Mit der Tarifrunde bei der Post ging es ins Streikjahr 2023. Jan-Noah Friedrich ist ver.di-Vertrauensleutesprecher in der Niederlassung Hannover. Mit ihm haben wir über die Tarifauseinandersetzung bei der Post gesprochen. Im Interview redet Jan über die Veränderungen bei der Zustellung und die zunehmende Arbeitsverdichtung, aber auch darüber, wie die Belegschaft in der Tarifrunde enger zusammengewachsen ist. Das Gespräch führte unser Bundessprecher Nils Böhlke.
BAG Betrieb & Gewerkschaft: Du bist bei der Post beschäftigt. Wie haben sich eure Arbeitsbedingungen in den letzten Jahren verändert?
Jan-Noah Friedrich: Ich bin jetzt fünfeinhalb Jahre bei der Post, in dieser Zeit ist viel passiert. Als ich angefangen habe, waren unsere Touren noch kleiner. Wir hatten einen eigenen Standort für unseren Stadtteil, haben uns um das reine Briefgeschäft gekümmert und mussten keine Pakete zustellen. Seitdem sind die Touren immer größer geworden, wir haben teilweise hohe Mengen an Paketen, Warensendungen usw. dazubekommen und auch viele Werbesendungen. Unser alter Standort wurde in einen zentralen Standort eingegliedert. Wir müssen immer mehr Touren „aufteilen“, weil zu wenig Personal da ist oder weil das mit Absicht so geplant wird, um Kosten zu sparen. Die Worte „Digitalisierung“ und „Flexibilisierung“ prägen den Job jeden Tag und es gibt regelmäßig neue Ideen und Vorschläge, wie man den Arbeitsprozess anders gestalten kann. Umstellungen und Verdichtung der Arbeit sind dann oft die Folge, gerade für die älteren Kolleginnen und Kollegen nehme ich das als starke Belastung wahr. Mein Eindruck ist auch, dass die Teams damals harmonischer funktioniert haben, wir mehr Wertschätzung bekommen haben.
Was sind deiner Meinung nach die Ursachen für diese Veränderung?
Das sind Entscheidungen, die „oben am grünen Tisch“ in der Konzernspitze getroffen werden, auf Druck der Aktionärinnen und Aktionäre, und dann nach unten weitergegeben werden. Viele Kolleginnen und Kollegen sagen, dass sie sich als „Nummern“ fühlen, ein Kostenfaktor, der möglichst niedrig gehalten werden muss, um möglichst viel Gewinn zu machen. Natürlich wird jetzt auch unser Tarifabschluss zum Anlass genommen, weiter zu sparen. Uns wird dann immer gesagt, dass die Briefmengen stark rückläufig sind (was auch stimmt) und man dafür Sorge tragen müsse, dass sich das Briefgeschäft noch lohne. Dass sich unsere Arbeit auch sozial verändert hat, liegt, denke ich, vor allem am Stress und der sinkenden Kundenbindung. Früher ist man fast immer auf der gleichen Tour gelaufen und hatte noch Zeit für kurze Gespräche. Heute wechselt das ständig und für längeren Kundenkontakt reicht die Zeit nicht.
Wie erlebst du die Stimmung unter deinen Kolleginnen und Kollegen bezüglich der Arbeitsbedingungen?
Die Stimmung ist schon seit Längerem nicht mehr so gut. Die Arbeit verlangt einem wirklich viel ab und nach Feierabend haben viele von uns kaum Kraft mehr für irgendetwas anderes. Es gibt auch viel Unzufriedenheit, weil die Betriebsräte und ver.di kaum Mitbestimmungsrechte haben, was die Arbeit selbst angeht. Unser höchstes Gut sind die Dienstzeiten, an die wir uns halten müssen. Ganz oft reichen die aber nicht aus, um unseren Job so zu machen wie früher. Das hat auch Auswirkungen auf die Qualität und das ist kein besonders schönes Gefühl.
Was hat sich durch diese Tarifrunde bei euch im Betrieb und auch insgesamt unter den Beschäftigten verändert?
Wir sind selbstbewusster geworden und das hat der Arbeitgeber auch gemerkt. Wir sind als Belegschaft viel enger zusammengewachsen und haben uns viel mehr untereinander ausgetauscht, über den Job, die hohe Inflation, unseren Arbeitgeber, die Streiks bei uns und im öffentlichen Dienst usw. Wir hatten gemeinsame Momente kollektiver Stärke und konnten aus der Resignation ausbrechen, um dem Konzern endlich mal ernsthaft die Stirn zu bieten. Um die 40 Kolleginnen und Kollegen haben sich neu in ver.di organisiert, ganz viele haben dieses Jahr zum ersten Mal an einem Streik teilgenommen und neue Erfahrungen gesammelt. Was die Tarifrunde langfristig verändert hat, wird sich noch zeigen müssen. Wir haben jetzt zwar einen neuen Tarifvertrag, aber es gibt Viele, die weiterkämpfen und noch mehr rausholen wollten, schließlich sind wir mit einer Forderung von +15 Prozent auf 12 Monate in die Auseinandersetzung gegangen. Da ist auch viel Frust da, den wir jetzt auffangen müssen, um beim nächsten Mal noch stärker und durchsetzungsfähiger zu sein. Das ist jetzt die Herausforderung, vor der wir stehen und an der wir die kommenden Monate arbeiten müssen, immer mit den gemeinsamen Momenten der Stärke im Kopf, die wir im Arbeitskampf erlebt haben.
Wie habt ihr die Vernetzung unter den Beschäftigten vorangetrieben?
Während der Auseinandersetzung haben wir gemeinsame Treffen organisiert und wir haben uns wöchentlich mit den Vertrauensleuten online zusammengeschaltet, um über die Entwicklungen zu sprechen und uns auszutauschen. Bei der ersten Urabstimmung hatten wir noch eine Vertrauensleuteversammlung für die gesamte Niederlassung einberufen. Wir haben außerdem auch eine bundesweite Vernetzung gestartet, um betriebsgruppenübergreifend in die Diskussion zu kommen und voneinander zu lernen. Es gibt unzählige WhatsApp- und Facebook-Gruppen, die während der Streiks mit Bildern und Videos überflutet wurden. Eine richtige Vernetzung ist da schwer, aber wir konnten dadurch spüren, wie viele wir eigentlich sind und dass wir als Kolleginnen und Kollegen bundesweit zusammenstehen und für ein gemeinsames Ziel kämpfen.
Wie bewertest du den Verlauf der Tarifrunde?
Bis zur vierten Verhandlungsrunde haben wir sehr viel richtig gemacht. Die Forderungsbefragung war sehr erfolgreich, die Verhandlungstermine waren gut gelegt und wir konnten in den drei Warnstreikwellen mit fast 100.000 Streikenden zeigen, wozu wir fähig sind. Insgesamt haben sich mehr als 12.000 Kolleginnen und Kollegen neu organisiert und es wurde eigentlich jeden Tag im Betrieb über den aktuellen Stand der Tarifrunde gesprochen. Der Arbeitgeber hat einiges aufgefahren, um unsere Streikbereitschaft zu brechen und bspw. mit der Ausgliederung von Betriebsteilen und Personalabbau gedroht, aber das hat uns nur noch weiter bestärkt. Höhepunkt unsere Urabstimmung für einen unbefristeten Streik nach der dritten Verhandlungsrunde.
Und wie bewertest du das Ergebnis der Urabstimmung?
Die Beteiligung war extrem hoch und am Ende hatten sich 85,9 Prozent für einen unbefristeten Streik ausgesprochen. Natürlich lief auch bis dahin nicht alles reibungslos, die betrieblichen Arbeitskampfleitungen hatten sehr viel zu tun, die Vertrauensleute und aktiven Kolleginnen und Kollegen hätten effektiver mit eingebunden werden können, um noch stärker in unserer Durchsetzungsfähigkeit zu werden. Aber am Ende waren wir uns aber einig, gemeinsam in den Erzwingungsstreik zu gehen, um ein vernünftiges Angebot der Konzernseite zu erreichen. Es waren sogar schon gemeinsame Aktionen mit den Kolleginnen und Kollegen aus dem öffentlichen Dienst geplant. Und dann kam die überraschende vierte Verhandlungsrunde, nach der die Empfehlung zur Annahme eines neuen Angebots ausgesprochen wurde.
Wie schätzen du und die Kolleginnen und Kollegen, die mit euch gekämpft haben, den Abschluss, der jetzt vereinbart wurde ein?
Mit dem Tarifabschluss haben wir definitiv finanzielle Entlastung erkämpft, aber er bleibt weit hinter dem zurück, wofür wir ursprünglich gekämpft haben und was wir möglicherweise noch hätten erreichen können. Im Vergleich zum ersten Angebot, das der Konzern vorgelegt hat, bekommen wir die 3.000 Euro Einmalzahlung jetzt früher in Festbeträgen ausbezahlt und die tabellenwirksame Erhöhung von 340 Euro greift „schon“ ab April 2024. Die 24 Monate Laufzeitlänge bleiben. Für viele von uns ist unverständlich, warum wir die historische Chance nicht genutzt haben, einen wirklichen Inflationsausgleich zu erkämpfen und angemessen an den 8,6 Milliarden Euro Konzerngewinn beteiligt zu werden. Eines der größten Probleme liegt da in der Kommunikation. Einige der Arbeitgeberargumente, die wir bei der ersten Urabstimmung noch abgewiesen hatten, um mit 85,9 Prozent gegen die Annahme und für einen unbefristeten Streik zu stimmen, wurden jetzt von Gewerkschaftsseite aufgegriffen, um die Annahme des neuen Angebots zu empfehlen. Gleichzeitig gab es absolut keine Bemühungen, sich auf einen langen Streik vorzubereiten, falls die Mitglieder so entscheiden. Dadurch ist bei vielen der Eindruck entstanden, dass ver.di überhaupt nicht streiken will und wir Vertrauensleute sind jetzt in der schwierigen Situation, in den Betrieben damit umzugehen.
Was wollt ihr in der nächsten Zeit machen, um die Kolleginnen und Kollegen auf weitere Auseinandersetzungen vorzubereiten und um noch stärker in kommende Auseinandersetzungen zu gehen?
Wir müssen jetzt irgendwie schauen, dass wir den Frust und die Enttäuschung vieler Kolleginnen und Kollegen auffangen, ehrlich mit ihnen umgehen und beweisen, warum wir uns jetzt weiter organisieren müssen. Das heißt auch, dass wir jetzt so schnell wie möglich in die Auswertung der Tarifrunde gehen und schauen müssen, was gut gelaufen ist und was beim nächsten Mal auf jeden Fall anders laufen muss, um noch stärker und durchsetzungsfähiger zu sein. Das versuchen wir über unsere Vernetzung in den Betriebsgruppen bei uns vor Ort anzustoßen und so dann auch zu einer Gesamtauswertung zu kommen. Die Kolleginnen und Kollegen haben jetzt ganz viel gelernt und konnten während der Streiks und in den Betrieben spüren, wie viel Macht sie eigentlich haben. Das müssen wir uns jetzt bewahren und darauf aufbauen. Vor allem müssen wir bis zum nächsten Mal einen Plan schmieden, wie wir wirklich gewinnen können und uns besser aufstellen. Das heißt, wir werden in den nächsten Monaten auch sehr viel über unsere Basisstrukturen, also unsere Betriebsgruppen und Vertrauensleutekörper sprechen müssen und darüber, wie wir uns eine demokratische und beteiligungsorientierte Gewerkschaft vorstellen. Viel zu tun, aber die Arbeitgeberseite schläft nicht und wird weiterhin an der Schraube der Arbeitsverdichtung drehen, um die gestiegenen Kosten auszugleichen. Wir dürfen jetzt auch nicht schlafen.
Vielen Dank für das Gespräch.