gesellschaftlicher Teilhabe ausgegrenzt wird?
Fehlende Interessenvertretung
Mitte der 2000er Jahre hat die Politik der Agenda 2010 mit neuen Sanktions- und Repressionsmöglichkeiten durch das Hartz-IV-Regime einen ordnungspolitischen Rahmen geschaffen, der die Strukturwandelerfahrungen der Menschen im Ruhrgebiet zusätzlich verschärft hat. Während 2016 jeder zehnte Bundesbürger Hartz IV bezog, war die Zahl in vielen Städten des Ruhrgebiets weit überdurchschnittlich. In Essen oder Dortmund liegt sie bei 20, in Gelsenkirchen sogar bei 25 Prozent. Doch die Armut war keine schicksalhafte Entwicklung, sondern Folge des Strukturwandels und Ergebnis konkreter politischer Entscheidungen. In der Konsequenz ist Armut hier nicht einfach nur ein Wort, sondern für viele Menschen erlebter Alltag.
Dass dieser Prozess für die SPD zu Mitgliederverlusten in sechsstelligen Größenordnungen führte, ist bekannt. Von diesem Exodus hat sich die ehemals so stolz verankerte Sozialdemokratie auch im Ruhrgebiet nie erholt, sondern hängt der Partei noch immer nach. Auch bei der Landtagswahl verlor die SPD 300.000 Wählerstimmen ans Nichtwählerlager und damit mehr als an jede andere Partei. Und DIE LINKE muss für sich festhalten: Auch uns ist es nicht gelungen, den von vom Strukturwandel Betroffenen eine politische Heimat anzubieten, die von Dauer ist. Dabei wollte eine unserer Quellparteien, die WASG, genau das sein – eine Wahlalternative zur ungerechten Politik der anderen Parteien, eine Wahlalternative für soziale Gerechtigkeit. Während DIE LINKE bei den Bundestagswahlen 2013 noch von 17 Prozent der Arbeiter und Angestellten gewählt wurde, betrug dieser Anteil bei der Landtagswahl 2022 nur noch vier Prozent. Unterm Strich muss festgehalten werden: Keine Partei wird so wenig von abhängig Beschäftigten gewählt wie DIE LINKE.
Allgemeine Verunsicherung
Der Beteiligungsrückgang bei der Landtagswahl drückte zudem aus, wie sehr sich die Strukturwandelerfahrungen und eine allgemeine politische Verunsicherung ineinander verschoben haben. Ökologische, soziale, friedenspolitische und demokratische Fragen geraten zunehmend an Kipppunkte. Extremwettererfahrungen, der Krieg in der Ukraine und steigende Preise führen bei vielen Menschen zu sozialen Verwerfungen. Nach Angaben des Mieterbundes sind die steigenden Heizkosten maßgeblich auf den schlechten Sanierungsstand der Wohnungen zurückzuführen. Wir wissen: Diese sind überdurchschnittlich in den am meisten prekarisierten Wohnvierteln zu finden. Dort, wo soziale Sorgen und Perspektivlosigkeit am größten sind. Dass bei steigenden Energiepreisen ausgerechnet hier der Ärger und die Enttäuschung wachsen, ist darum wenig verwunderlich. Die Tatsache schließlich, dass die Bundesregierung an den Marktinstrumenten der letzten Jahre festhält, führt dazu, dass sich zu diesen Entwicklungen keine unmittelbaren Lösungsperspektiven abzeichnen.
Gleichzeitig hat sich seit Beginn des Ukraine-Krieges der politische Diskurs in einer Weise radikalisiert, dass er nun auch die letzten Gewissheiten in Frage stellt. Während die Preise für Mieten, Energie und Lebensmittel durch die Decke schießen, appelliert der ehemalige Bundespräsident unter der Überschrift „Frieren für den Winter“ an die Bevölkerung, die Heizung auszulassen und einen Pullover anzuziehen. Der Finanzminister schwört die Menschen auf Wohlstandsverluste ein. Und die Bundesinnenministerin denkt laut über die Reaktivierung von Luftschutzbunkern nach und rät den Menschen, sich Lebensmittelvorräte für mehrere Wochen anzulegen. Und als wäre das noch nicht genug, wird in den öffentlich-rechtlichen Medien fast schon diffamierend von den friedensverwöhnten Generationen der Nachkriegszeit gesprochen, so als sei es ein unverdientes Privileg in Friedenszeiten aufzuwachsen.
Strategische Ausrichtung
Ende 2021 legte der FORSA NRW-Check bereits mit erstaunlicher Deutlichkeit offen, wie wenig überzeugend die Antworten der etablierten Parteien auf die drängenden Fragen zu Klimakrise und sozialen Unwägbarkeiten für viele Menschen sind und wie weit fortgeschritten der politische Ablösungsprozess zwischen Parteien und Bürgern. Auf die Frage, welche Partei den Strukturwandel in NRW am ehesten bewältigen kann, kamen CDU und Grüne jeweils auf 17, die SPD auf 19, die FDP auf acht und die AfD immerhin noch auf drei Prozent. Der LINKEN wurde diese Kompetenz nur zu einem Prozent zugeschrieben. Fast ein Viertel der Menschen, immerhin 23 Prozent, waren sich jedoch einig, dass keine Partei diese Herausforderung bewältigen kann.
Für DIE LINKE bedeutet das, ihren Blick auf die Welt der Arbeit zu schärfen und die aktuellen Strukturwandelprozesse stärker in den Blick zu nehmen. Das beginnt damit zu verstehen, dass die Transformation der Arbeitswelt nicht allein eine Antwort auf den Klimawandel ist, sondern sich vielmehr auf der Grundlage von Globalisierung, Digitalisierung, Dekarbonisierung und demografischem Wandel vollzieht und sich zu einem Wandel der Arbeitswelt zusammenschiebt, der ohne Übertreibung als epochal einzustufen ist. Was haben der Ausstieg aus der Braunkohle mit der Überlastung des Pflegepersonals, was die Unsicherheit der Stahlarbeiter mit dem Entstehen einer neuen Plattformökonomie zu tun? Ihre Arbeitsbedingungen sind Ausdruck einer sich verändernden Arbeitswelt, die sich auf der Grundlage einer strikten Marktorientierung immer restriktiver gegen die Menschen richtet.
Klassenpolitische Verankerung
Auch die Landtagswahl war eine Wahl, bei der es für viele Menschen nicht um die eine oder andere Unzufriedenheit mit dem einen oder anderen Thema ging, sondern um die ganz große politische Frage: Wohin steuert unsere Gesellschaft? Die Auswertung der Wahlergebnisse muss DIE LINKE im Bewusstsein der historischen Situation vornehmen, in der wir uns aktuell befinden. Das beginnt mit dem Eingeständnis, dass sich sowohl die SPD als auch DIE LINKE aktuell schwer tun, den abhängig Beschäftigten, und hier besonders den Facharbeitern, eine politische Heimat zu bieten, die von Dauer ist. Dramatisch ist diese Entwicklung vor allem deshalb, weil der Umbruch der Arbeitswelt auf multiple Krisenerfahrungen trifft, auf die die etablierten Parteien keine Antworten haben. Eben daraus aber könnte DIE LINKE Potentiale schöpfen, wenn sie verankert wäre.
Wenn sich nun also in NRW mit großer Wahrscheinlichkeit eine neue Landesregierung aus CDU und GRÜNEN formiert, der das soziale Korrektiv weitestgehend fehlt, kommt es umso mehr auf eine starke Opposition an. Für DIE LINKE kann diese Oppositionsarbeit nach dem schlechten Wahlergebnis nur außenpolitisch stattfinden. Das heißt auch, dass sie stärker den Schulterschluss mit den Gewerkschaften suchen muss. Das gilt ganz besonders für den Landesverband NRW. Das Land ist mit dem größten Braunkohlerevier Europas, einer dichtbesiedelten energieintensiven Industrielandschaft und den Strukturwandelerfahrungen der letzten Jahrzehnte ein Hotspot im aktuellen Transformationsprozess. Weil die Antworten auf die großen gesellschaftlichen Fragen nicht auf Wahlplakate passen, braucht es mehr klassenpolitische Verankerung. Nur in der gemeinsamen Auseinandersetzung um die Zukunft der Arbeit kann sich das Vertrauen entwickeln, das die Grundlage für Verankerung schafft.
Dies setzt voraus, dass DIE LINKE versteht: Die gegenwärtige Transformation der Arbeitswelt vollzieht sich als großer gesellschaftlicher Prozess, wird auf der betrieblichen Ebene aber jeweils unterschiedlich erfahren. Während sich in einigen Betrieben nur die Produktpalette ändert, kommt es in anderen zum Bruch. Doch die Transformation und mit ihr der ökologische Umbau der Industrie verschiebt den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit auf die Ebene der Transformation. Dabei formt er sich aus als Konflikt um die Zukunft der Arbeit. Wie sieht diese Zukunft aus? Wer produziert wie lange und unter welchen Bedingungen? Und wer gestaltet diesen Prozess? Damit ist klar: Wer die Welt des Kapitals schwächen will, muss die Welt der Arbeit stärken. Und eine linke Partei, die eine relevante und dauerhafte Rolle in den aktuellen Auseinandersetzungen spielen möchte, muss sich um Verankerung bemühen und darüber Terrain zurückgewinnen. Nur dann hat sie die Chance, zum Pol der Hoffnung zu werden und damit zu jener politischen Kraft, die den Unterschied macht.
Ulrike Eifler ist stellvertretende Landessprecherin der Partei DIE LINKE in NRW und Bundessprecherin der BAG Betrieb & Gewerkschaft
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