Tarifrunde Handel: Mehr Kohle heißt die Parole!

11. Mai 2023  BLOG, TARIFRUNDEN

Von Nils Böhlke

Der Handel macht sich bereit für die nächste große Tarifrunde: Etwa 6,5 Millionen Menschen arbeiten in dieser Branche. Durch sie werden wir alle mit Lebensmitteln, Textilien, Möbeln und vielen weiteren Waren versorgt. Die Tarifverhandlungen werden regional geführt, je nach Region endet dieser Tage die Friedenspflicht. Unser Bundessprecher Nils Böhlke hat sich die Forderungen für die Mai-Ausgabe unserer Zeitung genauer angeschaut.

Beschäftigte im Handel brauchen dringend erhebliche Entgeltsteigerungen: In den meisten Bundesländern endet am 30. April im Einzel- und im Groß- und Außenhandel die Friedenspflicht. Damit startet in diesen Branchen die heiße Phase der Tarifrunde 2023. Etwa 6,5 Millionen Menschen arbeiten in Deutschland im Handel. Sie sorgen dafür, dass die Konsumierenden mit Lebensmitteln, Textilien, Möbeln und vielen weiteren Waren versorgt werden. Im Einzelhandel sind etwa zwei Drittel der Beschäftigten weiblich und teilzeitbeschäftigt. Die Branchen sind geprägt von einem stetigen Wandel und einer zunehmenden Konzentration auf wenige mittlerweile auch international tätige Konzerne. Zudem herrscht eine hohe Fluktuation unter den Beschäftigten. Von den Arbeitgebern wird in den Tarifverhandlungen sogar davon gesprochen, dass die weiblichen Beschäftigten eigentlich nur „Zuverdienende“ zum eigentlichen Haushaltseinkommen des Ehemannes sind. Das ist ein Weltbild aus dem letzten Jahrhundert.

Es geht im Kampf um bessere Entgelte im Handel also immer auch um Geschlechtergerechtigkeit. Aber in dieser Tarifrunde geht es um noch sehr viel mehr. Die Beschäftigten im Lebensmitteleinzelhandel waren diejenigen, die während der Corona-Pandemie mit Applaus bedacht wurden, während die Kunden Klopapier und Hefe hamsterten und andere Bereiche des Handels von Kurzarbeit betroffen waren. Sie waren es, die täglich mit einem hohen Ansteckungsrisiko konfrontiert waren und gleichzeitig unter enormen Druck standen, das Leben in diesem Land am Laufen zu halten. Als „Corona-Helden“ beklatscht, wurden sie in der letzten Tarifrunde allerdings nicht heldenhaft vergütet, sondern mussten in einer über fünfmonatigen Tarifrunde von Mai bis Oktober um einen Tarifabschluss kämpfen. Damals war noch nicht absehbar, dass dieser Abschluss deutlich unterhalb der Preissteigerung liegen wird und die Beschäftigten nun einer Reallohnsenkung ausgesetzt sind. Die muss jetzt kompensiert werden. Bei einer aktuellen Preissteigerung von offiziell etwa acht Prozent sind deutliche Entgeltsteigerungen ein absolutes Muss für die Kolleginnen und Kollegen. Dies gilt erst recht, wenn man bedenkt, dass die Preissteigerung im unteren Lohnbereich noch viel stärkere Auswirkungen hat als für Besserverdienende. So verkündete das statistische Landesamt für Nordrhein-Westfalen im März dieses Jahres, dass die Preise für Lebensmittel in den vergangenen drei Jahren um insgesamt 31,1 Prozent gestiegen sind. Dies trifft auch die Beschäftigten im Handel überproportional. Und es sind gerade die Handelsunternehmen, die die Preissteigerung genutzt haben, um ihre Gewinne zu steigern. Sie haben sich als Trittbrettfahrer betätigt und gezielt die Preise angehoben, ohne dass sie für die betroffenen Waren tatsächlich entsprechend höhere Einkaufspreise erzielt hätten. Dementsprechend konnten sie im vergangenen Jahr absolute Rekordumsätze erzielen und im Groß- und Außenhandel sogar abzüglich der Inflation noch ein reales Umsatzplus verzeichnen.

Das Gegenüber von extremen Reichtum der Eigentümer und schlechter Bezahlung für die Beschäftigten zeigt sich im Handel besonders deutlich. Im vergangenen Jahr hat der Besitzer der Schwarz-Gruppe (u.a. Lidl und Kaufland), Dieter Schwarz, wieder die Spitzenposition unter den reichsten Deutschen erklommen. Und auch andere Händler, wie die Albrecht-Familie (ALDI) und die Familie Otto finden sich auf Spitzenpositionen in dieser Liste. Sie alle fallen allerdings nochmal ein ganzes Stück hinter dem Amazon-Chef, Jeff Bezos, zurück. Dieser extreme Reichtum konnte nur durch einen gnadenlosen Wettbewerb auf dem Rücken der Beschäftigten entstehen.

Seit der Jahrtausendwende haben die Arbeitgeber in der Branche darauf verzichtet gemeinsam mit den Gewerkschaften die Tarifverträge im Handel gemäß § 5 Tarifvertragsgesetz allgemeinverbindlich zu erklären (AVE). Das hat dazu geführt, dass der ohnehin schon starke Wettbewerb im Handel noch einmal verstärkt auf den Rücken der Beschäftigten verlagert wurde. Mittlerweile liegt die Tarifbindung bei etwa 30 Prozent der Beschäftigten. Insbesondere die beiden Einzelhandelsriesen Edeka und Rewe sorgen mit ihrer Macht im Arbeitgeberverband dafür, eine AVE zu verhindern. Obwohl sie in ihren Regiebetrieben und ihren Discountersparten (Netto gehört zu Edeka und Penny zu Rewe) tarifgebunden sind, haben sie durch das Modell der „selbständigen Händler“ –  also Händler, die einzelne Filialen selbstständig betreiben und dadurch auch Miteigentümer des Gesamtunternehmens sind – entscheidende Player, die in der Regel weder tarifgebunden sind, noch ein Interesse an einer Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge haben. Hinzu kommt der Onlineriese Amazon, der auch seit ein paar Jahren im Einzelhandelsverband organisiert ist und ebenfalls weder tarifgebunden ist noch Interesse an der AVE hat. Dieser Macht setzt die Gewerkschaft seit Jahren eine Kampagne entgegen, die unter dem Motto „Einer für Alle! Alle für Einen!“ für die AVE kämpft.

Der Druck auf die Entgelte der Beschäftigten durch Preissteigerungen und Tarifflucht hat so in den letzten Jahren noch einmal stark zugenommen. Dadurch hat die ohnehin schon massive Angst der Beschäftigten vor Altersarmut weiter zugenommen. Im Einzelhandel muss der Stundenlohn einer Vollzeitkraft (37,5 Stunden nach Tarifvertrag) heute 13,37 Euro betragen, damit sie nach 45 Beitragsjahren eine Rente oberhalb der Grundsicherung erhält. Da schon erwähnt wurde, dass etwa zwei Drittel der Beschäftigten im Einzelhandel Teilzeitkräfte sind, wird deutlich, wie groß die Gefahr der Verarmung der Kolleginnen und Kollegen nach dem Arbeitsleben ist. Auch hierfür haben die Arbeitgeber bislang keine Lösung präsentieren können.

Daher sind die Forderungen der Tarifkommissionen im Einzelhandel und im Groß- und Außenhandel absolut gerechtfertigt. Im Einzelhandel haben diese beschlossen, dass eine Erhöhung des Stundenentgelts um 2,50 Euro gefordert wird. Für die Auszubildenden sollen die Vergütungen um 250 Euro steigen. Hinzu kommt die Forderung nach einem rentenfesten Mindeststundenentgelt von 13,50 Euro sowie die gemeinsame Beantragung der Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge und eine Laufzeit von 12 Monaten. Im Groß- und Außenhandel wird eine Erhöhung der Entgelte um 13 Prozent gefordert, bei einer Mindesterhöhung um 400 Euro. Auch hier wird eine Erhöhung der Auszubildendenvergütungen um 250 Euro, eine gemeinsame Beantragung der AVE und eine Laufzeit von 12 Monaten gefordert.

Anders als in anderen Branchen werden die Tarifverträge im Handel auf der Ebene der Landesbezirke verhandelt. Hier werden Große Tarifkommissionen und Verhandlungskommissionen gewählt, die durch regionale Untergliederungen der Tarifkommission in allen Bezirken unterstützt werden. So ist gewährleistet, dass die aktiven Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter aus den kämpferischsten Betrieben in die Tarifarbeit eingebunden sind. Sie können die Stimmung aus den Betrieben direkt in die Tarifkommission einbringen und umgekehrt in ihren Betrieben direkt aus den Verhandlungen berichten. Diese sehr demokratische Struktur der Tarifarbeit ist ein hohes Gut für die Gewerkschaften in der Branche. Insbesondere durch diese Struktur gelingt es in einer schwierig zu organisierenden Branche die notwendige Kampffähigkeit zu organisieren. Denn angesichts der Aufstellung der Arbeitgeber ist es im Fachbereich unstrittig, dass Tariferhöhungen – insbesondere in der in diesem Jahr geforderten Höhe – nur durch eine kämpferische Tarifrunde erreicht werden können. Dafür brauchen die Beschäftigten auch die Solidarität der Kunden und aus der Politik. DIE LINKE steht ohne Wenn und Aber an der Seite der Kolleginnen und Kollegen.

Nils Böhlke ist Bundessprecher der BAG Betrieb & Gewerkschaft

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