Auf dem Parteitag in Erfurt wählen wir einen neuen Vorstand. Im Netz war bereits einiges über die vier aussichtsreichsten Kandidaturen für den Parteivorsitz zu lesen. Wir haben bei Janine, Heidi, Martin und Sören nachgefragt, was sie dazu bewogen hat und darüber hinaus auch, was uns sonst noch wichtig erschien. Partei im Gespräch: Wir fragen nach, sie antworten. Heute im Interview: Janine Wissler
BAG Betrieb & Gewerkschaft: Liebe Janine, du kandidierst Ende Juni auf dem Parteitag in Erfurt als Vorsitzende für die Partei DIE LINKE. Was hat dich dazu bewogen?
Janine Wissler: Ich bin mit vollem Einsatz und vollem Herzen Parteivorsitzende, ich bin erst seit letztem Jahr im Amt und habe noch vieles vor. Ich habe in den letzten Monaten viele Mitglieder getroffen, die sich ein Bein ausreißen für die Partei. Ich will, dass sie wieder stolz sein können auf unsere Partei und die Fraktion, wenn sie morgens in die Zeitung schauen. Dafür muss sich etwas ändern. Wir haben es selbst in der Hand, wieder stärker zu werden. Es gibt weiter ein großes Potential für eine Partei links von SPD und Grünen – 18 Prozent können sich vorstellen DIE LINKE zu wählen. Damit wir es nutzen können, brauchen wir klare Botschaften und ein solidarisches Miteinander. Dazu will ich beitragen.
Die Vielstimmigkeit der Partei wird von vielen Genossinnen und Genossen derzeit als wesentlichstes Problem gesehen. Wie willst du Die Partei führen, um dieses Problem zu überwinden?
Es muss klar sein, wofür DIE LINKE steht. Die Beschäftigten oder Erwerbslosen, die sich Sorgen machen, dass sie die nächste Rechnung nicht bezahlen können, haben kein Verständnis für eine zerstrittene Partei. Selbstverständlich sind wir eine plurale Partei, die Minderheitspositionen respektiert. Aber wer für DIE LINKE spricht, muss die demokratisch beschlossenen Positionen der Partei nach außen vertreten, sonst ist den Menschen nicht mehr klar, wofür wir stehen und innerparteiliche Meinungsbildungsprozesse werden entwertet.
Ich habe in Hessen daran mitwirken können, dass wir viermal in den Landtag gewählt wurden. Dafür war die Verankerung in den Gewerkschaften und den außerparlamentarischen Bewegungen wichtig, das Ansprechen verschiedener Milieus und dass wir ein Team waren, das gemeinsam agiert hat und so Vertrauen aufbauen konnte. Wir haben auch viel diskutiert, aber die beschlossene Position dann gemeinsam nach außen vertreten. Wir haben gute Oppositionsarbeit gemacht und bewiesen, dass DIE LINKE einen Unterschied macht für Beschäftigte und ihre Gewerkschaften, für Erwerbslose und Studierende.
Wir wissen alle, DIE LINKE ist derzeit in einer schwierigen Situation. Was muss deiner Ansicht nach geschehen, damit unsere Partei wieder eine Rolle spielt?
Wir müssen uns auf den politischen Gegner fokussieren und wieder klare Botschaften senden. Was ist die Bilanz der Ampel bisher? Steigende Preise und Mieten, aber keine spürbare Entlastung für die Menschen. Die Pflegekräfte werden weiter im Stich gelassen, die sachgrundlose Befristung bleibt. Die Kindergrundsicherung wird genauso wie die Mobilitätswende aufgeschoben. Umverteilung, ob Vermögensteuer oder Übergewinnsteuer, spielt keine Rolle. Nur für eine gigantische Aufrüstung wird eine Ausnahme von der Schuldenbremse gemacht. Die Ampel lässt viel Raum für linke Politik.
Wir haben in den nächsten Monaten eine klare Aufgabe: angesichts steigender Preise und Mieten, Druck für eine spürbare Entlastung für Menschen mit niedrigen und durchschnittlichen Einkommen machen. Mit Aktionen und klaren Vorschlägen, wie ein sozial gerechtes Klimageld, einen Mietendeckel und die Kindergrundsicherung.
Als Gerechtigkeitspartei sollten wir Klimaschutz und Umverteilung des Reichtums zusammendenken. Statt 100-Milliarden-Sondervermögen für Waffen und Militär, wollen wir Investitionen in Klimaschutz und Soziales, ein Klimajobprogramm. Wir sollten Milieus nicht gegeneinander ausspielen. Ich bin überzeugt: als moderne Gerechtigkeitspartei, die ebenso glaubwürdig für Tarifbindung und armutsfeste Renten einsteht wie für Klimaschutz, die sich für Bildungsgerechtigkeit und gegen Rassismus engagiert, werden wir wieder stärker. Eine LINKE, die die Träume von einem besseren Leben, die oft unter Alltagsstress und Resignation verborgen sind, wieder anspricht. Wir brauchen den Mut zum Polarisieren, die Eigentumsfrage und Alternativen zum Kapitalismus wieder in die Diskussion zu bringen.
Bist du Gewerkschaftsmitglied und wenn ja, warum?
Ja, ich bin seit fast zwanzig Jahren ver.di-Mitglied. Damals habe ich als Verkäuferin in einem Baumarkt gearbeitet. Ohne starke Gewerkschaften haben die abhängig Beschäftigten keine Chance, ihre Rechte und ihre Interessen durchzusetzen. Es braucht eine durch Solidarität organisierte Gegenmacht. Ohne Gewerkschaften und Streikbewegungen gäbe es viele soziale Errungenschaften nicht: keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, keinen Arbeitsschutz und keine gesetzliche Rente. Sozialen Fortschritt wird es nach Jahrzehnten des Neoliberalismus nur geben, wenn die Gewerkschaften wieder stärker werden. Die Agenda 2010, die Ausweitung der Leiharbeit, befristete Beschäftigung und Werkverträge haben die Kampfkraft der Gewerkschaften und der Belegschaften geschwächt, die Tarifbindung sinkt seit Jahren.
Viele Kolleginnen und Kollegen berichten uns, dass DIE LINKE in ihrem Leben und auch in ihrem Betrieb keine Rolle spielt. Wie wichtig ist aus deiner Sicht die gewerkschaftliche und betriebliche Verankerung der LINKEN und wie kann diese befördert werden?
Linke Politik heißt, die Rahmenbedingungen für gewerkschaftliche Organisierung verbessern und in Bündnissen mit Gewerkschaften und progressiven Bewegungen arbeiten. Deshalb ist es mir wichtig, regelmäßig bei Streiks, Betriebsversammlungen und gewerkschaftlichen Veranstaltungen und Protesten präsent zu sein. Auf Initiative der BAG Betrieb und Gewerkschaften hat DIE LINKE in diesem Jahr einen Gewerkschaftsrat gegründet und nach meiner Wahl als Parteivorsitzende habe ich mich mit allen Vorsitzenden der DGB-Einzelgewerkschaften getroffen und „Antrittsgespräche“ geführt, um den Austausch zu pflegen.
Von Niedriglöhnen und prekärer Arbeit, krank machendem Dauerstress, den Risiken von Arbeitsplatzverlust und Altersarmut sind Millionen Beschäftigte in diesem Land betroffen – wir müssen sie gezielter ansprechen. Wir müssen in den Betrieben, in gewerkschaftlichen Diskussionen oder bei Streiks stärker präsent sein. In manchen Branchen, wie beispielsweise der Pflege, haben wir das getan, in anderen, zum Beispiel in Industriebetrieben, müssen wir mehr tun. Bundesweit haben wir in den letzten Jahren an Zustimmung innerhalb der Gewerkschaften verloren. Mit dem Gewerkschaftsrat auf Bundesebene wollen wir die gewerkschaftliche Verankerung systematisch angehen. Welche Ansprüche haben die Beschäftigten an eine linke, gewerkschaftliche Politik für den sozial-ökologischen Umbau? Wir sollten diese Frage nicht nur abstrakt mit Papieren, sondern vor Ort mit interessierten Beschäftigten in den verschiedenen Regionen diskutieren beispielsweise mit den Beschäftigten in der Automobilindustrie, dazu gab es gerade einen Ratschlag in Braunschweig.
DIE LINKE hat ein gutes Programm. Aber das allein reicht natürlich nicht. Wie gelingt es uns, Forderungen nach einer stabilen Rente oder einer höheren Tarifbindung durchzusetzen?
Wir dürfen nicht zulassen, dass SPD und Grüne die FDP als bequeme Ausrede für den Verzicht auf eine armutsfeste Rente und ein höheres Rentenniveau nutzen. Die Aktienrente wiederum ist ein teures Geschenk an die Finanzkonzerne. Die Mindestlohn-Erhöhung ist richtig, die Einhaltung muss aber auch konsequent kontrolliert werden. Coronakrise, Inflation, stockende Lieferketten und Digitalisierung drohen zu einer noch tieferen Spaltung der Arbeitswelt zu führen. Als LINKE sollten wir zuspitzen: Respekt heißt Aufwertung von Arbeit. Allgemeinverbindliche Tarifverträge und armutsfeste Renten. Abschaffung der sachgrundlosen Befristung und Schluss mit der ausufernden Leiharbeit und Werkverträgen. Hier müssen wir gemeinsam mit Bündnispartnern in Gewerkschaften und Sozialverbänden Druck machen. Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns hat gezeigt, dass gesellschaftlicher Druck auch aus der Oppositionsrolle erzeugt werden kann – im Bündnis mit den Gewerkschaften.
Weißt du, was derzeit ein Pfund Butter kostet?
Mittlerweile bis zu drei Euro und mehr. Angesichts der dramatisch steigenden Lebensmittelpreise wissen viele Menschen nicht mehr, wie sie ihren Wocheneinkauf bezahlen sollen.
Als Reaktion auf den Krieg in der Ukraine wird auf der europäischen Ebene derzeit Druck gemacht für ein Öl- und Gasembargo. Wie stehst du dazu und wer wären die Leidtragenden eines solchen Embargos? Und wie stehst du zu Sanktionen gegenüber Russland ganz allgemein?
Zielgerichtete Sanktionen gegen die Oligarchen und Vermögenden – also gegen Putins Machtbasis – sind sinnvoll, wenn sie auch umgesetzt werden. Aber genau daran hakt es gerade in Deutschland. Ein sofortiges Gasembargo hätte auch hierzulande dramatische Auswirkungen auf die Menschen und die Wirtschaft. Richtig ist aber: Wir müssen mit Blick auf den Klimawandel schnellstmöglich europaweit raus aus der Abhängigkeit von fossilen Energien.
Dazu brauchen wir massive Investitionen in eine europaweite, sozial gerechte Energiewende und Energieeinsparungen verbunden mit einem Preisdeckel für Gas, der für Importe die Vorkriegspreise als Bedingung festlegt. Das trifft Putins Kriegskasse und würde zugleich die Verbraucher etwas entlasten. Möglich ist das, wenn der politische Wille da ist und die EU ihre Einkaufsmacht nutzt. Die Leidtragen von Embargos, wie auch beim Öl, dürfen nicht die Beschäftigten sein. Und gerade bei Öl stellt sich die Frage, durch welche Importe die russischen ersetzt würden und ob diese im Hinblick auf Menschenrechte und Krieg vertretbarer sind.
In der zweiten Jahreshälfte wird DIE LINKE mit dem Mitgliederentscheid zu einem Bedingungslosen Grundeinkommen vor eine neue Zerreißprobe gestellt. Wie stehst du ganz persönlich zum BGE und warum?
Das BGE ist eine Idee, die viele Menschen anspricht. Viele Menschen haben existentielle Sorgen, Erwerbslose werden durch Sanktionen gegängelt. Das BGE verspricht mehr Sicherheit und einen Freiheitsgewinn. Es ist aber weder einleuchtend noch sozial, wenn alle unabhängig vom Einkommen ein Grundeinkommen bekommen, auch Gutverdienende und reiche Erben. Ich finde unsere Forderungen nach einem bedarfsabhängigen sanktionsfreien Mindesteinkommen von 1.200 Euro für Erwerbslose und nach einer Mindestrente richtig und überzeugend. Als LINKE sollten wir nicht nur für eine Mindestsicherung eintreten, sondern für eine gerechte Verteilung von Reichtum, Arbeit und Zeit etwa durch Arbeitszeitverkürzung. Der Mitgliederentscheid sollte nicht zur Zerreißprobe werden, ich halte die derzeitige Formulierung im Erfurter Programm für richtig, die diese Frage ausdrücklich offenlässt.
Was war dein letztes Buch, das du gelesen hast und würdest du es weiterempfehlen?
Das letzte Buch, das ich gelesen habe und wärmstens empfehlen kann, ist Toni Senders „Autobiographie einer deutschen Rebellin“. Toni Sender war Sozialistin, Gewerkschafterin und Frauenrechtlerin, zog für die USPD in den Reichstag ein. In ihrem Buch schreibt sie über den Ersten Weltkrieg und die Friedensbewegung, über die Novemberrevolution und das Frauenwahlrecht, ihre Zeit im Reichstag und als aktive Gewerkschafterin, und über den Aufstieg der Nazis, der sie 1933 zur Flucht zwang. Ein großartiges Buch, das die Höhen und Tiefen der sozialistischen Bewegung anschaulich und anekdotisch beschreibt.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das offizielle Bewerbungsschreiben von Janine findet ihr hier auf der Webseite der Partei DIE LINKE. Auf ihrer persönlichen Homepage findet ihr Informationen zu ihrer Person, ihrer Arbeit im Deutschen Bundestag und ihrer langjährigen Arbeit im Hessischen Landtag. Wer es persönlicher mag, kann Janine auf Twitter folgen: @Janine_Wissler