Sozialstaat – Mehr Brutto für mehr Netto!

27. Februar 2020  BLOG

„Es ist allerhöchste Zeit, mit dem Ammenmärchen aufzuräumen, dass Sozialabgaben eine Belastung wären. Das sind sie nur für Arbeitgeber, für Beschäftigte bedeuten sie Schutz. Sie sind Bestandteil des Lohns, den Arbeitgeber immer gern senken wollen, das erhöht schließlich ihren Profit“, sagt Susanne Ferschl, stellvertretende Fraktionsvorsitzende von DIE LINKE im Bundestag, im Interview mit unserem Bundessprecher Jan Richter. Eine Kurzfassung des Gesprächs ist in der aktuellen Ausgabe unserer Zeitung. Hier ist das ganze Gespräch:

Betrieb & Gewerkschaft: Liebe Susi, zum Jahresauftakt macht unsere Partei den Sozialstaat zum Thema, das freut dich doch sicherlich?

Susanne Ferschl: Natürlich. So ist es ist uns gelungen, das neue Jahr mit einem inhaltlichen Neuaufschlag zur sozialen Frage zu verknüpfen. Zumal die Fraktion in einigen Punkten auch schon überzeugende Konzepte ausgearbeitet hat, etwa zur Stärkung der Arbeitslosenversicherung. Die Zusammenarbeit läuft alles in allem recht gut. Mir fehlt in dem Papier aber z.B. die Stärkung der Sozialversicherung als verbindendes sozialpolitisches Programm. Kritik habe ich an der Grundannahme des Papiers, da bin ich völlig anderer Auffassung.

Dass „…der Neoliberalismus wirtschaftlich, sozial und ökologisch gescheitert“ ist?

Ja genau! Ich bin seit zwei Jahren Abgeordnete und ich höre im Bundestag ständig, dass wir Investitionen brauchen, dass es sozialer werden muss, dass die Tarifbindung gestärkt, der Mindestlohn erhöht und Befristungen eingedämmt werden müssen. Passiert ist aber nichts. Dabei verschärfen Digitalisierung und Transformation diese Notwendigkeiten. Von der Bundesregierung kommen lediglich faule Mini-Kompromisse und es dominieren die Rufe nach weiteren Flexibilisierungen. Ganz ehrlich, wenn ich davon schon genervt bin, wie muss es da erst den Kolleginnen und Kollegen gehen?

Du sagst, die Analyse ist falsch, der Neoliberalismus ist nicht tot. Wie begründest du das?

Die hässliche Fratze der AfD kommt doch nicht aus dem Nichts. Das ist die Erneuerung des Neoliberalismus in seiner schlimmsten Form, gepaart mit Rassismus. Überhaupt wurde der Neoliberalismus schon öfter totgeglaubt, hält sich aber ziemlich stabil seit 30 Jahren. Unternehmen verkünden fast täglich Massenentlassungen und sichern sich so ihre Profite auf Kosten der abhängig Beschäftigten. Die Bundesregierung hält an ihrer Agenda-Politik fest und versucht, mit kleinen Pflastern aus dem Steuertopf das Schlimmste zu vermeiden. Sie weigert sich aber vehement, den Schutz der Sozialversicherung auszubauen. Wenn Altmaier von einer „Sozialabgabenbremse“ träumt, ist das das alte neoliberale Argument der „Sozialabgabenbelastung“, dass sich seit den 1990er Jahren stabil hält.

Wie können wir diese Verhältnisse aufbrechen und progressive Veränderungen bewirken?

Indem wir klar machen, dass es die abhängig Beschäftigten sind, die ihre Rechte in Abwehrkämpfen verteidigen und gesellschaftliche Verbesserungen erkämpfen müssen. Als LINKE müssen wir diese Kämpfe aktiv unterstützen und zugleich parlamentarisch für Rahmenbedingungen sorgen, die die Rechte der Kolleginnen und Kollegen stärken. Es liegt an uns, dafür zu kämpfen, dass der gegenwärtige Umbruch nicht von den Arbeitgebern zur Profitsicherung genutzt, sondern sozial gestaltet wird.

Kannst du das näher ausführen?

Ich bin davon überzeugt, dass die aktuelle Krisen- und Umbruchsituation eine Chance ist, um andere gesellschaftliche Kräfteverhältnisse zu erringen. Aber dafür brauchen wir Bündnispartner. Die teilweise wütenden Reaktionen auf unsere Anträge machen immer wieder deutlich, dass wir im Parlament keine Durchsetzungsmacht haben. Anstatt also im Bundestag auf Mehrheiten zu hoffen, sollten wir aktiv außerparlamentarische Bündnisse schmieden und Druck aufbauen.

Wie meinst du das?

Themen und Debatten werden nicht oder nur selten im Parlament gesetzt, sondern weil draußen der gesellschaftliche Druck steigtSoziale Sicherheit gibt es auch nicht zum Nulltarif. Dafür müssen wir uns mit den Mächtigen anlegen, denn dort sitzt das Geld, das wir dafür brauchenEs geht um Umverteilung und um gesellschaftliche Machtverhältnisse, nicht um Einsicht und AlmosenDafür brauchen wir Muskeln, die wir uns in alltäglichen Auseinandersetzungen gemeinsam mit Gewerkschaften und Bündnispartnern antrainieren müssen. DIE LINKE darf nicht allein parlamentarischer Dienstleister, sondern muss Bestandteil von kämpferischen Sozial- und Gewerkschaftsbewegungen sein. Das gilt auch für die Klimafrage: Ernsthafte Maßnahmen zum Klimaschutz bedeuten, das Profitstreben der Unternehmen zu beschränken.

Du hast eingangs gesagt, dass die Fraktion die Sozialversicherungssysteme ins Zentrum rücken will?

Genau, und das ist der Kern. Ich denke, dass eine Verankerung in der Gewerkschaftsbewegung zwangsläufig auch die Perspektive auf die Ausgestaltung des Sozialstaates erweitert. So wichtig es ist, Mindestsicherungssysteme einzuziehen und den Sozialstaat nach unten abzudichten, so falsch ist es, hier stehen zu bleiben. Ein Sozialstaat der Zukunft muss über die reine Sicherungsfunktion hinaus darauf abzielen, Beschäftigte zur Organisation zu ermächtigen und ihre sozialen Rechte stärken. Gerade weil jede soziale Verbesserung der Kapitalseite in zähen Kämpfen abgetrotzt werden muss, dürfen wir uns mit Mindestsicherungssystemen und Almosen allein nicht abfinden.

Wiederherstellung oder Ausbau des Sozialstaats?

Beides! Wir haben als LINKE unterschiedliche Rollen. Im Bundestag wäre die Wiederherstellung der Zeit vor der Agenda 2010 schon ein riesiger Schritt. Aber natürlich dürfen wir hier nicht stehen bleiben, sondern müssen in der Arbeiterbewegung verankert sein und bleiben. Dazu gehört z.B. die Unterstützung von Streiks und widerständigen Aktionen durch Partei und Fraktion. Aber auch eine gemeinsame Strategieentwicklung, die sich an den Interessen von Lohnabhängigen und Arbeitslosen orientiert.

Wiederherstellung vor die Zeit der Agenda 2010 bedeutet konkret?

Kernstück der rot-grünen Agenda-Politik war Hartz IV und somit die Zerschlagung der sozialen Schutzfunktion für Arbeitnehmer, um „Eigenverantwortung“ zu fördern. De facto wurde die Arbeit für Unternehmer billiger und prekäre Jobs boomten. Ich finde, es ist wirklich allerhöchste Zeit, mit dem Ammenmärchen aufzuräumen, dass Sozialabgaben eine Belastung wären. Das sind sie nur für die Arbeitgeber, für Beschäftigte bedeuten sie Schutz. Und zwar sozialen, solidarischen Schutz! Und sie sind auch keine „Nebenkosten“, sondern Bestandteil des Lohns, den Arbeitgeber immer gern senken wollen – das erhöht schließlich ihren Profit! Unsere Antwort auf die Wiederkehr der „Abgabenlast-Debatte“ ist: Mehr Brutto für mehr Netto! Die Löhne müssen rauf und der Schutz der Sozialversicherung gehört ausgebaut. Das stärkt die Verhandlungsposition von Beschäftigten und bringt sie wieder auf Augenhöhe – eine zentrale Voraussetzung für die notwendige Lohnentwicklung  nach oben.

Eine Stärkung der sozialen Sicherungssysteme allein wird kaum für den notwendigen hohen Lohnaufwuchs sorgen können.

Das stimmt. Um gesellschaftliche Macht zu erhalten und die für einen Sozialstaat notwendige Umverteilung auch zukünftig abzusichern, muss Beschäftigung über den Transformationsprozess hinaus auch für die Zukunft geschaffen und gestaltet werden. Statt grüne Verzichtsdebatten setzt DIE LINKE hier auf „Wachstum der Vernunft“ – ökologisch, nachhaltig und klimaneutral.

Auch die Nahrungsmittelproduktion ist ein großer Klimatreiber. Aber Bioprodukte aus nachhaltiger Produktion muss man sich leisten können.

Genau. Gerade deshalb ist Verzicht bei den Löhnen fatal und kontraproduktiv. Die notwendige Umstellung auf fair und ökologisch nachhaltig produzierte Nahrungsmittel ist teurer. Und natürlich müssen die Menschen dann auch mehr verdienen, denn erst so werden ökologisch produzierte Lebensmittel für die große Mehrheit bezahlbar und setzen sich gesellschaftlich durch. „Feel-good-Bio-Nischen“ für Gutbetuchte werden die Erde nämlich nicht retten. Dafür braucht es Eingriffe in den Markt und wirtschaftliche Mitbestimmung. Und den Mut das zu tun, hat in Deutschland nur DIE LINKE.

Das Gespräch führte Jan Richter, Bundessprecher der AG Betrieb & Gewerkschaft