Özlem Alev Demirel: Friedens- und Gerechtigkeitsbewegung liegen sehr, sehr eng beieinander

15. September 2023  PARTEI IM GESPRÄCH

Özlem Alev Demirel ist seit 2019 für DIE LINKE im Europaparlament. Die Gewerkschafterin hat sich in dieser Zeit vor allem mit ihrem unverrückbaren Eintreten gegen den Krieg einen Namen gemacht. Özlem bewirbt sich erneut für einen vorderen Listenplatz. Unsere Bundessprecherin Ulrike Eifler hat ein lesenswertes Interview zu ihren Beweggründen, Schwerpunkten und weiteren Plänen geführt.

BAG Betrieb & Gewerkschaft: Özlem, du bewirbst dich erneut für einen sicheren Listenplatz zur Europawahl. Wir wissen, du bist Gewerkschafterin. Was wir nicht wissen, ist, warum du dich mal dafür entschieden hast, dich gewerkschaftlich zu organisieren.

Özlem Alev Demirel: Ich bin schon mit 20 in die Gewerkschaft ver.di eingetreten. Später, 2010 bei dem großen Streik der Reinigungskräfte am Flughafen Düsseldorf, bin ich zudem Solidaritätsmitglied der IG BAU geworden. Als Schülerin war ich im Landesvorstand der Landesschüler*innenvertretung NRW, und wir haben damals schon mit Gewerkschaften, insbesondere der GEW, zum Thema Bildungsgerechtigkeit eng zusammengearbeitet.

Welche Rolle hat dabei dein familiärer Hintergrund gespielt?

Ich stamme aus einem politischen, marxistischen Elternhaus, dadurch war mir schon seit meiner Kindheit klar, wo mein Platz in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung ist. So gibt es kaum einen 1. Mai in meinem Leben, an dem ich nicht demonstrieren war. Meine Großeltern und meine komplette Verwandtschaft in Deutschland waren klassische ‚Gastarbeiter‘. Mein Großvater war Analphabet und kam als Gastarbeiter hierher und hat sein Leben lang als Arbeiter geschafft. Meine Großmutter war Reinigungskraft. Ich selbst bin schon als Schülerin mit putzen gegangen. Mit meinen Eltern und Geschwistern bin ich als 5-Jährige nach Deutschland gekommen, wir sind eine anerkannte politische Flüchtlingsfamilie. Meine Eltern wollten nicht hier leben, mussten aber in Folge des Militärputschs in der Türkei fliehen. Mein Vater war mehrmals im Gefängnis, hat schlimmste Folter durchlebt, weil er Kommunist war, und nachdem immer wieder die Polizei bei uns auftauchte, ist meine Mutter erkrankt, so, dass wir als Familie nicht mehr in der Türkei bleiben konnten.

Du hast als Gewerkschaftssekretärin bei ver.di gearbeitet. Was genau war dort deine Aufgabe?

Ich habe im Fachbereich Finanzdienstleistungen gearbeitet, war also zuständig für Beschäftigte bei Banken, Sparkassen usw. Zur Wahrheit gehört aber, dass meine hauptamtliche Zeit bei ver.di nicht lang war. Während der Einarbeitung habe ich verschiedenste Stationen vom Organizing-Team über die Bezirks-, Landes- und Bundesebene durchlaufen. Noch während der Einarbeitung erhielt ich die Anfrage, ob ich 2019 die Spitzenkandidatur für DIE LINKE zu den Europawahlen machen möchte.

Wie leicht hast du dir die Entscheidung gemacht?

Einerseits hat mich diese Anerkennung meiner Arbeit natürlich gefreut, aber ich habe auch nicht ‚Hurra!‘ gerufen, sondern lange überlegt. Zum einen aus familiären Gründen, es ist ja ein Unterschied, ob man die Kinder jeden Tag sieht, oder nur an zwei, drei Tagen in der Woche. Aber auch, weil mir die Arbeit bei ver.di viel Freude bereitet hat. Ich habe dann natürlich auch mit der Fachbereichsleitung und der Landesleitung von ver.di gesprochen, bevor ich mich entschieden haben.

Und was haben sie gesagt?

Dass es wichtig sei, dass in den Parlamenten Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter vertreten sind. Mir wurde deutlich gemacht, dass eine Entscheidung für eine Kandidatur bei ver.di nicht negativ aufgenommen würde. Es gäbe ja immer wieder ver.di-Leute, die eine Zeit lang Abgeordnete sind, hieß es. Das hat mich natürlich beruhigt. Klar war für mich, dass ich bei Annahme der Kandidatur auch im EU-Parlament für die Interessen der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften kämpfen werde. Und ich habe meiner Gewerkschaft wie auch der Öffentlichkeit im Wahlkampf versprochen, für eine gute Mindestlohnrichtlinie zu kämpfen – das habe ich eingelöst.

Damit wären wir auch schon bei der nächsten Frage: Als Abgeordnete bist du ja unter anderem für das Thema Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik zuständig. Der Beschluss der Mindestlohnrichtlinie fällt da mit rein. Wie bewertest du diese Richtlinie?

Ich habe für die THE LEFT-Fraktion die Mindestlohnrichtlinie mitverhandelt. Zuvor hatte ich einen Initiativbericht für das Europaparlament geschrieben, der auch angenommen wurde. Er trägt den Titel ‚Wachsende Ungleichheit in und zwischen den Mitgliedstaaten‘- mit dem Schwerpunkt Arm trotz Arbeit. Da war ein Bündel an Maßnahmen gegen prekäre Beschäftigungs- und Lebensverhältnisse in der EU enthalten, darunter auch ein EU-weiter Rahmen für gute Mindestlöhne.

Die Mindestlohnrichtlinie, wie sie dann beschlossen wurde, ist tatsächlich eine große Errungenschaft, wie sie so gar nicht zu erwarten war.  Wir haben aber auch viel Arbeit da reingesteckt und mit einer umfassenden Studie nachgewiesen, wie ungleich die Situation in der EU ist, wie schlecht Mindestlöhne zum Teil sind. Und mit diesen ganzen Fakten ist es gelungen, eine Mehrheit im Parlament zu gewinnen.

Worin genau besteht die Errungenschaft?

Die Mindestlohnrichtlinie sagt: Überall da in der EU, wo Mindestlöhne gesetzlich festgelegt werden, sollen sie sich an bestimmten Kriterien orientieren. Das bezieht sich hauptsächlich auf die Berechnung. Dazu gehört der Kaitz-Index, aber auch das Heranziehen von elementaren Dienstleistungen und Gütern auf der Grundlage der realen Preise in den Mitgliedstaaten. Sie sagt darüber hinaus aber auch, dass die Länder, die eine Tarifbindung unter 80 Prozent haben, Aktionspläne erstellen müssen, um diese zu erhöhen.  Bis Ende 2024 sollen die einzelnen Staaten die Mindestlohnrichtlinie umgesetzt haben. Auch in der nächsten Legislaturperiode werde ich, wenn ich wiedergewählt werde, an dem Thema dranbleiben. Solange das Geld noch nicht in der Tasche der Leute ist, der Beschluss noch nicht umgesetzt.

Klar ist aber, dass wir nicht mehr erlauben dürfen, dass Austeritätsmaßnahmen, die Tarifsysteme zerschlagen und Löhne und Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter angreifen, zugelassen werden, wie in der Euro-Krise geschehen. Dafür ist die Richtlinie auch da.

Da würde ich gern etwas nachhaken: Nachdem während der Euro-Krise die Tariflandschaft vor allem in Südeuropa systematisch zerschlagen wurde – in Griechenland beispielsweise wurden Tarifverhandlungen solange verboten, bis die Arbeitslosenquote unter ein bestimmtes Niveau gesunken war -, soll die Mindestlohninitiative nun die Tarifbindung in Europa stärken. Wie glaubwürdig ist die Europäische Kommission mit diesem Anliegen?

Unabhängig davon, wie glaubwürdig die Kommission ist, würde ich die Frage nach vorne stellen, wie diese Mindestlohnrichtlinie so durchgesetzt werden konnte. Ich sehe da mehrere Gründe. Zum einen haben die Menschen in Großbritannien mit dem Brexit ja auch gegen die unsoziale Politik der EU gestimmt. Damit das nicht Schule macht, gab es seitens der EU Zugeständnisse. Dies ist auch einer der Gründe dafür, dass dann die ‚Europäische Säule sozialer Rechte‘ beschlossen wurde. Zum anderen schützen in kaum einem Mitgliedstaat, in dem es gesetzliche Mindestlöhne gibt, diese wirklich vor Armut. Deshalb gab es fast überall gewerkschaftliche Kampagnen und massiven Druck für höhere Mindestlöhne – das ist wahrscheinlich auch der wichtigste Grund. Darüber hinaus sind Staaten wie Frankreich insbesondere über den sehr großen Niedriglohnsektor in Deutschland verärgert, weil er Deutschland Wettbewerbsvorteile verschafft hat. Denn im Verhältnis zu der Produktivitätsleistung liegen die Löhne in Deutschland tatsächlich sehr niedrig. Ein weiterer Grund ist wahrscheinlich auch, dass es angesichts der geopolitischen Situation der EU-Kommission wichtig ist, die Bevölkerung hinter sich zu bringen und in bestimmten Fragen ‚Ruhe im Karton‘ zu haben. Es geht also auch darum, den Schein zu wahren und man argumentiert, mit dem Human Kapital das man habe und mit dem man sich auch Wettbewerbsvorteile verschaffen wolle.

Die Corona-Pandemie war der Ausgangspunkt für eine europaweite Lebenshaltungskrise, die sich im Kontext von Inflation und steigenden Energiepreisen noch einmal deutlich verschärft hat. Hat die Europäische Kommission ausreichend darauf reagiert?

In der Corona-Pandemie standen nicht die Belange der Arbeitenden und Armen im Mittelpunkt der Auseinandersetzung, sondern der Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen. Und mit ihrer Strategie, den Krieg in der Ukraine im eigenen geopolitischen Interesse zu verlängern und mit den beschlossenen Sanktionen hat man die Entwicklung von Preissteigerungen und Inflation eher befördert. Mit Russlands Überfall auf die Ukraine wurden Sanktionen und massive Anreize der EU für Waffenlieferungen an die Ukraine beschlossen, bei denen auszumachen war, dass sie den Krieg nicht beenden werden. Aber sie haben Tür und Tor unter anderem für Spekulationen auf den Märkten in Gang gesetzt.

Das heißt, die negativen Auswirkungen dieser Politik auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen standen überhaupt nicht im Fokus?

Richtig. Der Fokus und die Argumentation der Kommission lagen wie in jeder Krise auf der Frage der Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Konzerne. Wie immer erzählte man uns, wenn es den Konzernen gut geht, dann geht es auch den Menschen gut. Mit den immergleichen Folgen: Superreiche werden reicher, die Armen zahlreicher und die Mittelschichten erodieren. So steigt die Ungleichheit bei jeder Krise.  Das ist alles systemimmanent. Es gibt derzeit so viel Reichtum wie nie zuvor, aber dieser Reichtum konzentriert sich bei einigen wenigen, die wiederum immer neue Märkte finden müssen. Das ist auch der Grund für die immer weitere Aufrüstung und den robuster ausgetragenen Machtkampf um Märkte und Ressourcen in der Welt.

Kurzer Schwenk zurück zu den Gewerkschaften: Als Abgeordnete unterstützt du das Gewerkschaftsnetzwerk der Europäischen Linken und hast die einmal jährlich tagenden TUNE-Konferenzen mitorganisiert und dadurch ermöglicht. Warum ist dir dieser länderübergreifende Austausch linker Gewerkschafter in Europa wichtig?

Es ist unverzichtbar, dass sich auch die Seite der Arbeit international vernetzt und organisiert, das Kapital macht das ohnehin. Im Austausch miteinanderstehen, heißt ja auch, aus den Erfahrungen in Kämpfen zu profitieren. Deshalb ist mir das wichtig. Auf der letzten Konferenz haben wir beispielsweise über die großen Streiks in Großbritannien, in Spanien, Deutschland und anderswo gesprochen.  Auf der Konferenz davor war das Thema Just Transition, also der gerechte Übergang zu Technologien und Digitalisierung, was nicht zu Lasten der Armen und Lohnabhängigen gehen darf. In diesem Jahr hat die TUNE-Konferenz 16 Forderungen mit Blick auf die kommenden Wahlen formuliert, unter anderem die Forderung nach einem über die nationalen Grenzen hinausgehendem, EU-weiten Streikrecht.

Du hast dir als Abgeordnete aber vor allem einen Namen mit deinem Eintreten für ein schnelles Ende des Krieges in der Ukraine gemacht. Wie eng liegen Friedens- und Gerechtigkeitsbewegung für dich beieinander?

Sehr, sehr eng. Michael Moore hat ja dokumentiert, wie die US-Armee ihre Soldaten rekrutiert. Aus industriell abgehängten Regionen, wo die Menschen verarmen, wird jungen Leuten die Armee als einziger Ausweg angeboten. Putin verfährt ähnlich. Seine Soldaten für den Ukraine-Krieg kommen aus den entlegensten und ärmsten Provinzen des Landes. Und die Bundeswehr wirbt ebenfalls mit „Karriere“ und „Chancen“, wobei in Deutschland auch die Technikbegeisterung stark genutzt wird, um junge Leute zu rekrutieren. Viele Soldaten ziehen in Kriege, weil bei Kriegen Narrative aufgebaut werden, es ginge um gerechte Kriege oder um eine gerechte Sache. Aktuell baut Russland das Narrativ auf, man kämpfe doch um die Rechte der Minderheiten in der Ukraine und der Westen baut das Narratriv, man verlängere den Krieg mit Waffenlieferungen, weil es um Demokratie versus Autokratie ginge.

Aber in Wirklichkeit geht es um etwas anderes…

Richtig. In Wirklichkeit ist dieser Krieg auch ein harter Machtkampf zwischen der NATO und Russland um die Ukraine. Es ist ein brutaler Krieg Russlands gegen die Ukraine, der nicht zu rechtfertigen ist. Aber längst ist deutlich geworden, dass es in diesem Krieg auch um mehr als die Ukraine geht. Nämlich um die Neuaufteilung der Welt zwischen großen ökonomischen, politischen und militärischen Mächten in der Welt, um Märkte, Ressourcen und Hegemonie. Es ist und bleibt ein intraimperialer Machtkampf, bei dem auch zu harten Waffen gegriffen wird, wenn ökonomische und politische Mittel nicht als ausreichend erachtet werden. Dabei ist Krieg die größte Barbarei, an der immer die Völker von unten am meisten leiden und die Armen und Lohnabhängigen mit Leib und Leben und Hab und Gut die Zeche zahlen.

Was heißt das für die politische Linke?

Dass es die armen und arbeitenden Menschen sind, die im Krieg die Zeche zahlen, müssen wir immer wieder deutlich machen. Deshalb sind Linke ja immer auch Internationalist*innen, deshalb treten wir für Solidarität unserer Klasse ein. Der völkerrechtswidrige Krieg des Putin-Regimes gegen die Ukraine muss deshalb auch zu einer solidarischen Haltung gegenüber den Interessen der Menschen in der Ukraine und in Russland führen. Und die wollen leben, in Frieden, und nicht im Krieg sterben. Die Forderungen nach Diplomatie, nach einem Waffenstillstand und für eine politische Lösung sind deshalb so wichtig. Wir müssen außerdem sagen, dass der Krieg ein innerimperialer Machtkampf ist, in dem auch die EU und die NATO von eigenen geopolitischen Interessen geleitet werden. Deshalb mischen sie mit. Und deshalb unterstützen sie einen langen, viele Menschenleben fordernden Abnutzungskrieg. Das führt dann nebenbei auch zu gigantischen Gewinnen der Rüstungskonzerne und zu einem von BlackRock organisierten Ausverkauf ukrainischer Infrastruktur.

Welche Akzente möchtest du als Abgeordnete in der nächsten Legislaturperiode setzen?

Inhaltlich wird es zum einen darum gehen, den weiteren Umbau der Europäischen Union zu einer Militärunion zu stoppen und rückgängig zu machen. Zum anderen ist die EU nach wie vor eine Union der Reichen und der Konzerne. Soziale Gerechtigkeit spielt so gut wie keine Rolle – und das wird sich nur durch massiven Protest und Druck aus der Bevölkerung ändern lassen. Der muss organisiert werden und darin sehe ich auch meine Aufgabe. Meine erste Legislatur war über so lange Zeit von der Pandemie und den Kontaktbeschränkungen bestimmt, es gab ja kaum Kontakte, Bündnisse, Demonstrationen. Das nimmt jetzt endlich wieder zu und muss verstärkt werden, unter anderem, um eine EU-Mindesteinkommen-Richtlinie durchzusetzen. Das würde ich gerne zu einem Schwerpunkt meiner Arbeit in der kommenden Legislaturperiode machen. Wir haben sehr unterschiedliche Systeme der sozialen Sicherung in den EU Mitgliedstaaten. Diese Systeme wollen wir nicht gleichschalten, aber Mindeststandards nach unten formulieren, die eben ein Leben und Arbeiten in Würde sicherstellen, statt immer nur die soziale Spirale nach unten zu befördern.

Liebe Özlem, vielen Dank für das Gespräch.

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