Von Ulrike Eifler
Im Jahr 1949 sagte der kommunistische Abgeordneten Max Reimann bei der Verkündung des Grundgesetzes: „Wir unterschreiben nicht. Es wird jedoch der Tag kommen, da wir Kommunisten dieses Grundgesetz gegen die verteidigen werden, die es angenommen haben.“ Siebzig Jahre später zeigt sich, wie sehr das Gesetz, nicht zuletzt auch eine Reaktion auf den Nationalsozialismus, den Schutz von links braucht. Widerstandslos wurden unter dem Eindruck der Corona-Pandemie die allgemeine Handlungsfreiheit und das Versammlungsrecht eingeschränkt. Notparlamente eingerichtet. Das Föderalismusprinzip zum „Stresstest“ erklärt und mehr als 32.000 Bundeswehrsoldaten im Landesinneren eingesetzt. Für all diese Maßnahmen hatte die Bundesregierung zeitweise 95 Prozent Zustimmung.
Notwendig waren die Maßnahmen vor allem deshalb, weil nach zwanzig Jahren neoliberaler Kürzungspolitik Busse und Bahnen schlicht zu voll waren, um Abstand zu halten. In den Schulen gab es zu wenige Lehrer, um die Klassen zu teilen und in den Krankenhäusern fehlte es an Betten. Die öffentliche Infrastruktur war durch den jahrzehntelangen Ausverkauf an den Rand der Belastbarkeit gedrückt worden. Vor diesem Hintergrund markierten die Einschränkungen vor allem ein neoliberales Weiter so. Denn anstatt die Arbeitsbedingungen in der Pflege zu verbessern und dadurch die bundesweit 400.000 Pflegekräfte zurückzugewinnen, die ihren Beruf aufgrund der hohen Arbeitsbelastung gewechselt hatten, versuchte Gesundheitsminister Spahn Pflegekräfte aus Mexiko anzuwerben.
Das Festhalten an neoliberalen Politikkonzepten und die Grundrechteeinschränkungen stehen in einem engen Zusammenhang. Deutlicher denn je zeigt sich: Je mehr sich Krisen zuspitzen, desto offenbarer wird das Spannungsverhältnis von Kapitalismus und Demokratie: Auf Dauer ist der Kapitalismus nicht grundgesetzkompatibel, sondern demokratiegefährdend. Er steht für Kriegsgefahr, Armut und Klimakollaps. Doch im Unterschied zur Achtung der Menschenwürde, sozialen Sicherheit und demokratischen Entwicklung ist er als System im Grundgesetz nicht festgeschrieben. Einen dauerhaften Schutz des Grundgesetzes wird es wohl ohne Systemwechsel nicht geben.
Ulrike Eifler ist Bundessprecherin der BAG Betrieb & Gewerkschaft
Dieser Artikel entstammt der aktuellen Ausgabe unserer Zeitung